2) Von der Synagoge zum Schloss: Kafka auf Sommerferien in Třešť
Am 3. Juni ist es 100 Jahre her, dass Franz Kafka mit nur 40 Jahren starb. Radio Prag International beteiligt sich am Gedenkjahr und stellt eine neue Serie „Auf den Spuren von Franz Kafka“ zusammen. In Teil zwei geht es um einen der Orte, den der Schriftsteller gern besucht hat, die Kleinstadt Třešť / Triesch auf der Böhmisch-Mährischen Höhe.
Bevor Franz Kafka nach dem Studium zu arbeiten begann, reiste er im Sommer regelmäßig zu einem Verwandten nach Třešť. Der Spaziergang auf den Spuren des Schriftstellers beginnt vor der ehemaligen Synagoge. Das auffallende, weiße Gebäude hat an der Stirnseite einen Laubengang, durch den man die Synagoge betritt. In der ersten Etage wird heute eine Ausstellung gezeigt, die das Leben von Franz Kafka und seiner Familie beschreibt. Er besuchte Třešť während seines Studiums, in den Jahren 1900 bis 1907. In der Stadt verbrachte er die Sommerferien bei seinem Onkel Siegfried Löwy, der eine Arztpraxis hatte. Doktor Löwy sei der jüngste Bruder von Kafkas Mutter gewesen, erzählt Romana Šťastná. Sie ist im Rathaus von Třešť für Kultur verantwortlich und hat Erfahrung mit Stadtführungen.
„Franz Kafka besuchte seinen Onkel gern. Siegfried war ledig, ein wenig scheu. Kafka hatte eine sehr gute Beziehung zu ihm – vielleicht aus dem Grund, weil der Onkel für ihn Zeit hatte, ihm zuhörte, wenn er Sorgen hatte und ihm Ratschläge gab, wenn er sie brauchte. Kafka genoss das Leben auf dem Lande, das er aus Prag nicht kannte.“
Im August 1907 schreibt Kafka in einem Brief an Max Brod unter anderem:
„Ich fahre viel auf dem Motorrad, ich bade viel, ich liege lange nackt im Gras am Teiche, bis Mitternacht bin ich mit einem lästig verliebten Mädchen im Park…“
Und er beschreibt weiter, wie er Bäumen nach dem Gewitter geholfen, Kühe und Ziegen geweidet und am Abend nach Hause getrieben hat. Er habe auch viel Billard gespielt, ausgedehnte Spaziergänge unternommen, viel Bier getrunken und sei auch schon im Tempel gewesen, heißt es in dem Brief. Wie Romana Šťastná anmerkt, belegt die Erwähnung im Brief an Max Brod, dass Kafka die Synagoge besuchte. In Třešť habe der künftige berühmte Schriftsteller zudem auch eine Ferienliebe getroffen. Hedwig Weiler (1888–1953) stammte aus Wien. Sie war in den Ferien bei Verwandten in Třešť. In der Zeit, als sie Franz Kafka kennenlernte, besuchte sie das Mädchenlyzeum in Wien. Kafka erwähnt Hedwig zum ersten Mal im selben Brief an Brod vom August 1907. Er schreibt, er habe viel Zeit mit zwei Mädchen verbracht:
„Die eine heißt Agathe, die andere Hedwig. Agathe ist sehr häßlich und Hedwig auch. H. ist klein und dick, ihre Wangen sind roth ununterbrochen und grenzenlos, ihre obern Vorderzähne sind groß und erlauben dem Mund nicht, sich zu schließen, und dem Unterkiefer nicht, klein zu sein; sie ist sehr kurzsichtig und das nicht nur der hübschen Bewegung halber, mit der sie den Zwicker auf die Nase – deren Spitze ist wirklich schön aus kleinen Flächen zusammengesetzt – niedersetzt; heute Nacht habe ich von ihren verkürzten dicken Beinen geträumt und auf diesen Umwegen erkenne ich die Schönheit eines Mädchens und verliebe mich…“
Nach der Abreise aus Třešť schickte Kafka Hedwig Weiler noch zahlreiche Briefe, vierzehn davon sind erhalten geblieben. Der Briefwechsel dauerte noch ungefähr ein Jahr lang, aber die Romanze fand offensichtlich kein glückliches Ende. Erhalten ist auch ein Brief von Kafka, in dem er Hedwig nach einiger Zeit siezt. Hedwig Weiler heiratete 1917 Leopold Herzka. Den Holocaust überlebten die beiden in Wien.
Der rasende Landarzt
Wie Romana Šťastná anmerkt, lernte Kafka in Třešť nicht nur die Ferienliebe kennen…
„Er kam hier auch mit der Realität des Arbeiterlebens in Berührung. Er erfuhr, wie es ist, von der Hand in den Mund zu leben – einfach so, wie er das aus Prag nicht kannte. In der Stadt gab es einige Fabriken, und unter den Patienten des Onkels waren auch viele Arbeiter. Kafka sah, dass das Leben nicht ganz einfach war.“
Doktor Löwy, den Kafka so gern besuchte, war in der Stadt und ihrer Umgebung eine anerkannte Persönlichkeit, wie Romana Šťastná betont:
„Er war sehr beliebt, die Menschen erinnerten sich sehr gern an ihn. Er hatte eine starke soziale Empathie und war ein Vorkämpfer natürlicher Heilmethoden. Der Arzt lüftete sehr oft, was Kafkas Vater Herrmann für lächerlich hielt. Wie wir aus der Lektüre erfahren können, hatte Kafka selbst gern beim offenen Fenster geturnt. Seinen Onkel nannte er ,Zwitscherer‘. Das war jedoch kein pejorativer, sondern eher ein zutraulicher Spitzname.“
Siegfried Löwy war ein sehr gebildeter und belesener Mann. Er verfügte über eine große Bibliothek. In der Stadt betrieb er seine Praxis, darüber hinaus fing er aber auch an, Zähne zu behandeln. Er war der erste Arzt in der Stadt, der Zähne plombierte. Die Bewohner erinnerten sich an ihn jedoch auch aus einem anderen Grund, fügt die Expertin hinzu:
„Doktor Löwy sorgte für Aufsehen, als er als vielleicht der erste in der ganzen Region ein Motorrad kaufte. Das technische Wunder diente ihm jedoch nicht lange. Als er von einem Patienten aus Stonařov zurückfuhr, stieß er auf der Straße mit einem liegenden Baumstamm zusammen. Er überlebte den Unfall ohne große Verletzungen, aber das Motorrad war kaputt. Bald kaufte er jedoch eine ordentliche, stärkere Maschine. Dank dieser konnte er auch Patienten in der weiteren Umgebung besuchen und musste dazu keine Pferdekutsche mehr mieten.“
In der Ausstellung in der Synagoge macht Šťastná auf historische Fotografien aufmerksam, auf denen Doktor Löwy auf dem Pferd und auch auf dem Motorrad zu sehen ist. Auf einem Bild vom Juli 1914 wird er von vier Damen angeschoben, eine von ihnen ist Kafkas Schwester Ottla. Wie im Text unter dem Foto steht, handelt es sich vermutlich schon um die zweite Maschine, die der Arzt gekauft hatte – und um das Gefährt, das auch Franz Kafka begeisterte, wie er im Brief an Max Brod erwähnte. Auf einem weiteren Foto ist der Arzt in seiner Praxis zu sehen. Löwy kam nach dem Medizinstudium im Jahre 1899 nach Třešť.
„Er blieb hier 25 Jahre, die ganze Zeit über hatte er die Arztpraxis. Um sich vorzustellen, wie es hier damals ausgesehen hat: Kurz nach Löwys Ankunft, im Jahre 1901, wurde Třešť mit einem kaiserlichen Dekret von Franz Josef zur Stadt erhoben. Es lebten hier rund 5000 Einwohner, es gab zwei Landesnationen. Die Tschechen waren leicht in der Überzahl. Anfang des 20. Jahrhunderts haben sich jüdische Bewohner, vor allem Unternehmer und Fabrikbesitzer, um den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Aufschwung von Třešť verdient gemacht. Die jüdische Gemeinde hatte damals ihre eigene Schule, eine Jeschiwa, eine Synagoge, eine Mikwe und ein Spital. Es war eine verhältnismäßig reiche jüdische Gemeinde. Da hier zwei Ethnien lebten, musste Doktor Löwy Deutsch sowie Tschechisch benutzen. Dies belegen auch von ihm geschriebene Rezepte, die noch erhalten sind.“
Siegfried Löwy wohnte in Třešť im Haus Nr. 131/9 auf dem Kleinen Ring. An dem unauffälligen grünen Haus wurde 2001 eine Büste von Franz Kafka installiert. Sie ist ein Werk des Bildhauers František Häckel.
Onkel Siegfried war es auch, der Kafka möglicherweise zu seiner Erzählung „Der Landarzt“ inspirierte, die zum ersten Mal 1919 veröffentlicht wurde. Romana Šťastná zumindest scheint, davon überzeugt zu sein:
„Manchmal wird darüber gestritten, aber wir in Třešť behaupten, dass die Erzählung von Doktor Löwy inspiriert worden ist, der hier als Landarzt arbeitete. Bei Kafka kann man auch über weitere Einzelheiten lesen, die an den Onkel erinnern. Die Ähnlichkeit ist groß, auch wenn einige das Gegenteil behaupten.“
Als sich Franz Kafkas Gesundheitszustand verschlechterte, stand ihm Onkel Löwy zur Seite. Er besuchte den kranken Neffen Anfang 1924 auch in Berlin. Im Sommer 1925, ein Jahr nach Kafkas Tod, ging Löwy in den Ruhestand, verließ Třešť und ließ sich in Prag nieder. Siegfried Löwy beging am 20. Oktober 1942 Selbstmord, kurz bevor er nach Theresienstadt deportiert werden sollte.
Holocaust bedeutete das Ende für die jüdische Gemeinde
1942 wurden auch alle jüdischen Bewohner von Třešť und der Umgebung in Konzentrationslager deportiert. Romana Šťastná zeigt vor der Synagoge rechts auf die Straße, die zum Bahnhof führt:
„Die Juden sind durch die Straße Nádražní zum Bahnhof gegangen, von dort aus wurden sie nach Třebíč und anschließend ins KZ gebracht. Von den jüdischen Bewohnern der Stadt haben nur elf überlebt, aber keiner von ihnen kehrte nach Třešť zurück.“
An die Holocaust-Opfer erinnert heute ein Denkmal, das im ehemaligen Gefängnishof hinter dem Rathausgebäude steht. Nach den verschwundenen jüdischen Nachbarn suchte in den vergangenen Jahren auch eine Gruppe von Schülern aus Třešť. Wie Šťastná sagt, sei es den Kindern gelungen, faszinierende Tatsachen zu enthüllen.
„Sie fanden fantastische Zeitzeugen sowie Mitglieder von jüdischen Familien, die im Ausland leben. Mit ihnen knüpften die Schüler Kontakt und befragten sie. Einige sind sogar zu Besuch nach Třešť gekommen. Damals entstanden zwei schöne Bücher voll von Erinnerungen, die heutzutage niemand mehr zusammenstellen könnte.“
Eine kleine Ausstellung im Erdgeschoss der Synagoge dokumentiert die Suche nach den verschwundenen Nachbarn. Neben der Schau ist der ganze Raum der Synagoge praktisch leer. Die Thora wird im Museum der Stadt aufbewahrt. Das Gebäude der Synagoge diente einige Jahr lang als Gemüselager. Es wurden dort aber auch Theaterkulissen gelagert. In den 1950er Jahren kaufte die Tschechoslowakische Hussitische Kirche das Gebäude und in ihrem Besitz ist es bis heute. Die Synagoge sei ein beachtenswertes Baudenkmal, meint Romana Šťastná:
„Sie wurde nach 1672 erbaut, aber schriftlich wurde sie erst 1693 zum ersten Mal erwähnt. Wie sie in der Barockzeit aussah, weiß man nicht, weil 1824 das ganze jüdische Stadtviertel bei einem Brand schwer beschädigt wurde. Innerhalb eines Jahres wurde die Synagoge restauriert. Dieser Stadtteil wurde jedoch 1920 erneut von einem Brand betroffen. Damals wurde die Synagoge wieder in Stand gesetzt. Die Arkaden wurden jedoch zum Teil eingemauert. Aufgrund ihrer Gliederung ist die Synagoge allerdings absolut einzigartig.“
Von der Synagoge geht es weiter durch das ehemalige jüdische Stadtviertel.
Romana Šťastná macht auf eine schmale Gasse gegenüber der Synagoge aufmerksam:
„Ganz hinten in der Gasse ist das Gebäude der Fahrschule zu sehen. In diesem niedrigen Häuschen war früher die jüdische Schule untergebracht. Nebenan befand sich das Spital. Direkt vor uns steht ein eher unschönes Gebäude. Das war vor vielen Jahren das Haus des Rabbiners. Dieser hatte dort seine Wohnung. Zudem gab es dort einen Tagungssaal. Auf der rechten Seite, in dem Haus, das halbzerfallen aussieht, hatte die Jeschiwa ihren Sitz. In den Zeiten, als Gelehrte aus der ganzen Umgebung in Třešť zusammentrafen, wurde die Stadt ,Klein-Berlin‘ genannt.“
Durch ein unauffälliges Gässchen kommt man an der früheren Wachtstube vorbei und gelangt zum Kozí plácek / Ziegenplatz.
„Hier sind noch viele ursprüngliche Häuschen erhalten geblieben. Wir befinden uns in einer anderen Welt von meistens in Stand gesetzten kleinen Häusern, deren ursprüngliches Aussehen beibehalten wurde. Die Häuser sind bewohnt, sie sehen jedoch wie in den alten Zeiten aus.“
Vom Ziegenplatz, wo früher wirklich Ziegen verkauft wurden, geht es weiter an einem Haus vorbei, in dem einst Zündhölzer hergestellt wurden. Über unseren Köpfen wölben sich mehrere Schwibbögen. Die Führung endet nahe der Synagoge in der Straße Nádražní. Romana Šťastná zufolge lohnt es sich allerdings, auch noch das Schloss zu besuchen. Dieses steht am anderen Ufer des Trieschbachs.
Hotel Schloss Třešť mit Kafkas Motiven
Das weiße Gebäude auf einer Anhöhe über der Straße ist nicht zu übersehen. Die Residenz wurde einige Mal umgebaut, zuletzt im 19. Jahrhundert im Stil der Neorenaissance. Seit 1984 gehört das Schloss der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik. Diese betreibt dort ein Hotel. Es gibt Spekulationen darüber, ob das Schloss in Třešť Kafka zum Roman „Das Schloss“ inspirierte. Als Inspirationsquelle kommen jedoch auch viele andere Orte in Frage. Sicher ist nur, dass der Schriftsteller den großen Schlosspark öfter besuchte. An Franz Kafka werde bis heute in dem Hotel erinnert, sagt der Direktor der Anlage, Jan Křivánek.
„In diesem Jahr haben wir eine Ausstellung zusammengestellt, die Franz Kafkas Aufenthalte in Třešť dokumentiert. Diese wird im Schlosshof gezeigt. Im Schloss erinnern wir zudem mit verschiedenen Motiven an Kafka. So nutzen wir seine Handschrift und seine Zeichnungen als Wegweiser durch das Hotel.“
Vor kurzem wurde das Schloss gründlich restauriert. Bei der Neugestaltung des Interieurs wurden auch weitere Kafka-Motive verwendet.
Fragen die Besucher, von denen ein Teil auch aus dem Ausland kommt, nach dem Zusammenhang zwischen Kafka und der Stadt? Der Hoteldirektor:
„Die Akademiker kennen natürlich Kafka und wissen meistens, dass er unsere Stadt oft besuchte. Da im Schlosshof nun die neue Ausstellung zu sehen ist, stellen uns die Gäste aber manchmal weitere Fragen, die Kafka betreffen.“
Der 100. Todestag von Franz Kafka bietet nicht nur die Möglichkeit, Kafkas Werk und Leben aus aktuellen und neuen Perspektiven zu betrachten. Alle Veranstaltungen, Ausstellungen, Vorträge, literarische Links sind auf der Website des Projekts Kafka2024 zu finden.
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