„Höllische Erhabenheit der Hochöfen“ – die mährische Stadt Ostrau 1937

Im Jahr 1937 sendete der tschechoslowakische Rundfunk in seinem deutschsprachigen Programm eine Serie von Städteporträts. In unserem Tonarchiv haben wir einen Bericht vom Sommer 1937 über die nordmährische Stadt Ostrau gefunden.

„Geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Meine Reihe von Städtebildern fortsetzend, führe ich Sie heute in eine Welt der Schlote. Ostrau ist mit kaum einer zweiten europäischen Industriestadt zu vergleichen. In der Atmosphäre ähnelt es ein wenig einer amerikanischen Goldgräber- oder einer Ölstadt. Da scheint nichts gewachsen, sondern alles aus dem Boden geschossen zu sein. Was nur so alt wie ein Mensch ist, wirkt in seiner Dörflichkeit neben den auftrumpfenden Großartigkeiten der Jüngstzeit bereits wie eine Parodie.“

Welch Gegensatz zwischen dörflicher Vergangenheit und industrieller Gegenwart, den unser Rundfunkreporter 1937 in Ostrau gespürt haben muss! Denn bis ins 18. Jahrhundert war Ostrau ein kleines Dorf am Rande der Beskiden gewesen. Doch die Entdeckung der Steinkohle veränderte alles. Innerhalb weniger Jahrzehnte wurde Ostrau zu einem Zentrum der Kohle- und Stahlindustrie. Heute ist Ostrau mit über 300.000 Einwohnern die drittgrößte Stadt der Tschechischen Republik. Aber auch heute noch spürt und sieht man Ostraus provinzielle Vergangenheit genauso wie den ungetrübten Fortschrittsglauben der Zwischenkriegszeit, den unser Reporter damals beschrieb.

„Im Stadtbild steht Großstädtisches, das eben erst entstanden ist, und mährische Provinz der Vorkriegszeit in schroffer Verbindungslosigkeit nebeneinander. Aber es unterliegt in der Daseinslust dieser Stadt keinem Zweifel, dass die Industriegroßstadt diesen Entwicklungskampf bald siegreich abgeschlossen haben wird. Mit dem Bauen des nicht ganz geglückten, aber monumentalsten, weiträumigsten Rathauses in der Tschechoslowakei hat das neue Ostrau nicht nur mit herausfordernder Geste seine gegenwärtige Kraft, sondern wild und nachdrücklich auch seinen Zukunftswillen bekundet.“

Auch wenn dem Reporter die funktionalistische Architektur des Rathauses vom Beginn des 20. Jahrhunderts missfällt, so ist es doch auch heute noch das größte in Tschechien. Wenn das überdimensionierte Rathaus für das unvereinbare Nebeneinander von Provinz und Metropole steht, so symbolisierte die Bar des damals größten Hotels das Nebeneinander von gesellschaftlichem und wirtschaftlichem Leben - oder besser das Übereinander von Zechen und Zeche.

„Noch symbolkräftiger war ein Eindruck, den man zu nächtlicher Stunde in der niemals leeren Bar des größten Ostrauer Hotels angeblich gewinnen konnte. In den Tanzpausen, wenn die Musik verstummte, konnte man aus ferner Tiefe, aber ganz deutlich, das Geräusch von Förderwagen unterscheiden, die in einem Schacht, irgendwo unterhalb oder neben der Bar gelegen, einfuhren. Das unheimliche Eindringen dieses heiligen Geräusches einer todesnahen nächtlichen Arbeit in den Raum, wo die letzten faulen Sehnsuchtsklänge eines English Waltz eben erst an den Wänden erstorben waren, das war Ostrau.“

Das Ostrau der Schächte und Gruben kann man heute nur noch im Bergwerksmuseum besichtigen. Seit 15 Jahren wird keine Kohle mehr in der nordmährischen Stadt gefördert. Die Schwerindustrie steckte Ende des 20. Jahrhunderts in einer Krise. Ob unser Reporter das schon ahnte, als er vor 70 Jahren das größte Unternehmen Ostraus, die Wittkowitzer Eisen- und Stahlwerke, in dunklen Tönen beschrieb?

„Ein Gang durch diese Werke, die sich über das Gebiet von sechs Gemeinden hinziehen, lässt uns Bilder schauen, die in ihrer düsteren Größe und Gewalt unsere Erinnerung dann nicht mehr frei geben: Höllische Erhabenheit der Hochöfen, von denen jeder so viel Wasser wie eine kleine Stadt verbraucht.“