Phänomen Volksmusik
Der Sommer hat Tschechien fest im Griff und mit ihm hält auch die Zeit der unzähligen Festivals Einzug ins Land. Ein Großteil von ihnen gilt traditionsgemäß der Volkskunst, genauer gesagt der Volksmusik. Dass diese zu den beliebtesten Musikgenres vieler Tschechen zählt, beweist eben die große Beliebtheit der Folklorefestivals hierzulande. Das Phänomen "Volkskunsttradition", vor allem die südmährische Volkskunsttradition, nimmt im nun folgenden Regionaljournal Jitka Mladkova unter die Lupe:
Unseren Besuch in Südmähren beginnen wir in Straznice, das wohl als Inbegriff für die Volkskunst der Region gilt. Die Anfänge dieser Stadt liegen weit zurück, und zwar in der 2.Hälfte des 13.Jahrhunderts, als der tschechische Staat unter Fürst Premysl Otakar II. seine Position im mitteleuropäischen Raum festigte. In jener Zeit ist die Region von Straznice zum dauerhaften Bestandteil von Mähren geworden. Von da an teilte der sich zu einer Stadt entwickelnde Ort das nicht selten bewegte Schicksal dieses Landteils. Am Anfang des 17. Jahrhunderts gehörte Straznice mit seinen 4500 Einwohnern und etwa 700 Häusern bereits zu den bedeutendsten mährischen Städten. 1605, als es im benachbarten Ungarn zu einem Aufstand kam, wurde sie aber durch Plünderungen der bis dorthin vorgedrungenen Angreifer zum Großteil niedergebrannt. Das Seine tat auch der Dreißigjährige Krieg, nach dem die ganze Region von Straznice in den Besitz des aus Italien stammenden Adelsgeschlechtes Magni überging. Nach und nach verwandelte sich Straznice in eine deutsch geprägte Stadt.
Erst in der 2.Hälfte des 19.Jahrhunderts kam es im Zuge der nationalen Bewegung zu einer Wende. Gegründet wurden tschechische Vereine, eine tschechische Schule und 1897 auch ein tschechisches Gymnasium. Heutzutage, also rund hundert Jahre später, assoziiert man mit dem Namen Straznice vor allem Wein, der dort weit und breit angebaut wird, und flotte, oder aber auch lyrische Volkslieder voller Melancholie - was schließlich mit dem ersteren gut zusammenpasst... Wenn Sie mir jetzt folgen, liebe Hörer, biete ich Ihnen einen Exkurs in die Geschichte der Volkskunsttradition Südmährens inklusive einer musikalischen Kostprobe:
Mit dieser Melodie sind wir mitten drin, nämlich in Südmähren! Es ist gerade die Musik, die aus dieser Gegend Tschechiens kaum wegzudenken ist. Neben gutem Wein, versteht sich, aber auch dieser ist mit der Musik fest verbunden. Schließlich gibt es eine ganze Menge dem Wein gewidmete Trinklieder, die eben aus dieser Ecke des Landes stammen und weit über die Region hinaus bekannt sind. Doch nicht nur auf Musik und Wein sollte man das Bild Südmährens reduzieren. Zu diesem gehört auch die landschaftliche Mannigfaltigkeit, aber auch, und dies wohl vor allem, die außergewöhnliche Mannigfaltigkeit der Volkskunsttraditionen. Dass diese, und da sind z.B. die Trachten oder verschiedene Produkte des traditionellen Handwerks gemeint, im Laufe der Zeit einen Einfluss sogar auf die städtische Lebenskultur hierzulande hatten, bestätigte mir die Ethnografin und Museumsleiterin in der südmährischen Kurstadt Luhacovice, Blanka Petrakova:
"Der Einfluss wiederholte sich sogar in mehreren Wellen. Es waren meistens Momente der so genannten nationalen Wiedergeburt, wie es in den Geschichtsbüchern heißt. Dabei ging es bei weitem nicht nur um die Periode um die Mitte des 19.Jahrhunderts, sondern z.B. auch um die Zeit der Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik 1918 oder die des 2.Weltkrieges, als große Nachfrage bestand nach allem, was die Zugehörigkeit zur Nation symbolisierte. So hat man z.B. den Kindern im Schulunterricht beigebracht, wie das eine oder das andere Element der traditionellen Volkskunst in der Mode oder in der Ausstattung des Haushalts anzuwenden ist. Das war in den 30er und 40er Jahren des 20.Jahrhunderts. Und dann wieder in den 70er Jahren, als verschiedene Elemente der traditionellen Volkskultur in zahlreichen Produkten spezialisierter Geschäfte und damit auch im alltäglichen Leben, darunter auch in der Bekleidung, ihre Verwendung fanden."
Kunterbuntes allerlei - das ist wohl das richtige Wort für die traditionelle Bekleidung der Dorfbevölkerung Südmährens, die zum Großteil erst nach dem 2.Weltkrieg aus dem Alltag zu verschwinden begann. Ganz verschwunden ist sie allerdings in Südmähren auch heute noch nicht. Sich eine Volkstracht anfertigen zu lassen, ist bei vielen jungen Leuten auf dem Lande sogar "in". Im Laufe des Jahres gibt es immer noch genug Gelegenheiten, z.B. bei traditionellen Volksfesten, diese aus dem Schrank herauszukramen und sich die Sohlen heiß zu tanzen.
Das, was da gesungen und getanzt werde, sei keine Folklore mehr, sondern der Folklorismus, behauptet der Kapellmeister des seit bereits 40 Jahren existierenden Ensembles "Muzika Technik" Jan Rokyta. Den Folklorismus versteht es jedoch als Ausdruck der Bemühungen, das Kulturerbe am Leben zu erhalten und weiter zu entwickeln, nämlich als eine normale künstlerische Disziplin von hohem Niveau. In der Wahrnehmung der Folklore sieht er auch wesentliche Unterschiede zwischen West- und Osteuropa. Für die Tatsache, dass die so genannte Volkskunst in Tschechien allgemein und namentlich dann in einigen Regionen wie Südböhmen, Süd- bzw. Ost- und Nordmähren, dermaßen beliebt ist, sieht Rokyta mehrere Gründe, darunter auch den folgenden:
"Da hat sich hierzulande maßgeblich die Institution der Musikschulen als prägender Faktor erwiesen. Diese Schulen haben bereits zwei Generationen guter Musikanten ausgebildet. Ich persönlich gehöre noch der Generation der Autodidakten an. Als ich zur Schule ging, gab es noch nicht viele Musikschulen, und die existierenden haben sich der Volksmusik gar nicht gewidmet. Heute gibt es schon gut geschulte Zimbal-, Violine-, Kontrabass- und Violaspieler, die Volkslieder lieben und dabei auch - sagen wir - das "Handwerk" beherrschen. Dies gilt als Garantie dafür, dass dieser Musikkunstbereich sein hohes Niveau bewahren wird. Unsere Volkskunsttraditionen - Tanz, Gesang - stellen eines der wenigen Phänomene dar, wegen derer uns Europa mögen dürfte. Mit unserer Wirtschaftsleistung können wir höchstens Anerkennung erringen, wegen unserer Volksmusik allerdings kann man uns ins Herz schließen."
Und noch etwas gibt es, was das südmährische Straznice nicht nur in Tschechien, sondern auch über die Landesgrenzen hinaus berühmt gemacht hat - das Internationale Folklorefestival, das zu den ältesten in Europa zählt. Zum üblichen Termin Ende Juni fand es in diesem Jahr bereits zum 60.Mal statt. Ihr Stelldichein hatten Dutzende Ensembles aus dem In- und Ausland, die ihre Gesangs- und Tanzkunst traditionsgemäß im Areal des dortigen Freilichtmuseums dem interessierten und auch zahlreichen Publikum vorstellten.
Unseren heutigen Exkurs beenden wir mit einem der renommiertesten Volkskunstensembles hierzulande, und zwar mit dem Brno-Rundfunkorchester BROLN.