Ostrauer Pfadfinder im Widerstand: Nazi-Terror und kommunistische Schikanen
Im April 1945 kündigte sich bereits das Ende des Zweiten Weltkriegs an. Dennoch mussten noch viele Menschen sterben, so etwa Dutzende Mitglieder der illegalen Bewegung „Schlesischer Widerstandskampf“ in Nordmähren. Zu ihnen gehörten auch Pfadfinder aus Moravská Ostrava / Mährisch Ostrau. Seit 69 Jahren erinnert an sie ein ungewöhnliches Denkmal in den nahe der Stadt gelegenen Beskiden. An jedem Jahrestag ihrer Ermordung pilgern hunderte Menschen zu dem Gedenkort, und zwar sowohl Mitglieder von Kinder- und Jugendorganisationen der Pfadfinder, aber auch Tramps oder einfach nur Wanderer. Viele haben dabei einen oder mehrere Steine im Rucksack. Zu kommunistischen Zeiten war dies jedoch ein gefährliches Unterfangen.
Borák zufolge schlossen sich die Ostrauer Pfadfinder Ende 1943 der Widerstandsbewegung in der Region an. Das heißt, sie unterstützten nun Familien von verhafteten Widerstandskämpfern und besorgten Kleidung, Nahrungsmittel und Medikamente für Personen, die sich im Untergrund versteckten. Später wurden auch Kontakte zu Partisanen geknüpft, die in den nordmährischen Mittelgebirgen operierten.
Die tschechische Pfadfinderbewegung war 1914 entstanden und wurde während des Krieges aber von den Nationalsozialisten verboten. Vladimír Čermák umging das Verbot jedoch und richtete die Tätigkeit der Ostrauer Pfadfinder neu aus.„Er baute die illegale Gruppe in einer Weise auf, dass sie den Widerstandskampf hätte wirkungsvoll und koordiniert bis zum Kriegsende führen können. Der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit lag in der Vorbereitung auf einen bewaffneten Aufstand in der Schlussphase des Krieges. Hierfür brauchte man Waffen. Die Ostrauer Pfadfinder versuchten daher, Kontakte zu anderen ähnlich orientierten Gruppen zu knüpfen. Gerade das aber wurde ihnen zum Verhängnis“, so Historiker Borák.
Massengräber auf dem städtischen Friedhof
Bei der Kontaktsuche stießen sie auf vermeintliche Widerstandskämpfer, die sich später als Gestapo-Zuträger entpuppten. Einem von ihnen gelang es beim Treffen in einer Gastwirtschaft, den Ausweis des Untergrundaktivisten Milan Rotter zu stehlen:„Die wirkliche Katastrophe kam aber ungefähr zwei Monate später. Selbst der Gestapo-Kommissar Wagner, der die Ermittlungen in Ostrau führte, schrieb in einem Protokoll, dass man das Netz der Ostrauer Widerstandskämpfer wahrscheinlich gar nicht aufgedeckt hätte, wenn es nicht zu einem Zufall gekommen wäre. Vier oder fünf Männer der Pfadfindergruppe trafen sich zu Ostern 1945 in den Beskiden, um mit ihnen bekannten Förstern den geplanten Umzug der gesamten Gruppe auf eine Geheimbasis im Gebirge zu besprechen. Am 3. April kehrten sie nach Ostrau zurück. An diesem Tag erkannte der Gestapo-Zuträger Kohoutek, begleitet von einem anderen Spitzel, den mittlerweile gesuchten Widerstandskämpfer Milan Rotter auf der Straße. Rotter wurde auf der Stelle verhaftet.“
In der folgenden Nacht wurden weitere 35 Widerstandskämpfer und ihre Familienangehörigen verhaftet. Die Verhaftungswellen dauerten bis zum 20. April. Mečislav Borák:„Der letzte Akt des Dramas spielte sich auf einem alten Friedhof auf der polnischen Seite des geteilten Těšín ab. Die Stadt sowie die gesamte Teschener Region gehörten während des Krieges zum Deutschen Reich. Die Verhaftungen verliefen etappenweise, jeweils in der Nacht. Nach brutalen Verhören wurden die Verhafteten nach und nach aus Ostrau nach Těšín transportiert. Im städtischen Friedhof ließen die Nationalsozialisten Massengräber ausheben, dort wurden die Verhafteten mit Schüssen in den Nacken exekutiert.“
Der Teschener Friedhof befand sich am Rand der Stadt. Das war nach Boráks Meinung auch der Grund, warum die Hinrichtungen gerade dort auf Beschluss des Ostrauer Gestapochefs Lehmann vollstreckt wurden. Die ersten fanden am frühen Morgen des 24. April statt, die letzten am 30. April oder am 1. Mai. Zu dieser Zeit wurde Ostrau gerade von der Sowjetarmee befreit. Während der am 13. Juni eingeleiteten Exhumation wurden insgesamt 81 Körper in 23 Gräbern gefunden. Unter ihnen waren auch 18 ehemalige Pfadfinder aus Ostrau.Vorladung vom Schulrektor
An die Ereignisse vor 70 Jahren erinnert heutzutage das Ivančena-Mahnmal am Fuß des höchsten Gipfels der Beskiden, Lysá hora (Kahlberg). Im Lauf der Zeit hat sich das anfangs kleine Mahnmal in ein Megadenkmal aus vielen Tausenden kleinen und großen Steinbrocken verwandelt. Bald nach seiner Entstehung wurde es für viele Menschen hierzulande allgemein zu einem Symbol von Tapferkeit und Widerstand. Das galt aber nicht nur für die nationalsozialistische, sondern allgemein für jede Unterdrückung. So war es auch zu Zeiten des kommunistischen Regimes in der Tschechoslowakei, denn ab 1948 waren die traditionellen Pfadfinderorganisationen sowie das hierzulande beliebte Tramping erneut verboten. Schon damals unternahmen viele Natur- und Wanderfreunde am Jahrestag der Tragödie vom April 1945 eine Bergtour zum Ivančena-Denkmal. Meist geschah dies im Beisein von uniformierten Polizisten und Angehörigen der Geheimpolizei (StB). Rostislav Kašovský vom „Tschechischen Wanderverein“ hat dies als Schüler mehrmals erlebt:„Am Wochenende jeweils um den 24. April herum versammelten sich in der Regel viele Menschen am Denkmal. Doch nicht nur das Gelände selbst, an dem Wanderrouten zum Lysá-Berggipfel vorbeiführen, wurde von Polizisten observiert. Ich bin mit meinen Freunden schon am Bahnhof von Ostrau mehrmals in eine Polizeikontrolle geraten. Aber auch anderswo auf dem Weg, zum Beispiel in Frýdlant nad Ostravicí, wo unsere Wanderung in der Regel begann. Unter anderem wurden die Steine beschlagnahmt, die wir zum Denkmal hinauftragen wollten. Manchmal haben wir versucht, die Polizei zu überlisten, wir haben zum Beispiel unsere Fahrkarten an einer etwas weiter entfernten Bahnstation gekauft, um von dort auf Umwegen zum Ziel zu gelangen. Trotz diverser Tricks ließ sich nicht immer vermeiden, dass eine polizeiliche Anzeige in unserer Schule flatterte. Dann wurden wir vom Schulleiter vorgeladen und mussten erklären, was wir am besagten Tag ausgerechnet am Berg Lysá hora zu tun hatten. Das war eine Art Schikane des sozialistischen Staates.“ Erst nach der politischen Wende von 1989 änderte sich dies. Und die Tradition der Beskiden-Bergtour lebt weiter. Dem Ivančena-Denkmal droht allerdings seit einigen Jahren der Zerfall. Die Masse der Steine, die jahrzehntelang im Großen und Ganzen frei aufeinandergeschichtet wurden, ist instabil und daher gefährlich. Seit 2013 läuft unter den Mitgliedern der tschechischen Pfadfinderorganisation „Junák“ daher eine Geldsammlung, um den Steinriesen durch eine umfassende Restaurierung zu retten. Kryštof Hyvnar, Vizevorsitzender des Junák-Kreisrates:„Zunächst muss Stein für Stein abgetragen werden, dann kann wieder neu aufgebaut werden. Der siegreiche architektonische Entwurf sieht ein System von Kaskaden vor, die sich an das Terrain anpassen und am oberen Ende zusammenlaufen. Trotz einiger Kritik sind wir überzeugt, dass das restaurierte Mahnmal würdevoller und monumentaler wirken wird. Die gewählte Variante respektiert die Natur, befestigt den Berghang und ermöglicht, das Monument durch das Draufschichten von Steinen auch in den kommenden Jahren weiter wachsen zu lassen.“
Bei der Demontage des Denkmals, die im Mai beginnen soll, werden die Pfadfinder auch sehr wertvolle und interessante Steinstücke aus verschiedenen Teilen der Welt in die Hand nehmen können. Eines stammt zum Beispiel von der Küste der Normandie, wo im Juni 1944 die US-amerikanische Marine ihre Kriegsoperation startete. Ein Stein stammt sogar aus dem Weltall. Es handelt sich um ein Geschenk des amerikanischen Astronauten Neil Armstrong, der als erster Mensch den Mond besuchte. Am 6. Oktober 2016 soll auf Ivančena der 70. Geburtstag des ungewöhnlichen Beskiden-Monuments gefeiert werden – und das mit einer neuen Gestalt des Denkmals.