Zu Besuch in der geteilten Stadt

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Es waren einmal, drei Brüder - Leschko, Tscheschko und Bolko, die kreuz und quer durch die Welt zogen, um das Glück zu finden. Dieses war aber nirgendwo anzutreffen. Alle drei Brüder beschlossen wieder nach Hause zurückzukehren. Am Ort ihres Wiedersehens, über das sie sich sehr gefreut hatten, ließen sie eine Burg bauen, in deren Nähe später die Stadt Tesin entstand. Dies besagt eine alte Legende, laut der der Name dieser Stadt gerade auf das erwähnte Freudenfest der drei Brüder zurückzuführen sei. Wie, warum und noch etwas mehr aus dem aktuellen Leben dieser Stadt an der tschechisch-polnischen Grenz im Nordosten Tschechiens erfahren Sie in der Sendereihe "Panorama CZ" von Jitka Mladkova, die kürzlich Tesin besuch hat. Mit von der Partie, verstehe am Mikrophon in unserem Prager Studio, ist Lothar Martin:

Hier also zunächst die versprochene Erklärung des Namens der besagten Stadt, dem laut Legende die "Freude" zugrunde liegen soll. Es ist sehr einfach. "Sich freuen" heißt auf Tschechisch "tesit se", auf Polnisch "cieszyc se", und so entstand Tesin alias Cieszyn, auf Deutsch Teschen. Doch nicht nur Freuden hat das Schicksal dieser Stadt und ihren Bewohnern beschieden

"Wäre ich vor 100 Jahren in dieser Stadt geboren...", singt man auf Tschechisch, Polnisch, Deutsch und Jiddisch in diesem Lied, das an die Zeiten erinnert, als es in Tesin (Teschen) noch all diese Sprachen zu hören gab. Damals sei alles anders gewesen, bevor das seltsame 20. Jahrhundert begann, heißt es dann weiter. Mal unter böhmischen, mal unter polnischen Herrschern, seit dem 16. Jahrhundert bis zum Jahr 1918 wiederum unter den Habsburgern. All die Jahre hatte Teschen den Status einer Stadt, mehrere Jahrhunderte war es sogar der Sitz des gleichnamigen Herzogtums! Ihre bekannteste Flaniermeile hieß noch vor 100 Jahren "Saska Kupa" oder Sachsenberg!

Nach dem 1. Weltkrieg wurde die Stadt zum Streitgegenstand zwischen Polen und der neu gegründeten Tschechoslowakei. Der damals entbrannte so genannte tschechisch-polnische Grenzkrieg ging erst mit dem Beschluss der Pariser Friedenskonferenz 1920 zu Ende. Die Stadt wurde in zwei Städte geteilt, von denen jede jeweils einem der zerstrittenen Staaten einverleibt wurde. Als tschechisch-polnische Staatsgrenze wurde die mitten durchs Zentrum fließende Olsa bestimmt. Wie lebt man in dieser Stadt heute, 86 Jahre nach ihrer Teilung und knappe zwei Jahre nach dem EU-Beitritt Polens und Tschechiens? Darüber habe ich mich kürzlich direkt vor Ort mit einem Sachkundigen unterhalten, nämlich mit dem Bürgermeister des polnischen Cieszyn, Bogdan Ficek.

"Vor mehr als 80 Jahren haben Politiker die Stadt geteilt. Wenn man heute die beiden Städte wieder vereinen möchte, würde man dazu ein paar Dutzend Jahre brauchen. Ich denke da etwa an die Wasserleitungen oder an das Strom- und Gasnetz, das man einst unterbrochen hat. Und nicht zuletzt auch an die zahlreichen Familien, die schlagartig auseinander gerissen wurden. Und dies trotz der tausendjährigen Existenz der Stadt als Ganzes."

Für den polnischen Bürgermeister ist es sehr wichtig, dass an beiden Seiten der Grenze der Wille vorhanden ist, nicht immer nur in die trennende Vergangenheit zu schauen, sondern vor allem all das zu fördern, was die Tschechen und Polen wieder näher bringe. Namentlich dafür habe man entsprechende Pendants, also Amtskollegen und weitere Repräsentanten auf der tschechischen Seite gefunden, die Ficek "phantastische Freunde" nennt. Wann ist die Wandlung in den gegenseitigen Beziehungen eingetreten, fragte ich ihn. Schließlich kamen die Bürgermeister beider Städte schon vor 1989 zusammen:

"Bis dahin galt das gegenseitige Verhältnis nur als äußere Fassade. Das lief so ab: Die Repräsentanten der beiden Stadtverwaltungen trafen sich, umarmten sich, ließen ihre Toasts erklingen - und das war´s. Danach wurde ein Jahr lang nichts getan. Erst nach der Wende 1989 begann die reelle Zusammenarbeit zwischen Schulen, verschiedenen Organisationen, Sportklubs und anderen. Das Schönste daran war, dass sich besonders Kinder kennen lernten, Kontakte knüpften und anschließend auch ihre Familien. Das begann gleich nach 1989."

Bogdan Ficek war, bevor er Bürgermeister von Cieszyn wurde, Lehrer. Das ist einer der Gründe, warum er großen Wert darauf legt, dass sich vor allem junge Polen und Tschechen so oft wie möglich treffen. Er ist aber auch Vater von drei Kindern und erzählte mir unter anderem etwas aus seinem persönlichen Leben - als Beispiel dafür, wie es vor dem Wendejahr an der gemeinsamen Grenze zwischen zwei Staaten, die sich bei jeder Gelegenheit gerne als Bruderländer deklarierten, zuging:

"Ich hatte damals kleine Kinder und kaufte oft für sie in Cesky Tesin Grießbrei, der bei uns als Mangelware galt. Oder noch etwas: Ich bin ein Schachenthusiast und die Tschechen hatten tolle Verlage für Schachliteratur. Deshalb habe ich in CT Schachfachbücher gekauft, musste sie aber verstecken, weil sie bei Zollkontrollen als verdächtig galten. Ich verstehe bis heute nicht, was daran verdächtig war."

Immerhin, die Grenzen sind noch nicht ganz verschwunden zwischen dem polnischen und dem tschechischen Cieszyn/Tesin. Da beide Staaten noch nicht dem Schengenraum angehören, sind die Zollbeamten am Grenzübergang präsent. Sie wühlen zwar natürlich nicht mehr in den Taschen der hin und her strömenden Passanten, die Grenzen sind aber immer noch im Kopf einiger hier lebender Einwohner. Dass es immer noch auch Animositäten gibt, will der polnische Bürgermeister keineswegs leugnen:

"Die gibt es, sicherlich! Es gibt Animositäten, die aus der Vergangenheit herrühren. Die hiesige Gemeinschaft wurde geteilt. Ein Teil der Polen, die jenseits des Flusses lebten, kamen um ihr Vermögen und mussten nach Polen umziehen. Ein Teil der Tschechen zog wiederum in die entgegengesetzte Richtung um. Jemand hatte eine Fabrik und verlor sie. Es gab auch Verfolgungen. Man darf nicht vergessen, dass damals der Nationalismus waltete und entsprechende Emotionen hochgespielt wurden. Es gab einen wahren tschechisch-polnischen Grenzkrieg! Man muss aber alles tun, damit die existierenden Animositäten bald der Vergangenheit angehören. Sie sollten nicht unser Leben von heute prägen. Das bringt nichts!"

Was man an der tschechisch-polnischen Grenze dagegen tut und in Zukunft tun will, damit sich - wie Bogdan Ficek sagt - die Fehler unserer Vorfahren nie mehr wiederholen, darüber können wir wieder ein anderes Mal in "Panorama CZ" sprechen.