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3) Franz Kafka und sein „Mütterchen“ Prag

Im heutigen Teil unserer Serie „Auf den Spuren von Franz Kafka“ begeben wir uns einmal mehr nach Prag. Dabei verraten wir Ihnen, wo der Autor geschrieben, gewohnt und gearbeitet hat, aber auch, wo er seine Freizeit verbracht hat.

„Prag lässt nicht los. Dieses Mütterchen hat“ – Naja, Sie wissen schon – „Krallen“. Wohl kaum ein Zitat wird im Zusammenhang mit Franz Kafka und seiner Beziehung zu Prag so oft zitiert wie der Ausschnitt aus einem Brief, den der Student an seinen Freund Oskar Pollak schrieb. „An zwei Seiten“, so Kafka, müsse man Prag anzünden, „am Vyšehrad und am Hradschin“, dann gäbe es womöglich ein Loskommen.

Franz Kafka in den Jahren 1906-1908 | Foto: Po stopách Franze Kafky,  public domain

Über 120 Jahre nach dem Verfassen dieses Schreibens sind in Prag zahlreiche Plätze, Galerien und Museen nach dem weltbekannten Schriftsteller benannt. Die Spuren des Autors finden sich aber auch an eher ungewöhnlichen Orten – etwa im Botanischen Garten im Stadtteil Troja oder in der Zivil-Schwimmanstalt (Občanská Plovárna) am Ufer der Moldau unterhalb des Letná-Parks.

Im Jahr 1907, Kafka war da gerade 24 Jahre alt, trat der Schriftsteller seine erste Anstellung an. Der Arbeitsplatz befand sich in einem prächtigen Neobarock-Palais an der Ecke des Wenzelsplatzes und der Heinrichsgasse (Jindřišská). Seinen Sitz hatte hier die Prager Niederlassung der italienischen Versicherung Assicurazioni Generali.

Erste Anstellung bei Assicurazioni Generali

Judita Matyášová | Foto: Tschechischer Rundfunk

Judita Matyášová ist Journalistin und Publizistin. Mit Franz Kafkas Prag kennt sie sich aus – hat sie doch ein Buch geschrieben, dass sich mit den Reisen des Schriftstellers und auch mit seinen Lebensstationen in der tschechischen Hauptstadt befasst. Wie gelangte der junge Mann in die italienische Versicherungsanstalt?

„Die Anstellung hatte ihm einer seiner Onkel über verschiedene geschäftliche Kontakte vermittelt. Kafka sah das Ganze pragmatisch. Er war begeistert, dass die Firma ihren Sitz in Triest am Meer hatte. Und so entschied er, dass er nur strebsam genug sein und Italienisch lernen müsse, um in die Zentrale der Versicherung entsandt zu werden.“

Das Gebäude der Assicurazioni Generali steht noch immer an der Ecke des Wenzelsplatzes und der Jindřišská-Straße | Foto: Štěpánka Budková,  Radio Prague International

Doch daraus wurde bekanntermaßen nichts, denn Kafka blieb nur ein knappes Jahr in der Assicurazioni Generali. Die erlernten Italienisch-Kenntnisse konnte er dennoch gebrauchen, denn schon bald, nachdem er den Posten bekommen hatte, startete er in einen Italien-Urlaub. Unter anderem besuchte er dort eine Luftfahrtschau, die ihn derart beeindruckte, dass er darüber seine erste – und leider auch letzte – Reportage schrieb, die in der Prager Tageszeitung Bohemia veröffentlicht wurde.

Der ehemalige Prager Sitz der Assicurazioni Generali sieht heute von außen in etwa so aus, wie in jenen Zeiten, als Kafka hier ein und aus ging. Im Inneren wurde das Palais aber mittlerweile umfassend umgebaut. Noch vor Beginn der Sanierungsarbeiten hatte der Fotograf Jan Jindra die Gelegenheit, das Haus zu besuchen und auch Kafkas ehemaliges Büro abzulichten. Matyášová berichtet:

Ab dem 1. Oktober 1907 arbeitete Kafka in der Prager Filiale der italienischen Versicherungsgesellschaft Assicurazioni Generali | Foto: public domain

„Das Gebäude ist ziemlich groß; es gibt dort viele Treppen und kleine versteckte Gänge. Jan Jindra konnte Kafkas Büro anhand von dessen Aufzeichnungen identifizieren. Das war eine der wenigen Möglichkeiten, einen authentischen Ort festzuhalten, an dem Kafka tätig war. Viele weitere, auch ganz grundlegende Orte sind mittlerweile nämlich verschwunden. In Prag ist die Lage zwar noch ganz gut. Aber etwa im Zentrum von Paris, nur wenige Minuten vom Louvre entfernt, wurde vor einigen Jahren ein Hotel abgerissen, in dem Kafka einst untergebracht war. Heute steht dort ein modernes Einkaufszentrum.“

Haus Zum Schiff

Hotel InterContinental heute | Foto: René Volfík,  iROZHLAS.cz

Als Kafka seine erste Stelle antrat, lebte er mit seiner Familie im vierten Stock des Jugendstilhauses Zum Schiff. Das Gebäude befand sich im jüdischen Viertel, nur wenige Hundert Meter vom Altstädter Ring entfernt, am Ende der heutigen Pařížská, die damals noch Niklasstraße (Mikulášská) hieß. Heute deutet nichts mehr auf das Haus hin. Am Ende des Zweiten Weltkrieges wurde es nämlich während des Prager Aufstandes zerstört. An der Stelle des einstigen Hauses Zum Schiff befindet sich heute das Hotel InterContinental, das im Stil des Brutalismus errichtet wurde.

1912 schrieb Kafka in nur einer Nacht die Erzählung „Das Urteil“. Im selben Jahr entstand hier auch „Die Verwandlung“. Sie wissen schon…

​„Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.“

„Die Verwandlung“ ist laut Judita Matyášová eines der wenigen Werke Kafkas, dessen Handlung sich klar verorten lässt:

Foto: Juan Pablo Bertazza,  Radio Prague International

„Kafka wollte nie verraten, wo sich seine Geschichten abspielten. In keiner seiner Erzählungen oder Romane finden sich bis auf eine Ausnahme konkrete Ortsangaben. Der Leser weiß nicht, ob sich die Handlung in Prag, Frýdlant oder Siřem abspielt oder ganz woanders. All das bleibt seiner Fantasie überlassen. Dem deutschen Kafka-Experten Reiner Stach zufolge war die Wohnung aber wirklich der Ort, an dem sich die ‚Verwandlung‘ abspielt. Im Buch findet sich auch eine genaue Schilderung des Domizils. Es handelte sich in jedem Fall um eine große, vielgliedrige Wohnung mit zahlreichen Zimmern und einem eigenen Raum für die Dienerin. Kafka selbst blickte aus seinem Fenster auf die Moldau.“

Von dort aus sah er auf die Zivil-Schwimmanstalt, die er schon von seiner Kindheit an besuchte. Er schwamm aber nicht nur gern, sondern hatte sogar ein eigenes Ruderboot, mit dem er gern auf der Moldau fuhr, wie Judita Matyášová erinnert:

„Kafka war wirklich sehr sportlich. Viele denken ja heutzutage, er sei zeitlebens krank gewesen. Im Vergleich mit seinen Freunden, also etwa Max Brod oder Hugo Bergmann, stand er körperlich aber deutlich besser da. Er machte etwa ausgedehnte Spaziergänge, nicht nur in Prag, sondern auch über die Stadtgrenzen hinaus. Und er war ebenso anderweitig körperlich aktiv: Im Stadtteil Nusle widmete er sich bei einem Nebenjob dem Gärtnern. Zudem besuchte er das Pomologische Institut in Troja. Dass Kafka auch Gärtner war, wissen heute nur wenige. Es zeigt aber, wie breit seine Interessen gefächert waren.“

Občanská plovárna heute | Foto: Adam Čada,  Občanská plovárna

Kafka besuchte auch Nusle, Troja und Žižkov

Selbst wenn Franz Kafka heutzutage primär mit der Prager Altstadt verbunden wird, lassen sich seine Spuren genauso in anderen Vierteln der Moldaumetropole finden – außer in Nusle und Troja auch im Stadtteil Žižkov, konkreter in einer ehemaligen Asbest-Fabrik in der heutigen Straße Bořivojova.

Gebäude der Arbeiter-Unfallversicherungs-Anstalt,  Na Poříčí 7 | Foto: Štěpánka Budková,  Radio Prague International

„Kurz vor dem Ersten Weltkrieg entschied sich Kafkas Familie, die Produktionsstätte aufzukaufen. Franz sollte stiller Gesellschafter werden. Das klang interessant für ihn, denn er hätte ein regelmäßiges Einkommen gehabt und intensiver Literatur schreiben können. Dann begann aber der Krieg, und die Familienmitglieder, die die Anteile hatten, mussten einrücken. Kafka sollte nun die Aufsicht des Betriebs übernehmen, und das passte ihm gar nicht.“

Statt in der Fabrik zu arbeiten, heuerte Kafka in der Arbeiter-Unfallversicherungs-Anstalt in der Straße Na Poříčí (Am Poritsch) an. Dort habe er sich schnell den Respekt seiner Vorgesetzten eingehandelt und sei dort bis zum Ende seiner beruflichen Laufbahn geblieben, so Matyášová:

„In der Arbeiter-Unfallversicherungs-Anstalt bekam Kafka eine interessante Gelegenheit. Er hätte dort Jahre lang eine niedrigere Beamtenfunktion haben können. Aber er war Perfektionist und begann sich für das Versicherungswesen zu interessieren. Auf der Karriereleiter stieg er daher sehr schnell nach oben. Wegen seiner Leistungen vertraute man ihm die wichtigsten Landesteile an. Das waren die Gegend um Liberec und Jablonec in Nordböhmen, wo vor allem das Textilgewerbe angesiedelt war.“

Im Goldenen Gässchen

Goldenes Gässchen | Foto: Štěpánka Budková,  Radio Prague International

Einer der wohl malerischsten Orte, der in Prag mit Franz Kafka verbunden ist, ist das Haus Nummer 22 im Goldenen Gässchen auf der Prager Burg. Franz’ Schwester Ottla mietete das Gebäude 1916 an und vermietete es von Zeit zu Zeit an ihren Bruder. Entgegen der landläufigen Ansicht sei Kafka aber nicht zum Schlafen und Wohnen hierhergekommen, sondern lediglich zum Arbeiten, betont Matyášová:

„Ottla hatte einen Mann kennengelernt, die beiden waren aber noch weit davon entfernt, zu heiraten. Sich in der elterlichen Wohnung zu treffen, war selbstverständlich nicht möglich. Deshalb unterhielt sie dieses Haus, das sie Franz öfter zur Verfügung stellte. Für ihn war dieser Ort sehr wichtig, denn Kafka war lärmempfindlich, weshalb er zumeist in der Nacht schrieb. In das kleine Häuschen kam er deshalb sehr gern.“

In einem Brief an Felice Bauer schrieb Kafka einmal über das Haus:

„Heute entspricht es mir ganz und gar. In allem: der schöne Weg hinauf, die Stille dort, von einem Nachbar trennt mich nur eine sehr dünne Wand, aber der Nachbar ist still genug; ich trage mir das Abendessen hinauf und bin dort meistens bis Mitternacht; dann der Vorzug des Weges nach Hause: ich muß mich entschließen aufzuhören, ich habe dann den Weg, der mir den Kopf kühlt. Und das Leben dort: es ist etwas Besonderes, sein Haus zu haben, hinter der Welt die Tür nicht des Zimmers, nicht der Wohnung, sondern gleich des Hauses abzusperren; aus der Wohnungstür geradezu in den Schnee der stillen Gasse zu treten.“

Goldenes Gässchen | Foto: Juan Pablo Bertazza,  Radio Prague International

„Wie in Versailles“

Palais Schönborn auf der Kleinseite | Foto: Štěpánka Budková,  Radio Prague International

Als „stille Gasse“ kann man das Goldene Gässchen heutzutage kaum noch bezeichnen. Eher zutreffend ist dieses Attribut im Jahre 2024 vielleicht noch für das Palais Schönborn auf der Kleinseite. Dort hat heute die Botschaft der USA ihren Sitz. Kafka wollte im Winter 1916 eine Wohnung in dem Anwesen in der Marktgasse (Tržiště) beziehen, nach seiner Rückkehr aus München. In einem Brief an Felice schwelgte Franz nach der Besichtigung von seinem künftigen Domizil:

„Es war wie die Erfüllung eines Traumes. Ich ging hin. Zimmer hoch und schön, rot und gold, wie etwa in Versailles. Vier Fenster in einen ganz versunkenen stillen Hof, ein Fenster in den Garten. Der Garten! Wenn man in den Torweg des Schlosses kommt, glaubt man kaum, was man sieht. Durch das Halbrund des von Karyatiden flankierten zweiten Tores sieht man von schön verteilten, gebrochenen verzweigten steinernen Treppen an den großen Garten eine weite Lehne langsam und breit hinaufsteigen bis zu einer Gloriette.“

Kafkas Begeisterung währte jedoch nicht lang. Denn er bekam zwar eine Wohnung in dem prächtigen Palast aus dem 17. Jahrhundert. Es war jedoch eine andere, die deutlich kleiner war. Judita Matyášová sagt:

„Diese Wohnung war ein ungemütlicher, großer Ort mit hohen Decken. 1917 litt Kafka dann erstmals unter gesundheitlichen Problemen. Von seiner Tuberkulose-Diagnose erfuhr er während seiner Zeit in dieser Wohnung.“

Nur acht Monate lebte Kafka im Palais Schönborn, von März bis Dezember 1917. Dann zog er zurück zu seinen Eltern in das Oppelt-Haus an der Ecke des Altstädter Rings und der Pariser Straße.

Vom Kaffeehaus in die Parkanlagen

Kino Lucerna | Foto: Juan Pablo Bertazza,  Radio Prague International

Aber wo hat Kafka eigentlich seine Freizeit verbracht? Durch ein Buch von Hanns Zischler weiß man, dass Kafka gern ins Kino ging, etwa ins Ponrepo, das damals in der Karlsgasse (Karlova) angesiedelt war, oder ins Kino Lucerna. Judita Matyášová sagt außerdem:

„Was vielleicht gar nicht so bekannt ist, ist, dass Kafka überzeugter Vegetarier war. In seinen Reisetagebüchern erwähnt er häufig vegetarische Restaurants. Natürlich ging Kafka auch öfter ins Kaffeehaus. Das bekannteste ist wohl das Café Arco, unweit des heutigen Masaryk-Bahnhofs. Er besuchte aber auch das Café Louvre und weitere gastronomische Betriebe. Sich Kafka aber als einen Intellektuellen vorzustellen, der mit einem Kaffee und einem alkoholischen Getränk in einer Wirtschaft sitzt, würde in die Irre führen.“

Café Arco | Foto: Juan Pablo Bertazza,  Radio Prague International

Stattdessen habe man Kafka viel öfter in den Prager Parks antreffen können, meint Matyášová. Als er für einige Zeit in der Straße Polská im Stadtteil Vinohrady (Königliche Weinberge) lebte, die damals noch Nerudagasse (Nerudova) hieß, ging er regelmäßig im Riegerpark spazieren. Einer seiner Lieblingsorte waren zudem die Chotekanlagen in der Nähe der Prager Burg. Von dort aus hat man auch heute noch einen tollen Blick über die Goldene Stadt. Über einen seiner Spaziergänge hier schrieb Franz Kafka in seinem Tagebuch:

„In den Chotekanlagen gesessen. Schönster Ort in Prag. Vögel sangen, das Schloß mit der Galerie, die alten Bäume mit vorjährigem Laub behängt, das Halbdunkel.“

Der 100. Todestag von Franz Kafka bietet nicht nur die Möglichkeit, Kafkas Werk und Leben aus aktuellen und neuen Perspektiven zu betrachten. Alle Veranstaltungen, Ausstellungen, Vorträge, literarische Links sind auf der Website des Projekts Kafka2024 zu finden.

Kafka 2024 | Foto: Adalbert Stifter Verein
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  • Auf den Spuren von Franz Kafka

    Wo ist der weltberühmte Schriftsteller aufgewachsen und wo hat er seine Ferien verbracht? Welche Orte haben ihn inspiriert? Und wie war Kafka in natura?