4) Bestattungskultur der Urzeit: Leichname in Hockposition und wertvolle Grabbeigaben
Wie in kaum einem anderen Land auf der Welt ist die Einäscherung die eindeutig präferierte Bestattungsform in Tschechien. Etwa 75 Prozent der Menschen hierzulande wünschen, in einer Urne beerdigt zu werden. Erste Hinweise auf diese Praxis stammen schon aus der mittleren Phase der Steinzeit. Trotzdem fanden auch in der Bronzezeit weiterhin Beisetzungen von Leichnamen statt – zum Glück für die Archäologen, die gerade aus Körpergräbern eine Menge aufschlussreicher Informationen über unsere Vorfahren gewinnen. Besonders das Gräberfeld im ostböhmischen Mikulovice hat die hiesige Forschung vorangebracht.
Obwohl sich Mitte des 13. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung auch auf dem Gebiet des heutigen Tschechiens die Urnengräberkultur und damit die Einäscherung von Verstorbenen etablierte, wurde ebenso die Körperbestattung weiterhin praktiziert. Mancherorts reichte dazu ein einfaches ausgehobenes Grab. In anderen Siedlungsstätten wiederum wurden gemauerte und mit Kacheln ausgeschmückte Gruften angelegt. Der Archäologe Michal Ernée von der tschechischen Akademie der Wissenschaften erläutert:
„Eine Reihe von Spuren verweisen auf einen unterschiedlichen Umgang mit den Toten im Laufe der Zeit. Die meisten Gesellschaften wandten mehrere Begräbnisrituale an. Archäologisch können aber nur einige von ihnen belegt werden. Für manche Epochen lässt sich nicht eindeutig bestimmen, auf welche Art die Menschen vorrangig beerdigt wurden – ob durch Einäscherung oder aber ob der Körper auf beziehungsweise in die Erde gelegt wurde.“
Das größte bekannte Gräberfeld auf Prager Boden wurde auf dem heutigen Loreto-Platz im Burgviertel entdeckt. Es enthält um die 800 Gräber. Die Anzahl der identifizierten Gebeine lässt aber auf eine viel größere Zahl an beigesetzten Personen schließen.
Stoßen heutige Wissenschaftler auf solche urzeitlichen Grabstätten, ist nicht nur die Art und Größe der Anlage von Interesse. Die Grundinformationen über die beerdigte Person liefert das Skelett selbst – zum Beispiel, in welcher Position es in der Grube liegt. Von der Steinzeit bis zur frühen Bronzezeit sind die meisten Leichname laut Ernée in gehockter Seitenlage zur Ruhe gebettet worden:
„Die verkrampfte Haltung könnte etwas zu tun haben mit der Liegeposition im Mutterleib. Es gibt aber auch Kulturen, die ihre Toten in ausgestreckter Position beerdigt haben. Dazu gehören etwa die Kelten oder die Grabfelder von Burganlagen des frühen Mittelalters, wie eben jenes auf dem Loreto-Platz. Unsere Funde weisen die Toten also in verschiedenen Positionen aus.“
Gehockte Position als Allegorie auf die Lage im Mutterleib
Im Falle der gehockten Position lagen Männer auf der rechten Körperseite, das Gesicht nach Osten gerichtet. Frauen wurden hingegen auf die linke Körperseite und in die entgegengesetzte Richtung gebettet. Und noch etwas gebe Hinweise auf die Bestimmung des Geschlechtes, so der Archäologe weiter:
„Auch die Art der Grabbeigaben entspricht häufig den logischen Annahmen. In der frühen Bronzezeit wurde in den Gräber von Frauen zumeist Schmuck hinterlassen. Bei Männern hingegen finden sich – nicht mehr so regelmäßig zwar, aber dennoch häufig – Waffen.“
Es sind eben diese Geschenke an die Toten, die die urzeitliche Bestattungskultur auf dem Gebiet des heutigen Tschechiens von denen der benachbarten Völker unterscheidet. Denn hierzulande enthalten die Gräber in großer Zahl Gegenstände aus Bernstein. Dies trifft auf etwa 320 Fundorte zu, während in Deutschland beispielsweise nur einige Dutzend Gräber entdeckt wurden, die entsprechende Schmuckstücke enthalten. Bestätigt wurde diese Tradition auch in der bedeutendsten archäologischen Fundstätte zur Bestattungskultur in Tschechien – dem Gräberfeld bei Mikulovice, das in Ostböhmen zwischen Pardubice / Pardubitz und Chrudim liegt. Michal Ernée:
„In Mikulovice befindet sich eine interessante Grabstätte mit reichen Grabbeigaben. Es handelt sich um eine Frau, die viele Geschenke bei sich hat. Ihr Grab wird auf die Zeit um das Jahr 2000 vor Christus datiert. Die Tote trägt eine wunderschöne Halskette mit mehr als 400 Bernsteinperlen. Bisher ist es das am reichsten mit Bernstein bestückte Grab aus dieser Zeit, das in Europa jemals gefunden wurde.“
Zahlreiche Opfergaben wurden auch in Form von Lebensmitteln im Grab hinterlassen. Davon zeugen Keramikgefäße oder auch Tierknochen. Noch genauere Informationen über die Ernährungsgewohnheiten vor über 4000 Jahren gewinnen die Forscher inzwischen aber durch sogenannte Isotopieanalysen. Anhand der Ergebnisse könne man bestimmen, ob die Vorfahren der Tschechen sich von Fleisch oder eher vegetarisch ernährt hätten, sagt Ernée. Interessant werde es, wenn man auf regionale Unterschiede treffe:
„In dieser Grabstätte der frühen Bronzezeit in Mikulovice gibt es Hinweise auf eine sehr einheitliche Ernährung. In der Gegend haben also alle Bewohner mehr oder weniger das Gleiche gegessen. Zwischen den einzelnen Familien haben wir allerdings gewisse Variationen festgestellt, die auf unterschiedliche Präferenzen hinweisen. Zudem gibt es dort ein älteres Paar, das gemeinsam in einem Grab beerdigt worden ist und aus den Ernährungsgewohnheiten der Umgebung völlig herausfällt. Die beiden Personen waren sozial höhergestellt, denn sie aßen eindeutig mehr Fleisch, als es in dieser Gesellschaft üblich war.“
Grabgeschenke aus Bernstein
Außer der Frage der Ernährung interessiert die Forscher von der tschechischen Akademie der Wissenschaften auch der Gesundheitszustand der damaligen Bevölkerung. Verletzungen wie Brüche oder die Folgen eines Kampfes ließen sich aus der paläopathologischen Untersuchung der Skelette ablesen, erläutert Ernée. Viele Krankheiten würden sich allerdings nicht auf den Zustand der Knochen niederschlagen, und deswegen sei die DNA-Analyse inzwischen eine unverzichtbare Methode:
„In letzter Zeit sind dazu zwei interessante Artikel erschienen, an denen wir mitgearbeitet haben. Einer beschäftigt sich mit Hepatitis B, der andere mit der Pest. Gerade diese beiden Krankheiten lassen sich in der DNA erkennen. Die Forschungen konzentrieren sich jetzt auf die Geschichte dieser Krankheiten, die dann im Mittelalter fatale Folgen gehabt haben. Von der Pest wissen wir, dass ihr mehrere Dutzend Prozent der Bevölkerung zum Opfer gefallen sind. Ihre Geschichte kann nun anhand der urzeitlichen DNA-Proben rückwirkend über mehrere Jahrtausende erzählt werden.“
Selbst wenn ein Grab nicht reich an Geschenken ausgestattet sei, könne die DNA-Analyse der bestatteten Person doch bedeutsame Hinweise auf den Lebensstil der damaligen Bevölkerung in der jeweiligen Gegend geben, ergänzt der Archäologe.
Eine ganze Gräberanlage wiederum lässt Schlüsse auf Familienbeziehungen zu. Die erwähnte Fundstätte in Mikulovice ist dafür ein außerordentlich gutes Beispiel. Die dort beigesetzten Menschen hätten ein überraschend hohes Alter erreicht, betont Ernée:
„In der Nekropole in Mikulovice, die wir umfassend analysiert haben, sind viele Frauen begraben, die mindestens ein Kind hatten, das ebenfalls dort liegt. Mit nur einer Ausnahme haben sie alle mindestens das 55. Lebensjahr erreicht. Dies ist in der frühen Bronzezeit, also um 2000 vor Christus herum, ein recht hohes Alter. Wir hätten eher erwartet dort Frauen zu finden, die bei der ersten Geburt gestorben sind.“
Menschen in Bronzezeit erreichten relativ hohes Alter
Auf einen solchen Fall seien sie vor Ort aber nicht gestoßen, fährt der Experte fort. Im Gegenteil, von einer Frau habe man sogar sechs Nachfahren in den Gräbern gefunden. Generell gelte für die frühe Bronzezeit, dass die Familien eher klein waren und die Angehörigen darauf geachtet hätten, dass es zu keiner genetischen Vermischung in der Verwandtschaft komme. Und weiter berichtet Ernée über Mikulovice:
„Das demografische Profil dieser Begräbnisstätte ist eher ausgeglichen. Es gibt keine Altersgruppe, in der es besonders viele Tote gegeben hätte. Ausgeglichen ist auch das Verhältnis von Männern und Frauen. Das hat sogar uns ein wenig überrascht.“
Von der hohen Bedeutung der Fundstätte in Mikulovice zeugt Ernées Anmerkung, dass es bisher wenige genetische Analysen ganzer Familien oder Kommunen in Europa gebe und diese Forschung noch in ihren Anfängen stecke. Zudem beteiligen sich an den Untersuchungen vor Ort und den Aufarbeitungen der Ergebnisse eine ganze Reihe renommierter Institutionen in anderen Ländern. Dazu gehören die Universitäten im britischen Bristol oder im finnischen Helsinki, das Curt-Engelhorn-Zentrum Archäometrie in Mannheim oder etwa das Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena.
Auch zeitlich stellt die Erforschung des Gräberfeldes in Ostböhmen ein echtes Mammutprojekt dar. Die eigentlichen Ausgrabungen fanden nämlich schon in den Jahren 2007 bis 2009 statt. Aktuell beschäftigt sich das Team von Michal Ernée vor allem mit der Isotopieanalyse der Ernährungsweise und auch der Mobilität von etwa 100 der in Mikulovice beerdigten Personen. Da dies eine riesige Menge an Daten sei und auch noch die klassischen archäologischen Erkenntnisse hinzukämen, werde eine umfassende Publikation über den so bedeutsamen Fund noch etwa ein Jahr lang dauern, sagt der Wissenschaftler.
Die Serie entsteht in Kooperation mit dem Archäologischen Institut der Akademie der Wissenschaften in der Tschechischen Republik.