Über die Grenze in die Geschichte - der IX. tschechische Historikertag

Vom 6.- 8. September fand im ostböhmischen Pardubice / Pardubitz der IX. tschechische Historikertag statt. In drei Sektionen referierten und diskutierten die Teilnehmer über die Beschäftigung mit der tschechischen Geschichte in all ihren Epochen. Dabei stand der Geschichtsunterricht an Schulen ebenso im Mittelpunkt wie das Verhältnis der Geschichtswissenschaft zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen. Eines der Hauptthemen der Konferenz war die Beschäftigung mit tschechischer Geschichte im Ausland, also auch in Deutschland. Darüber informiert sie in einer neuen Ausgabe der Sendereihe "Begegnungen" Andreas Wiedemann.

Historikertage sind einerseits eine Nabelschau der eigenen Profession, bieten aber andererseits die Gelegenheit, Entwicklungen und Trends innerhalb der Geschichtswissenschaft zu reflektieren und letztlich auch einmal den Blick von außen zu wagen. Der diesjährige tschechische Historikertag in Pardubice bot dazu Gelegenheit. Fachvertreter aus Frankreich, England, Polen und Deutschland waren angereist, um darüber zu informieren, wie die tschechische Geschichte in ihren Ländern reflektiert wird. In Deutschland konzentrierte sich die Beschäftigung mit der tschechischen Geschichte lange Zeit auf die Geschichte der Deutschen in den böhmischen Ländern bzw. auf das Verhältnis der Deutschen und der Tschechen zueinander. Prof. Jiri Pesek, Vorsitzender der tschechischen Sektion der deutsch-tschechischen Historikerkommission und Lehrstuhlinhaber am Institut für Internationale Studien der Karlsuniversität in Prag, weist aber darauf hin, dass es in Deutschland durchaus Historiker gab und gibt, die sich auch mit rein "tschechischen" Themen beschäftigen. Dies gilt in besonderem Maße für die jüngere Generation.

"Besonders die Forschungsgemeinde im Rahmen des Collegium Carolinum hat große Leistungen vollbracht. Die Arbeiten von Hans Lemberg, Peter Heumos und jetzt aus der jüngeren Generation, z.B. von Christiane Brenner, sind ein klares Zeugnis dafür, dass sich die deutschen Forscher gerade mit den brennenden Fragen der tschechischen Gesellschaft auseinanderzusetzen wussten und wissen."

Vor allem in den letzten zehn bis 15 Jahren zeichnet sich in Deutschland eine verstärkte Beschäftigung mit der tschechischen oder tschechoslowakischen Geschichte nach 1945 ab, die sich nicht mehr nur an den deutsch-tschechischen Beziehungen orientiert, wie der deutsche Historiker Dr. Volker Zimmermann aus Düsseldorf betont:

"Ich würde sagen, dass vor allem in letzter Zeit ein richtiger Boom festzustellen ist, bezüglich der Geschichte nach 1945. Da gibt es tatsächlich eine Beschäftigung mit tschechischer Geschichte, während sich die Zeit vorher hauptsächlich auf Fragen des Mehrheit-Minderheitenkonflikts und die Frage der NS-Herrschaft über Böhmen und Mähren konzentriert hat."

1989
In der kommunistischen Tschechoslowakei konnten bis 1989 bestimmte Themen nicht oder nur eingeschränkt behandelt werden. Deshalb waren einige historische Arbeiten, die in der Bundesrepublik Deutschland entstanden auch für die Geschichtswissenschaft in der Tschechoslowakei wichtig. Prof. Pesek hebt die Bedeutung dieser Arbeiten in der Zeit des Kommunismus hervor:

"Die deutschen Forscher schlossen in einem gewissen Maße besonders in den Jahren des Kommunismus die wichtigsten Lücken in der tschechoslowakischen Geschichtsschreibung. D.h. sie forschten über das, was die Tschechen im Kommunismus nicht erforschen konnten."

Welche Themen von tschechischen Historikern nur eingeschränkt bearbeitet werden konnten, erläutert Pesek:

"Es gab natürlich eine Menge von verbotenen Themen unter den Kommunisten, und dann spielten die deutschen, aber auch die französischen oder auch amerikanischen Autoren die Rolle der Eröffner der Themen. Das galt z.B. für die große zweibändige Synthese von Detlef Brandes über die Tschechen unter dem deutschen Protektorat. Man könnte natürlich weitere Arbeiten nennen. D.h. das deutsche oder allgemein gesagt, das internationale Interesse hatte sehr viele Themen gerettet, sonst hätte man mit einigen Themen nach der Wende erst beginnen müssen."

Jiri Dienstbier  (links) und Hans Dietrich Genscher
Nach dem Ende des Kommunismus war es tschechischen und deutschen Forschern nun möglich, diejenigen Themen zu bearbeiten, die bis 1989 eher unerwünscht waren. 1990 wurde von den damaligen Außenministern Jiri Dienstbier und Hans Dietrich Genscher die deutsch-tschechoslowakische Historikerkommission ins Leben gerufen. Nach der Auflösung der Tschechoslowakei im Jahr 1993 teilte sie sich in eine deutsch-tschechische und deutsch-slowakische Kommission, die aber personell identisch sind und immer zusammen tagen. Vor allen Dingen sollte die Kommission die tragischen Kapitel der deutsch-tschechischen Geschichte aufarbeiten. Prof. Pesek skizziert die Arbeit der gemeinsamen Kommission:

"Diese Kommission tagt jedes Jahr zu den wichtigen politischen Themen der Vergangenheit: Gerade Protektorat und Vertreibung waren unsere Themen. Aus diesen Tagungen entstehen dann die Tagungsbände, normalerweise dicke Bücher, die auch den Charakter von Standard- oder Nachschlagewerken haben. In diesen 16 Jahren der intensiver Tätigkeit entstand wirklich sehr viel, was unsere Kenntnisse über das deutsch-tschechische Zusammenleben, die deutsch-tschechische Nachbarschaft, über die deutsch-tschechischen Konflikte beeinflusst hat und durch die gemeinsame kritische Arbeit geschafft wurde."

Prof. Pesek betont aber, dass in der gemeinsamen Kommission die Suche nach Kompromissen nicht an erster Stelle stand, oder anders gesagt, die Arbeit nicht beeinträchtigt hat.

Das Protektorat
"Das heißt nicht, dass wir Kompromisse gesucht haben, sondern dass wir über die Sachen diskutiert haben und vor allen Dingen gemeinsam geforscht haben."

Volker Zimmermann sieht in der Auseinandersetzung mit bestimmten Themen der deutsch-tschechischen Geschichte seit 1989 eine große Annäherung.

"Seit 1989 hat sich sehr viel verändert und ich sehe eigentlich keine Konflikte. Bezüglich der Interpretation deutscher Herrschaft über Böhmen und Mähren bestehen meiner Meinung nach grundsätzlich keine großen Unterschiede", so Zimmermann.

Insbesondere die Themenwahl vieler Dissertationen und Magisterarbeiten in Deutschland lassen deutlich erkennen, dass es vor allen Dingen bei jungen Historikern ein Interesse an der tschechischen Geschichte gibt, das sich auch jenseits der rein deutsch-tschechischen Beziehungsgeschichte bewegt. Jiri Pesek sieht in den heutigen Forschungsmöglichkeiten in Europa die Chance, auch tragische und konfliktreiche Kapitel der gemeinsamen Geschichte ohne Einschränkungen zu erforschen:

"Gemeinsame Arbeit über die gemeinsamen Themen: Das ist das Beste, was das moderne Europa für die Entschärfung der politischen Konflikte anbieten kann."