serie

1) Vom Altstädter Ring zum Wenzelsplatz: Spuren aus Franz Kafkas Kindheit und Jugend

Franz Kafka-Statue von Jaroslav Róna
vorherige folge
nächste folge

Auf ihren Sohn Franz Kafka ist die Stadt Prag heute stolz. Das war nicht immer so – zu kommunistischen Zeiten wurde nur ungern öffentlich über den bekanntesten deutschsprachigen Schriftsteller gesprochen. Inzwischen sind seine Lebens- und Wirkungsstätten Anlaufpunkte für zahllose Touristen, ebenso wie das modern gestaltete Museum auf der Kleinseite. Am 3. Juni ist es 100 Jahre her, dass Kafka, den immer das Skurrile und Düstere der menschlichen Psyche umtrieb, mit nur 40 Jahren starb. Radio Prag International beteiligt sich am Gedenkjahr und startet heute die neue Serie „Auf den Spuren von Franz Kafka“. In Teil Eins geht es um seine Kindheit und Jugend in Prag

Foto: Magdalena Hrozínková,  Radio Prague International

Wo sonst lässt sich der Kindheit Franz Kafkas nachspüren, wenn nicht auf dem Altstädter Ring? Wir haben uns mit der Touristenführerin Dana Kratochvílová direkt im Herzen Prags getroffen und wollen eintauchen in die Zeit am Ende des 19. Jahrhunderts. Dort, wo Franz Kafka am 3. Juli 1883 geboren wurde, ist heute eine Gedenktafel zu sehen, die den schon erwachsenen Schriftsteller mit seinen typisch spitzen Gesichtszügen zeigt. Der Prag-Kenner hat es bereits erkannt: Wir stehen vor dem Eckhaus am Franz-Kafka-Platz…

„Dieser kleine Platz vor dem Eingang zur St.-Nikolaus-Kirche hieß im Mittelalter Kurný trh, hier wurden also Hühner verkauft. Lange hatte der Ort danach aber keinen Namen, da er mehr oder weniger zum Altstädter Ring gehörte. Weil wir uns nun an jenem Ort befinden, an dem dann Franz Kafka geboren wurde, bekam der Platz später seinen Namen. An dem Eckhaus ist auch die Büste Kafkas angebracht. Allerdings handelt es sich nicht um das ursprüngliche Geburtshaus Kafkas, denn das ist abgerissen worden. Von ihm blieb nur das Portal erhalten, und das Haus wurde neu aufgebaut.“

Franz-Kafka-Platz | Foto: Magdalena Hrozínková,  Radio Prague International

So erläutert Dana Kratochvílová. Der Abriss des Geburtshauses erfolgte im Rahmen der Assanierung, durch die das alte jüdische Viertel Josefov umgestaltet wurde. In dem früheren Haus verbrachte Kafka seine ersten beiden Lebensjahre. Er war das älteste Kind von Hermann und Julie. Der Vater war, aus ärmlichen Verhältnissen stammend, aus einem südböhmischen Dorf nach Prag gekommen und hatte hier ein Galanteriegeschäft eröffnet. Kafkas Mutter hingegen sei in einer angesehenen und sehr reichen jüdischen Familie aufgewachsen, so Kratochvílová:

„Nach Franz wurden zwei weitere Söhne geboren, die aber noch im Kleinkindalter an so gängigen Krankheiten wie einer Mittelohrentzündung starben. Danach kamen drei Mädchen zur Welt – Gabriele, Valerie und Ottilie. Die dritte, Ottilie, war neun Jahre jünger als Franz und seine Lieblingsschwester.“

Dana Kratochvílová | Foto: Magdalena Hrozínková,  Radio Prague International

Das Geschäft des Vaters lief gut. Er sei mit seinem Fachhandel in immer größere Räumlichkeiten und immer näher an den Altstädter Ring gezogen, schildert die Stadtführerin. Mit ihr gehen wir vom Franz-Kafka-Platz durch den Gewölbegang der Straße U radnice (Am Rathaus) und bleiben zwischen dem Kleinen Platz (Malé náměstí) und dem Altstädter Ring stehen – am Rande der Menschenmenge, die gerade den Prager Orloj bewundert.

Foto: Magdalena Hrozínková,  Radio Prague International

Stressiger Schulweg über den Altstädter Ring

Foto: Štěpánka Budková,  Radio Prague International

Zu dem Häuserblock, an dessen Ende der alte Rathausturm emporragt, gehört auch das Haus U minuty (Zur Minute) mit dem wunderschönen Renaissance-Graffito. Ihm gilt nun Kratochvílovás Aufmerksamkeit:

„Die Familie Kafka zog in die erste Etage ein. Sie hatte hier eine ziemlich große Wohnung, die sogar ein Zimmer für das Dienstmädchen bereithielt. Franz Kafka war damals sechs Jahre alt, und von hier aus ging er dann auch täglich in die Schule. Es war eine neue, deutsche Schule, die sich in der Masná-Straße befand. Kafka musste dazu also den Altstädter Ring überqueren, und dies beschreibt er in seinen Tagebüchern als sehr stressig. Er hatte das Gefühl, sich zu verlaufen, und schrieb davon, ob es nicht möglich wäre, auf dem Altstädter Ring ein Geländer anzubringen. An diesem könne er dann bis zur Týnská-Straße entlanggehen, um eben nicht verlorenzugehen.“

Týnská ulička | Foto: Magdalena Hrozínková,  Radio Prague International

Auch ein heutiger Besucher Prags kann sich an den Wochenende der Sommermonate wohl gut in die Lage des kleinen Franz Kafka versetzen, wenn er durch die Menschenmassen auf dem Altstädter Ring läuft. Quer über den Platz führt der Weg in die schmale Týnská-Straße, vorbei an der Teynkirche. Kratochvílová berichtet weiter:

„Kafka erinnerte sich, dass er immer von der Köchin begleitet wurde, weil er sich vor der Schule fürchtete. Die Köchin musste ihn dorthin zerren, und diese Szene wurde jeden Tag aufs Gleiche von den Marktfrauen beobachtet. Jedes Mal drohte ihm die Köchin, dass sie in der Schule melden würde, wie sehr er sich sträubte. Kafka rechnete also immer damit, dass sie etwas sagen würde, was aber nicht passierte. Bei der späteren Aufarbeitung erörterte Kafka, welche Autorität eine Köchin wohl gegenüber Lehrern habe und ob sie ihn überhaupt hätte anschwärzen können. Dies war also sein täglicher Kampf auf dem Schulweg.“

Foto: Magdalena Hrozínková,  Radio Prague International

Einer der vielen Kämpfe, die Kafka sein Leben lang in sich austrug. Das Schulgebäude steht heute noch. Der verschreckte Schüler schlug sich darin anscheinend besser, als er sich selbst zutraute…

„Kafka erbrachte sehr gute Leistungen in der Schule – wobei er selbst sich immer wunderte, wie sie ihn ins nächste Schuljahr weiterkommen lassen konnten. Dank dieser Erfolge kam er bald aufs Gymnasium. Das befand sich im Goltz-Kinský-Palais auf dem Altstädter Ring, das heute der Nationalgalerie dient. In diesem Palais hatte Kafkas Vater zudem ein Geschäft.“

Kinský-Palais | Foto: Magdalena Hrozínková,  Radio Prague International

Erste schriftstellerische Versuche im Jugendzimmer

Haus Zu den drei Königen | Foto: Štěpánka Budková,  /z Radio Prague International z

Die Teynkirche blieb auch in Kafkas Blickfeld präsent, als er in die Pubertät kam. Zur Ausübung ihrer Religion ging die jüdische Familie freilich ins Viertel Josefov. Ihre Wohnsitze befanden sich aber in den Kindheits- und Jugendtagen des Sohnes rund um den Altstädter Ring. 1896 fand die Familie eine weitere Adresse in der Celetná-Straße 3. Das Haus U Tří králů (Zu den drei Königen) schließt mit seiner Hinterseite an die Teynkirche an.

„Zum einen zog hier die Kafka-Familie ein, zum anderen hatte der Vater in dem Haus Lagerräume und wiederum ein großes Geschäft. Mit groß meine ich, dass auch seine Frau an der Kasse arbeitete und mehrere Handlungsgehilfen beschäftigt wurden. Franz Kafka hatte hier sein eigenes Zimmer, und dessen Fenster war direkt auf die Teynkirche gerichtet.“

Hermann Kafkas Laden im Kinský-Palais | Foto: 'Franz Kafka a Praha',  Arnošt Arnošt,  Vladimír Žikeš,  Praha,  1947

Besucher der Kirche können dieses kleine vergitterte Fenster von der anderen Seite aus sehen. In seinem Jugendzimmer machte Kafka auch seine ersten literarischen Versuche. Der Vater sei zudem noch in einem anderen Haus in der Celetná-Straße tätig gewesen, schildert Kratochvílová im Weitergehen:

Palais Hrzán aus Harasov | Foto: Jan Zítka,  Tschechischer Rundfunk

„Wir stehen vor dem Palais mit der Hausnummer 12. Es trägt den Namen der Adelsfamilie Hrzán aus Harasov, in deren Besitz es sich einst befand. In diesem Haus hatte Kafkas Vater auf dem Höhepunkt seiner Karriere ein Großlager. Damals gab er den normalen Ladenverkauf auf und richtete einen Großhandel ein. Er beschäftigte erneut mehrere Handelsgehilfen sowie Händler, die die Ware in Prag und auch außerhalb auslieferten.“

Der sehenswerte Durchgang des Hauses führt in eine Gasse, die als Geheimtipp für die Besucher Prags gelten kann. Und auf unserer Spurensuche nach Franz Kafka lassen wir hier seine Kindheit auch schon hinter uns…

Kamzíková ulice | Foto: Jolana Nováková,  Tschechischer Rundfunk

„Dies ist die Kamzík-Straße. Sie ist eine versteckte, kleine Gasse, in die für gewöhnlich keine Touristen kommen. Wir stehen vor dem Haus ‚Zum roten Pfau‘. Es wurde 1865 von Abraham Goldschmidt gekauft, der hier eines der luxuriösesten Freudenhäuser Prags eröffnete. Es wurde von einer ganzen Reihe bedeutender Persönlichkeiten besucht, darunter auch deutschsprachige Schriftsteller einschließlich Franz Kafkas.“

Am südlichen Ende der Kamzík-Straße liegt das Karolinum, an dem Kafka ab 1901 sein Studium der Rechtswissenschaften absolvierte. Fünf Jahre später wurde ihm der Doktortitel verliehen. Die Spuren des erwachsenen Franz Kafka führen dann vor allem in die Prager Neustadt. Darum beenden wir unseren Rundgang auch auf dem Wenzelsplatz:

Gebäude der Versicherungsgesellschaft Assicurazioni Generali an der Ecke des Wenzelsplatzes und der Jindřiška-Straße | Foto: Štěpánka Budková,  Radio Prague International

„Nach dem Erreichen seines Doktortitels hatte Kafka den Wunsch, in den Süden zu verreisen, etwa nach Italien. Daraus wurde aber nichts, und stattdessen begann er 1907 in der Filiale der Triester Versicherung Assicurazioni Generali zu arbeiten. Diese hatte an der Ecke Wenzelsplatz / Jindřišská-Straße ein großes Gebäude errichten lassen. Dieser wunderschöne neobarocke Bau stammt vom Architekten Osvald Polívka, und hier trat Kafka also seinen Posten an.“

Damit endet das Kapitel der Kindheit und Jugend von Franz Kafka. Für Dana Kratochvílová war es mit Sicherheit nicht die letzte Führung, in deren Mittelpunkt der Schriftsteller steht. Denn das Kafka-Jahr mit der Erinnerung an seinen 100. Todestag läuft in Prag gerade erst an. Vor allem dem einheimischen Publikum könne sie auch immer auch etwas Neues über Kafka mitteilen, sagt die Stadtführerin:

Das Foto von Franz Kafka an der Fassade des Arco-Cafés | Foto: Martina Kutková,  Radio Prague International

„Über Kafka berichte ich vor allem für Tschechen, denn sie wissen nicht viel von ihm. Der älteren Generation wurde er in der Schule vorenthalten. Mich überrascht immer sehr, wenn etwa US-amerikanische Teenager beim Stichwort Kafka sofort Bescheid wissen. Sie haben alle ‚Die Verwandlung‘ gelesen. Das ist ein großer Unterschied zu den Tschechen. Allerdings behandeln die jüngeren Generationen von hier Kafka jetzt auch in der Schule. Aber für die Älteren war er in Zeiten des Kommunismus tabu.“

Inzwischen seien aber das Leben des Schriftstellers und seine mehr oder weniger geliebten Orte in Prag ideale Anhaltspunkte, um die Stadt für sich zu entdecken, sagt Dana Kratochvílová.

10
50.087843810809
14.419217935860
default
50.087843810809
14.419217935860
50.086756944400
14.420006111100
50.087976659499
14.421830814430
50.086934693820
14.423287078791
50.082832498541
14.426067448880

Der 100. Todestag von Franz Kafka bietet nicht nur die Möglichkeit, Kafkas Werk und Leben aus aktuellen und neuen Perspektiven zu betrachten. Alle Veranstaltungen, Ausstellungen, Vorträge, literarische Links sind auf der Website des Projekts Kafka2024 zu finden.

Kafka 2024 | Foto: Adalbert Stifter Verein
schlüsselwörter:

Verbunden

  • Auf den Spuren von Franz Kafka

    Wo ist der weltberühmte Schriftsteller aufgewachsen und wo hat er seine Ferien verbracht? Welche Orte haben ihn inspiriert? Und wie war Kafka in natura?