Hultschiner Ländchen: Vor 90 Jahren kam es an die Tschechoslowakei

Hulczyn, Hultschin, Hlučín – das alles sind Namen ein und derselben Stadt auf Polnisch, Deutsch und Tschechisch. Verwendet wurden die einzelnen Sprachvarianten je nachdem, welchem Staat das Gebiet um diese Stadt im Laufe der Jahrhunderte angehört hat. Am 4. Februar 1920 fiel das Hultschiner Ländchen offiziell an die damalige Tschechoslowakei. An dieses Ereignis vor 90 Jahren wurde vor kurzem bei einer Konferenz direkt vor Ort erinnert. Die Teilnehmer dort begrüßten, dass vieles, was hierzulande über Jahrzehnte hinweg tabu war, nun endlich zur Sprache kam. Radio Prag war ebenfalls bei der Konferenz dabei. Wie das Hultschiner Ländchen zur Tschechoslowakei kam, darüber nun mehr in einem weiteren Kapitel aus der tschechischen Geschichte.

Wappen des Herzogtums Troppau
Im 9. bis 11. Jahrhundert wird das Hultschiner Ländchen von mährischen Slawen und im 13. bis 14. Jahrhundert von Deutschen besiedelt. Slawische Siedlungen werden deutschem Recht unterstellt. Seit der Trennung von Mähren am Ende des 14. Jahrhunderts wird das Hultschiner Ländchen Teil des Herzogtums Troppau/Opava, das zur Böhmischen Krone gehörte. Es waren vor allem Kriege, die das Schicksal dieser Region prägten:

Juli 1742 - nach dem Ersten Schlesischen Krieg verliert Österreich das Hultschiner Ländchen an Preußen

Februar 1920 - das tschechoslowakische Heer marschiert in Hultschin ein, nach dem Ersten Weltkrieg geht das Gebiet an die Tschechoslowakei über

Oktober 1938 - das Hultschiner Ländchen wird von Deutschen besetzt Seit Mai 1945 gehört es wieder zur Tschechoslowakei.

Neunzig Jahre nachdem das Hultschiner Ländchen der Tschechoslowakei einverleibt wurde, fand Anfang Februar direkt in Hultschin eine Gedenkkonferenz statt. Ziel der Veranstaltung und der Ausstellung im dortigen Museum war es, Antworten auf so manche offene Frage in der Geschichte dieser Region zu beleuchten. Der Bürgermeister von Hlučín, Bernard Ostárek, beschäftigte sich bei der Konferenzeröffnung mit der Frage, warum man an die Ereignisse vor 90 Jahren erinnern sollte:

„Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass die Geschichtsbücher über die Geschichte unserer Region schweigen. Da ist leider bis heute der Fall. Nicht nur unsere Schüler und Studenten, aber auch viele Bewohner, die hier nach dem Zweiten Weltkrieg hergezogen sind, haben nur nebulöse Kenntnisse über die historischen Ereignisse der vergangenen Jahrhunderte. Diejenigen, die hier zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts zur Welt kamen und ihren 90. Geburtstag feierten, ohne ihren Wohnsitz gewechselt zu haben, waren abwechselnd Bürger verschiedener Staatsgebilde. Nicht aus eigenem Willen, wohl bemerkt“.

An der Vergangenheit könne nichts mehr geändert werden, man solle aber eine Lehre aus ihr ziehen, sagte der Hultschiner Bürgermeister vor dem Auditorium, Kenntnisse darüber, wie der umstrittene Grenzverlauf nach dem Krieg letztlich festgelegt wurde, konnte man bei einem ausführlichen Vortrag des Historikers Tomáš Grim erwerben. Er sprach über den komplizierten Verlauf der Friedenskonferenz von Paris, auf der nach dem Ersten Weltkrieg vom Tisch aus unter anderem auch über das Schicksal der Einwohner des Hultschiner Ländchens entschieden wurde. Seine Eingliederung hatte die tschechoslowakische Delegation gefordert:

„Das Interesse der tschechoslowakischen Seite an dem Gebiet war eindeutig. Das ist unter anderem einem Brief vom 15. November 1918 zu entnehmen, den der Vorsitzende der kurz davor konstituierten tschechoslowakischen Regierung, Karel Kramář, dem damaligen Außenminister Edvard Beneš nach Paris schickte. Darin äußerte er den Wunsch der tschechoslowakischen Organe, das überwiegend tschechischsprachige Gebiet von Ratibor ´bis an die Oder auf jeden Fall´ als künftige Grenze ´zu erwerben´“.

Von Ende 1918 bis Anfang 1919 sind Tomáš Grim zufolge neue Landkarten in der Tschechoslowakei zumeist aufgrund privater Initiativen entstanden, die das Interesse an der Hultschiner Region unverhohlen demonstrierten. Von Bedeutung waren erst Unterlagen, die den Vertretern der Siegermächte auf der Pariser Friedenskonferenz unterbreitet wurden. Dem Ratibor-Gebiet, das sich jenseits der damaligen Grenze befand und zu dem auch das Hultschiner Ländchen gehörte, wurde darin Priorität eingeräumt. Bei den Verhandlungen in Paris wurden zwei einfache Landkarten mit der gleichen Überschrift vorgelegt: „Rectification de la Frontière de la Silésie“, auf Deutsch etwa „Berichtigung der Grenze Schlesiens“. Auf beiden war der südliche Teil Oberschlesiens abgebildet. Tomáš Grim:

„Die Gebietsforderungen der Tschechoslowakei hat Außenminister Edvard Beneš zum ersten Mal am 5. Februar 1919 in einem umfassenden Memorandum auf der Pariser Friedenskonferenz vorgelegt. In einem Artikel, der dem Ratibor-Gebiet und darunter auch dem Hultschiner Ländchen galt, argumentierte Beneš mit strategischen und nationalen Gründen. Durch den Erwerb des Hultschiner Gebiets sollte das aufsteigende industrielle Zentrum von Mährisch-Ostrau und Umgebung sowie auch andere Teile Mährens vor einem etwaigen Militärangriff aus dem Norden geschützt werden“.

Am 20. Januar 1919 hat die tschechoslowakische Delegation in Paris weitere Argumente vorgelegt. Von grundsätzlicher Bedeutung für die Einbidung des Hultschiner Gebiets waren Argumente über die slawische Herkunft der Bevölkerung, die sich nachweislich zum ´Mährischen´ als Muttersprache bekannte. „Mährisch“ ist aber nicht mit Tschechisch gleichzusetzen. Es war eigentlich eine Art Dialekt, geprägt von den in der Region gesprochenen Sprachen einschließlich Deutsch. Grim führte dazu folgende Zahlen an:

„Im Jahr 1905 haben sich 91 Prozent der dortigen Einwohner als Mährer bezeichnet. Fünf Jahre später waren es 82 Prozent. Die Muttersprache galt damals als ein elementares Erkennungsmerkmal einer Nation. Daher wurden die preußischen Mährer als Teil der tschechischen Nation betrachtet. Sie selbst aber haben sich das damals wohl am wenigsten von allen gewünscht. Trotzdem wurde das Hultschiner Gebiet ohne Zustimmung der überwiegenden Mehrheit der dortigen Einwohner der Tschechoslowakei zugebilligt“.

Die Grenzziehung sei höchst fahrlässig durchgeführt worden, behauptet Tomáš Grim. Hier einige Einzelheiten:

„Es wurde nur die grundlegende Grenzlinie festgelegt, und zwar nach einem Vorschlag des damit beauftragten französischen Generals Henri Louis Leron. Er hat die Grenzlinie ohne nähere Kenntnisse über die Verhältnisse in der betreffenden Region mithilfe des Lineals auf der Landkarte gezeichnet. Diese Gerade war dann ausschlaggebend für die Festlegung der nördlichen Grenze der Tschechoslowakei“.

Aufgrund des Artikels 83 des Versailler Vertrages von 1919 wurde das Gebiet mit Inkrafttreten des Vertrages am 10. Januar 1920 ohne Volksabstimmung der Tschechoslowakei zugeschlagen. Die Tschechoslowakei erwarb damit ein Gebiet von 285 Quadratkilometern mit 36 Gemeinden und ungefähr 48.000 Einwohnern. Das sollte sich aber in den nachfolgenden drei Jahren noch etwas ändern, in denen die kleinen Gebiete und die dortige Bevölkerung hin- und hergeschoben wurden. Und wie sah es damals die tschechoslowakische Diplomatie?

„Die tschechoslowakische Diplomatie präsentierte den Gewinn des Hultschiner Gebiets als ihren Erfolg. Es ging in der Tat um die größte Gebietsrevision historischer Grenzen der Böhmischen Länder nach dem Ersten Weltkrieg. Im Rahmen des gesamten Gebiets Schlesiens war es nur ein geringer Zugewinn. Und im Rahmen des oberschlesischen Raums war das Hultschiner Ländchen ohne die benachbarte Region Hlučice nur ein Torso. Im Endeffekt wurde dort die Staatsgrenze noch krummer und aus militärischer Sicht war sie noch schwieriger für die Verteidigung. Hätte man eine komplexe Lösung der Situation in diesem Grenzgebiet im Auge behalten, hätte man die Grenze etwas nördlicher ziehen müssen. Bei der Gebietsteilung nach dem Vorschlag von General Leron sind auf der deutschen Seite sieben mehrheitlich tschechischsprachige Gemeinden geblieben, die bei Respektierung der so propagierten nationalen Aspekte eigentlich dem tschechoslowakische Gebiet hätten einverleibt werden müssen.“

Die bewegte Geschichte des Hultschiner Ländchens, hat Spuren hinterlassen im Leben der Region. Die Konferenz konnte nur einen kleinen Ausschnitt dessen zeigen, was sich auf dieser Bühne alles abgespielt hat. In diesem Landstrich mit einer Geschichte, die ihresgleichen sucht.