„Musica non grata“ in Prag: Was bleibt danach?
„Musica non grata“ war ein großangelegtes Projekt des Prager Nationaltheaters, das von 2020 bis 2024 Werke von Komponistinnen und Komponisten aufleben ließ, die in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit lebten und vom NS-Regime verfolgt wurden. Alexander Zemlinsky, Arnold Schönberg, Jaromír Weinberger, die „Theresienstädter Komponisten“, aber auch etwa die Komponistinnen Vítězslava Kaprálová und Ilse Weber, deren Lieder von der Sopranistin Kateřina Kněžíková bei der Abschlussfeier am Montag in der deutschen Botschaft in Prag vorgetragen wurden… Ein Team unter der Leitung des norwegischen Filmemachers Stein-Roger Bull hat den Verlauf und die Höhepunkte des Vorhabens über die vier Jahre hinweg verfolgt und in einem Dokumentarfilm festgehalten. Die Premiere des Streifens bot nun die Gelegenheit zurückzublicken und Bilanz zu ziehen. RPI hat bei diesem Anlass den deutschen Botschafter in Prag, Andreas Künne, und den künstlerischen Leiter der Opernensembles des Nationaltheaters und der Staatsoper Prag, Per Boye Hansen vors Mikrophon gebeten.
Herr Künne, Sie haben heute zu einer Feier in die deutsche Botschaft eingeladen. Was ist der Anlass?
„Der Abschluss von vier Jahren ‚Musica non grata‘. Das war ein überaus erfolgreiches Projekt, das wir gemeinsam mit der Staatsoper und dem Nationaltheater durchgeführt haben – vier Jahre, in denen wir gefördert haben, über 46 Opern, Operetten und andere Stücke aufzuführen. Wir haben in über 150 Aufführungen 50.000 Zuschauer erreicht. Unser zentrales Ziel war, dass wir an die Musik derjenigen Komponistinnen und Komponisten erinnern, die von den Nationalsozialisten verfolgt wurden und denen unglaubliches Unrecht widerfahren ist. Und dass wir auch ihre Stücke, die oft an den Rand gedrängt worden und gar nicht wieder aufgeführt worden sind, wieder in ihre Heimat zurückbringen, nämlich nach Prag.“
Zurück auf der Karte der europäischen Opernhäuser
Wenn Sie jetzt die Möglichkeit haben, nach vier Jahren zurückzublicken, denken Sie, dass das Projekt die ursprünglichen Erwartungen erfüllt hat?
„Oh ja, unbedingt. Allein schon die Zuschauerresonanz war überwältigend. Und es waren ja viele Stücke dabei, wenn man ehrlich ist, die nicht so ganz im Mainstream liegen. Manche waren auch durchaus schwierig aufzuführen. Und da war die Resonanz des Publikums umso schöner. Auch das Medieninteresse war sehr groß, es gab hunderte von Artikeln in führenden deutschen Zeitungen. Ich glaube, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung stand, dass Prag wieder zurück auf der Karte der europäischen und deutschsprachigen Opernhäuser ist. Also ich glaube, in diese Richtung haben wir auf jeden Fall das erreicht, was wir wollten. Aber auch die wiedergewonnene Aufführungspraxis hat viel gebracht – dass Stücke, die wirklich stellenweise hundert Jahre lang nicht aufgeführt worden sind, wieder zugänglich gemacht wurden. Dazu gehört auch ein wissenschaftliches Projekt, das sehr erfolgreich war, in dem die Partituren wiederhergestellt wurden. Oder etwa ein großartiges Projekt, die ‚Terezín Summer Academy‘, in der jeden Sommer junge Studierende aus Europa zusammenkommen, um Werke einzustudieren unter der Leitung von bekannten, erfolgreichen Dirigenten und Kapellmeistern, die auch lange nicht aufgeführt worden sind. Und dieses Projekt übrigens wird auch fortgeführt.“
Sie erwähnen die wissenschaftliche Arbeit. Ist sie ein gemeinsames Projekt der deutschen und der tschechischen Wissenschaftler? Oder wer hat sich an dieser Edition und an den weiteren wissenschaftlichen Beiträgen beteiligt?
ZUM THEMA
„Es war wirklich ein gemeinsames Projekt und es war auch ein internationales Projekt. Also das ging nicht entlang von nationalen Linien, sondern das ging entlang des wirklich musikwissenschaftlichen Interesses. Es gab manche Stücke, deren Partituren nicht mehr erhalten waren, oder von denen es sehr viele verschiedene Fassungen gab, die zusammengesucht werden mussten. Manches war mit deutschen Libretti, manches mit tschechischen. Bei manchem wusste man nicht so ganz genau, welche eigentlich die Fassung ist, die am ehesten an der damaligen Aufführungspraxis lag. Und das war eine internationale Zusammenarbeit, die sich, wie gesagt, eher an der Sache orientiert hat als an den Nationen.“
Sie haben als deutscher Botschafter viele der Veranstaltungen miterleben können. An was denken Sie, wenn man „Musica non grata“ sagt? Was ist Ihre persönliche Erinnerung an die ganze Veranstaltungsreihe?
„Also einmal großartige, rauschende Musikerlebnisse in der Staatsoper. Eines der Highlights war aber auch die ‚Terezín Summer Academy‘, in der ein Jazz-Oratorium aufgeführt wurde. Jazz und Oratorium, das ist eigentlich hoch ungewöhnlich. Die Begeisterung, mit der die jungen Musikerinnen und Musiker das aufgeführt haben und auch die Präzision und Professionalität, das war wirklich beeindruckend. Aber auch Opern wie ‚Der Kaiser von Atlantis‘ waren toll. Unglaublich aktuelle, erschreckend aktuelle Stücke. Die haben einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen.“
Schmelztiegel der deutschen, tschechischen und jüdischen Kultur
Das Projekt ist vor einem halben Jahr zu Ende gegangen. Was bleibt davon?
„Also ich glaube, einmal bleibt, dass diese Stücke jetzt im Repertoire sind. Viele der Stücke sind im Repertoire der Staatsoper. Es bleibt auch die wissenschaftliche Aufbereitung. Die Stücke sind verfügbar. Es bleibt ein sehr stark gewachsenes öffentliches Interesse an diesen Stücken und auch eine andere Art Zugänglichkeit. Zudem ist da die ‚Terezín Summer Academy‘, die jetzt mit anderer Förderung weitergeführt wird. Und es bleibt, glaube ich, die ganze Generation von Künstlerinnen und Künstlern, die sich zum ersten Mal mit Werken beschäftigt haben, die ihnen vorher völlig unbekannt waren. Außerdem wurde in Deutschland und ich glaube auch in Tschechien wieder ein wenig mehr Bewusstsein dafür geweckt, dass Prag wirklich ein Schmelztiegel der deutschen, tschechischen und jüdischen Kultur in den 1920er Jahren war.“
Herr Hansen, wir haben uns heute bei einem besonderen Anlass in der deutschen Botschaft getroffen. Was wird hier heute gefeiert?
„Wir werden heute Abend zum ersten Mal einen Dokumentarfilm zeigen, einen Film über das Projekt ‚Musica non grata‘. Das war ein vierjähriges Projekt, das großzügig von der deutschen Botschaft und vom deutschen Außenministerium unterstützt worden ist. Wir haben über diese Zeit hinweg viele Werke, viele Opern von Komponisten aufgeführt, die von den Nazis verfolgt wurden. Wir haben eine Zeit wiederbelebt und uns inspirieren lassen von diesen wunderbaren 1920er, 1930er Jahren. Daraus ist ein Dokumentarfilm entstanden und dieser wird heute zum ersten Mal öffentlich gezeigt.“
Diese Premiere des Dokumentarfilms gilt auch als eine Abschiedsfeier des ganzen Zyklus, der im Frühjahr dieses Jahres zu Ende ging…
„Ja, wir hatten schon ein großes Abschlusswochenende Anfang April. Da war auch der Bundespräsident, Frank-Walter Steinmeier, anwesend. Das war sehr grandios, muss ich sagen. Wir haben auch mit dem Orchester und dem Chor eine große Abschlussfeier gemacht. Das Treffen jetzt im Nachhinein dient eher dem Rückblick. Ich denke, dass wir von dem Projekt so inspiriert worden sind, dass es auch in der Zukunft ähnliche Programme geben wird.“
Sie haben im Frühjahr gesagt, Sie hoffen, dass dieses Projekt ein Keim ist, aus dem in der Zukunft etwas Größeres wachsen wird. Zeigt sich schon etwas, was schon am Wachsen ist?
„Ob etwas Größeres weiß ich nicht, denn es war schon sehr umfangreich. Wir haben sieben große Opern aufgeführt, viele Konzerte, es gab Symposien und so weiter. Aber es gibt schon Projekte, die aus ‚Musica non grata‘ entstanden sind. Wir haben etwa junge Künstler aus Deutschland und Tschechien zusammengeholt. Und das Projekt wird auch in Zusammenarbeit mit den Dresdner Festspielen weitergeführt. Und wie gesagt, auch unsere Programmgestaltung wird in der Zukunft aus dem Musica-non-grata-Projekt zehren.“
Wagners „Ring“ als Nachfolge
Das Projekt „Musica non grata“, mit dem Sie eigentlich als Opernchef nach Prag gekommen sind, ist zu Ende. Sie bleiben weiterhin in Prag, im Nationaltheater, in der Staatsoper. Wollen Sie daran irgendwie anknüpfen?
„Wie bereits gesagt, soll es entsprechende Programme geben. Wir haben aber auch Neues vor. Durch die Arbeit an ‚Musica non grata‘ ist mir bewusst geworden, dass die Staatsoper nur von jüdischen Direktoren geführt wurde. Mit Angelo Neumann angefangen, bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges oder zur Annektierung 1938. Und sie alle waren Wagnerianer. Daraus haben wir jetzt auch den Mut geholt, zum ersten Mal seit 1924 den ‚Ring‘ aufzuführen. Damals wurde er zum ersten Mal in Prag von Alexander Zemlinsky aufgeführt. Seitdem gab es zwar einige Aufführungen, aber keine, die in Tschechien entstanden sind. Wir werden im nächsten Jahr an der Arbeit mit dem tschechischen ‚Ring‘ beginnen. Es ist ein dreijähriges Projekt. Wir fangen mit dem ‚Rheingold‘ in 2026 an und werden dann den gesamten Zyklus voraussichtlich im Juni 2028 zu Ende bringen.“
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