Zeitzeugin Heidi Bohley: „Havels ‚Versuch, in der Wahrheit zu leben‘ war für uns in der DDR wichtig“
Heidi Bohley ist deutsche Bürgerrechtlerin und Publizistin. In der DDR gehörte sie zur Opposition. 1995 gründete sie den Verein „Zeit-Geschichte(n). Verein für erlebte Geschichte“. Als Zeitzeugin nahm sie jüngst am deutsch-tschechisch-polnischen Projekt „ZusammenHALT“ teil. Das folgende Interview mit Heidi Bohley entstand im Dezember bei der Präsentation des Projektes in Prag.
Frau Bohley, Sie haben eine enge Beziehung zu Prag und auch zum Rest Tschechiens. Wie ist sie entstanden?
„Ja, ich habe wirklich eine besondere Beziehung zu Prag, weil ich 1971 einen Prager Jungen beim Autostopp in Rumänien kennengelernt habe. Wir haben uns verliebt und dann ein Kind zusammen bekommen. Mein Partner ist aber sehr jung gestorben. Unsere Tochter war damals drei Monate alt, und für mich und für seine Eltern war das ganz schrecklich. Wir hatten sehr gute Beziehungen zu den Großeltern und waren regelmäßig in Prag. Und die Zeit, die wir zusammen hatten, das waren nur anderthalb Jahre, war wie ein ganzes Leben. Und das verbindet mich mit Prag. Mir ist immer ganz warm ums Herz, wenn ich hier bin.“
Konnten Sie die Großeltern Ihrer Tochter während der 1970er und 1980er Jahre regelmäßig besuchen?
„Ja, wir haben sie regelmäßig gesehen. Dann bekam man jedoch auch in der DDR mit, dass es in der Tschechoslowakei die Charta 77 gab. Und in Ostdeutschland bildeten sich um 1982 oppositionelle Gruppen, die versuchten, Kontakte zu den Leuten von Solidarność in Polen und von der Charta 77 in der Tschechoslowakei zu knüpfen. Das ist dann systematisch unterbunden worden. Sowohl ich als auch meine Freunde von der Opposition durften die DDR nicht mehr verlassen.“
Für alle anderen gab es jedoch visafreien Verkehr zwischen der DDR und der Tschechoslowakei…
„Genau, den gab es. Ich jedoch wurde aus dem Zug rausgeholt. Ich habe mich dann beschwert und gesagt, dass ich Verwandte besuche. Ich habe gefragt, was die Begründung sei. Da wurde mir gesagt, sie müssten mir keinen Grund nennen – also das Übliche.“
Durfte Ihre Tochter, die damals noch ein Kind war, nach Prag reisen?
„Sie hatte einen Kinderausweis. Wir haben sie also in den Zug gesetzt, ,babička‘ hat sie abgeholt und sie ist dann allein hin- und hergefahren.“
Damals lebten Sie in Halle. Wie hat sich Ihr Engagement in der Opposition auf Ihre berufliche Karriere ausgewirkt? Wo wurde Ihnen überhaupt erlaubt, zu arbeiten?
„Ich habe diese Karriere nach unten gemacht. Das heißt aber auch, dass mein Freiraum immer größer wurde. Ich habe in einer Universitätsbibliothek gearbeitet, dort bin ich rausgeflogen. Irgendwie habe ich mich aber über Wasser gehalten, was ganz gut ging, weil wir sehr niedrige Mieten hatten. Eigentlich brauchte man für das tägliche Leben nicht so furchtbar viel Geld. Ich habe Arbeiten für eine Künstlerin gemacht. Wichtig war, dass man einen Stempel im Sozialversicherungsausweis hatte. Ich hatte nach dem Tod meines Lebensgefährten eine Zeit lang kein Einkommen, weil ich den Krippenplatz, der mir angeboten wurde, verweigert habe. Dadurch bin ich aus diesem System herausgefallen. Die Prager Großeltern wollten mich unterstützen. Es gab die Möglichkeit, dass Tschechen im Ausland lebende Angehörige mit Geld unterstützen konnten. Sie wollten das Geld einfach überweisen. Dafür brauchten sie jedoch einen Nachweis, dass ich in der DDR kein Einkommen hatte. Und wer bescheinigt einem, dass man nichts kriegt? Ich hatte nur zehn D-Mark Kindergeld pro Monat und noch Erspartes, von dem ich gelebt habe. Mir war wichtig, das Baby nicht wegzugeben. Ich bin also zum Jugendamt gegangen, habe die Situation geschildert, dass mein Mann gestorben ist und ich das Kind behalten will. Ich bat um die Bescheinigung, dass ich kein Einkommen habe. Da wurde mir gesagt, sie wüssten nicht, was ich für Bettelbriefe geschrieben habe. Das würde ja so aussehen, als ob der Staat die Leute, die es nötig haben, nicht unterstützt. Das war die eine Seite. Die andere Seite war, dass es in der DDR einen Paragrafen über asoziales Verhalten gab. Ich war kurz davor, man hätte mich wegen dieses Paragrafen ins Gefängnis stecken und mir das Kind wegnehmen können. Das habe ich dann schnell gemerkt und habe mir einen Stempel als Reinigungskraft in einem Studentenwohnheim besorgt. Damit war ich abgesichert.“
Mit der Kinderkrippe in der DDR meinen Sie vermutlich die Wochenkrippe oder?
„In der DDR gab es die Wochenkrippen. In den 1960er Jahren wurde jedoch festgestellt, dass sie für die Kinder sehr schädlich waren. Ich wusste nicht, dass in der Tschechoslowakei daraufhin damit Schluss gemacht wurde. Dort hat man Modelle einer Familienbetreuung für die Kinder entwickelt und es gab keine Wochenkrippen mehr. In der DDR bestanden sie, denke ich, bis 1989. Ich war damals überrascht, dass es Unterschiede zwischen der tschechoslowakischen Gesellschaft und der Gesellschaft in der DDR gab.“
Sie haben das Geschehen in der damaligen Tschechoslowakei aktiv mitverfolgt. Während Ihrer Prag-Besuche haben Sie auch Václav Havel getroffen. Wann war das?
„Ich hatte über Kontakte die Adresse von einem Charta-77-Unterzeichner bekommen. Dort fragte man mich, warum ich Václav Havel nicht besuche, wenn ich ihn so sehr bewundere. Das war 1985. Ich war damals bei den Schwiegereltern, da klingelte das Telefon, und eine Frau sagte mir: ,Frau Heidi, Václav Havel erwartet Sie morgen um zwei.‘ Das war toll. Ich bin also hingegangen. Für mich war das auch deshalb wichtig, weil für uns in der DDR Havels Buch ,Versuch, in der Wahrheit zu leben‘ eine große Rolle spielte. Das Exemplar, das ich zuhause hatte, war total zerfleddert, weil es durch alle Hände gegangen war. Und Havel stützte sich auf Patočka. Diese innere Ermutigungsarchitektur hat einen so stark gemacht. Sie hat gezeigt, dass nichts vergeblich ist, und wenn doch, so ist es für einen selber wichtig, weil man sich selber ein Stück Freiheit nimmt.
Nach dem Treffen mit Václav Havel folgte dann das Ausreiseverbot?
„Ja. Über meinen Besuch ist die Staatssicherheit bestimmt informiert worden, und ich durfte seitdem nicht mehr in die Tschechoslowakei reisen.“
Sind Sie dann gleich 1989 wieder nach Prag gekommen?
„Nicht sofort, da hatten wir noch viel zu tun. Wir mussten bei uns Revolution machen und erst danach konnten wir uns wieder mit Verwandten und Freunden sehen. Ich muss sagen, dass mein Partner, Ladislav Vyroubal, ein ganz besonderer Mensch war. Er wollte dieses Kind haben. Unsere Tochter hat später Kalligrafie und Buchbinden in London studiert, sie macht jetzt eine tolle Arbeit und ist sehr wach und wunderbar. Es ist unvorstellbar, dass ich dieses Kind nicht bekommen hätte, auch wenn es damals überhaupt nicht gepasst hat.“
Kommen Sie heute noch öfter nach Tschechien?
„Die Großeltern meiner Tochter leben leider nicht mehr. Aber wir waren beide im Sommer zu Besuch in Prag und haben eine tschechische Freundin dabei gehabt, die übersetzen konnte.“
Im Rahmen des Projekts „Zusammen.HALT“ sind Sie als Zeitzeugin in Dresden mit tschechischen Schülern zusammengetroffen. Bei der Vernissage in Prag war zu sehen, dass Sie gute Freunde geworden sind…
„Ja, das war ganz schön. Zwei von ihnen haben mich interviewt. Natürlich ist meine Begebenheit ja auch eine Liebesgeschichte, die sich in einem Alter abspielt, in dem die Schüler jetzt selber sind. Da waren sie sehr offen und bei mir geht es auch so ineinander rüber – die Liebesgeschichte und das Politische – so, wie es im Leben ist, dass man es oft nicht voneinander trennen kann. Die Schüler waren sehr offen und wir haben uns sehr gut verstanden.“