Stressfaktor Arbeit: In Tschechien sind immer mehr Frauen in hoher Position alkoholkrank
Viele Menschen in Tschechien trinken nun schon seit drei Wochen freiwillig keinen Alkohol. Der sogenannte „Suchej únor“, also der „trockene Februar“, hat sich hierzulande als fester Termin und willkommene Gelegenheit zur Entgiftung etabliert. Dahinter steht eine gut organisierte Kampagne, die bereits zum zehnten Mal durchgeführt wird. Sie setzt nicht nur auf Enthaltung, sondern auch auf Prävention und Aufklärung zum Thema Alkoholmissbrauch. Dieser betrifft in Tschechien immer mehr Frauen.
Anderthalb Millionen Menschen in Tschechien konsumieren Alkohol in bedenklichem Maße. Und etwa 900.000 von ihnen trinken in schädlichen Mengen. Das besagen die aktuellen Daten des Nationalen Beobachtungszentrums für Drogen und Abhängigkeit. Der Suchtforscher und Psychotherapeut Ondřej Sklenář ist täglich mit den negativen Folgen dieser Statistik befasst. Er leitet die gemeinnützige Organisation Magdaléna, die in Prag und im Kreis Mittelböhmen mehrere Therapieeinrichtungen betreibt. Deren Klienten teilen sich nach Sklenářs Worten wie folgt auf:
„Ganz klar dominiert Alkohol. Und die zweite große Gruppe sind Menschen, die von illegalen Drogen abhängig sind. In unseren Praxen ist das Verhältnis so, dass von zehn Patienten sechs bis sieben Alkoholiker sind. Einer ist spielsüchtig, und die restlichen sind drogenabhängig.“
Dass Alkoholsucht in Tschechien ein solch verbreitetes Phänomen ist, kommt nicht von ungefähr. Hierzulande herrsche eine Kultur des Alkohols und damit verbunden eine hohe Toleranz für das Trinken, sagt Sklenář. Prozenthaltige Getränke würden überall angeboten, bei Kultur- oder Sportveranstaltungen, auf der Arbeit oder bei Privatfeiern. Das kann Josef Novotný nur bestätigen. Er arbeitet in der Caritas-Einrichtung „Následná péče“ (Nachbehandlung) im südböhmischen Jihlava / Iglau. Nach seinen Worten wird schon Kindern ein positives Verhältnis zum Alkohol anerzogen…
„Das hängt damit zusammen, dass Alkohol eine gesellschaftliche Norm ist. Jeder von uns hat erlebt, dass die Eltern oder der Opa uns am Bier haben nippen lassen. Das ist etwas Normales, das aber ausarten kann“, so Novotný.
Corona-Zeit verstärkt die Probleme
Wer es nicht ausarten lassen will, beteiligt sich in Tschechien an der alljährlichen Aktion „Suchej únor“. Für den gesamten Monat Februar heißt es dann: Hände weg vom Alkohol. 2021 nahmen etwa 700.000 Menschen teil, also mehr als zehn Prozent der erwachsenen Bevölkerung des Landes. Eine nachfolgende Umfrage ergab, dass jeder Zweite danach seinen üblichen Alkoholkonsum dauerhaft einschränkte.
Ist das Trinken bereits zur Sucht geworden, klappt es mit der freiwilligen Abstinenz allerdings nicht mehr. Mit diesem Problem haben hierzulande immer mehr Frauen zu kämpfen. Während der Pandemie habe die Zahl der Alkoholikerinnen deutlich zugenommen, berichtet Ondřej Sklenář:
„In den vergangenen beiden Corona-Jahren hat sich die Zahl unserer Klientinnen, aber auch der Klienten erhöht. Diese Zeit hat meiner Ansicht nach die Probleme von Frauen und die psychischen Belastungen bei ihnen noch einmal ansteigen lassen. Von ihnen bekommen wir immer mehr Anträge auf eine Behandlung, und sie sorgen bei uns für volle Wartezimmer. In unserer Prager Praxis sind wir schon gar nicht mehr in der Lage, neue Patienten aufzunehmen. Das gab es in den vergangenen zehn Jahren nicht mehr.“
Nach Untersuchungen der Suchtklinik am Universitätskrankenhaus Prag trinkt jede Tschechin im Schnitt sechs Liter reinen Alkohol pro Jahr. Langfristig passt sich das Verhältnis von männlichen und weiblichen Alkoholkranken kontinuierlich an. Noch in den 1980er Jahren lautete es 10:1, aktuell liegt es bei 4:1.
„Die Erfahrungen unserer Streetworker oder unserer Ambulanzmitarbeiter sind die gleichen. Ich würde sogar sagen, dass sich das Geschlechterverhältnis noch weiter angenähert hat, als dies die Statistiken besagen. Bei uns liegt es jedenfalls höher. Von zehn Klienten sind sechs Männer und vier Frauen. Diese holen den Status der Männer auf, was das Trinken angeht. Ebenso holen sie auch auf bei der Zahl der Anträge auf medizinische Hilfe, die in unseren Praxen eingehen“, so der Suchtforscher.
In der Analyse dieses Trends geht Sklenář zeitlich noch weit vor die Corona-Pandemie zurück:
„Ich persönlich beobachte eine dramatische Entwicklung seit der Samtenen Revolution und den damaligen großen gesellschaftlichen Veränderungen. Frauen gelangen seitdem in Positionen, in denen sie früher nicht gearbeitet haben. Viele unserer Klientinnen sind sehr gebildet und ambitioniert, sie nehmen in der Arbeit hohe Funktionen ein. Das bedeutet einen enormen Druck. Diesen erlegen sie sich häufig selbst auf, aber er geht auch deutlich von der Gesellschaft aus. Eine gute Managerin oder Ärztin zu sein und gleichzeitig auch noch eine gute Mutter und Ehefrau – das wird für viele von ihnen zu einer unerfüllbaren Aufgabe.“
Der Beruf als Stressfaktor, der mit Alkohol bewältigt wird, oder auch das Arbeitsteam als geselliges Umfeld, mit dem gern etwas getrunken wird – dies sind die verschiedenen Aspekte eines Bereichs, der beim aktuellen Jahrgang des „Suchej únor“ besonders im Fokus steht. Jedes Jahr hat die Kampagne ein Schwerpunktthema, und dieses Mal ist es der Arbeitsplatz. Petr Freimann ist Koordinator der Kampagne:
„Unser Ziel ist es, den Mitarbeitern in den Personalabteilungen oder auch den Teamleitern dabei zu helfen, mit ihren Kollegen über das Thema Sucht reden zu können. Sollten sie auf entsprechende Probleme in ihrer Firma treffen, geben wir ihnen Instrumente an die Hand, besser damit umzugehen.“
Den Beruf in Frage stellen
Sei eine Frau von ihrem Beruf derart überlastet, dass daraus eine Alkoholabhängigkeit entsteht, könne eine Behandlung mitunter auch dazu führen, dass der Job aufgegeben werde, sagt Sklenář:
„Häufig ist es notwendig, das eigene Leben zu überdenken und die Prioritäten neu zu bewerten. Dabei kann es passieren, dass die Frau zu dem Schluss kommt, dass sie etwas ändern muss. Und das kann auch der Beruf sein. Dies ist nicht immer notwendig, aber solch ein Moment kann durchaus eintreten.“
Nicht immer müsse die Betroffene dabei auch den Grund für ihre Kündigung offenlegen, so der Therapeut weiter. Die Frage, in welchem Ausmaß eine alkoholkranke Frau ihr Umfeld über eine laufende Behandlung informieren sollte, sei schwierig und könne nicht eindeutig beantwortet werden.
„Alkoholismus bei Frauen war lange ein Tabuthema. Viele Frauen schämen sich für ihre Abhängigkeit und verstecken sie. Wenn sie den Mut zu einer Therapie finden und damit offener umgehen, stellt sich die Frage, wie sehr sie die Wahrheit nach außen tragen sollten. Natürlich ist es wichtig, dass die engste Familie Bescheid weiß. Ich denke aber nicht, dass es notwendig ist, jeden im Umfeld einzuweihen“, erläutert Ondřej Sklenář.
Die Familie spielt bei den Therapien, die die Organisation Magdaléna anbietet, oft eine aktive und grundlegende Rolle. Zumeist findet die Behandlung als Kombination von Einzelsitzungen und Familientherapie statt. Alkoholismus wirke sich nämlich schnell und hart auch auf die Angehörigen aus, weiß Sklenář. Deswegen könne die Ehefrau und Mutter davon nicht einfach herausgelöst werden:
„In unserer Klientin findet eine echte Umwandlung statt. Dies verweist auf die Bedeutung der Familientherapie. Denn wenn eine solche Veränderung der Frau in der Abgeschiedenheit abläuft und sie dann nach Hause zurückkehrt, würde sich die Familie wundern, wer denn da wiederkommt. Das könnte sie angenehm oder auch unangenehm überraschen. Wenn aber die Familie Teil der Therapie ist, ist sie auch Teil der Veränderung, die dann gemeinsam stattfindet.“
Die Alkoholkrankheit von Frauen wirkt sich aber nicht nur auf die bestehende Familie aus, sondern beeinträchtigt auch die künftigen Mitglieder. Alljährlich werden in Tschechien etwa 300 Kinder mit schwerwiegenden Gesundheitsschäden geboren, die auf einen übermäßigen Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft zurückzuführen sind. Die Folgen sind dauerhafte Schäden des Nervensystems, deformierte Gesichtszüge oder Wachstumsstörungen. In vielen Fällen handle es sich um das Fetale Alkoholsyndrom, so die Angaben des Zentrums zur Unterstützung der öffentlichen Gesundheit, das beim staatlichen Gesundheitsinstitut angesiedelt ist. Diese angeborenen Krankheiten sind nicht heilbar. Darum warnen die Experten, dass es keine noch so kleine Menge an Alkohol gibt, die in der Schwangerschaft oder auch in der Stillzeit als ungefährlich gelten würde.