Tiefe Wunden, über 600 Jahre Geschichte: Das südliche Erzgebirgsvorland und der Braunkohlebau

In Nordböhmen wird seit mehr als 600 Jahren Braunkohle abgebaut

Die Landschaft südlich des Erzgebirges ist gezeichnet von den gewaltigen Eingriffen des Menschen. Hier liegt das größte Braunkohlevorkommen Tschechiens. Vor über 600 Jahren bereits wurde mit der Förderung des Rohstoffes begonnen. Doch erst der Tagebau ab Mitte des 20. Jahrhunderts hat die Gegend unwiderruflich geprägt.

Braunkohletagebau Lom ČSA | Foto: Jan Bachorík,  Tschechischer Rundfunk

Riesige Schaufelbagger schlucken Tonnen brauner Erde – das ist derzeit noch so im Braunkohletagebau Lom ČSA unterhalb der Ortschaft Horní Jiřetín / Obergeorgenthal am Südhang des Erzgebirges. Doch Ende kommenden Jahres soll Schluss sein, weil das Förderlimit dann erreicht ist – und weitere Gemeinden verschwinden müssten, um den Tagebau noch aufrechterhalten zu können. Dabei handelt es sich den eigenen Angaben nach um das ertragreichste Braunkohlerevier in Europa.

Der Tagebau Lom ČSA erstreckt sich über eine Fläche von 45 Quadratkilometern. Die Pläne zur Rekultivierung liegen schon längst in den Schubladen. So soll hier ein großer See entstehen, aber auch landwirtschaftlich genutzte Flächen und nicht zuletzt naturnahe Gebiete. Und die Energie soll nicht mehr von fossilen Energieträgern kommen, sondern von erneuerbaren…

„Diese Gegend ist auf jeden Fall geeignet für Solarenergie – sie soll mit der Nutzung von Akkumulatoren kombiniert werden. Zudem wollen wir damit grünen Wasserstoff produzieren, das sind unsere Prioritäten“, sagt Petr Lenc, der Generaldirektor für Braunkohleförderung beim Betreiber Severní energetická, kurz Sev.en.

Ein grosser Teil der Gruben bei Horní Jiřetín wird geflutet | Visualisierung:  Sev.en Energy

Bergleute aus Meißen

See bei Most | Foto: Jan Bachorík,  Tschechischer Rundfunk

Die Zukunft des Braunkohlereviers im südlichen Vorland des Erzgebirges soll also grün sein. Denn Tschechien will bis 2033 ganz aus der Kohleförderung aussteigen. Das würde bedeuten, dass in Nordwestböhmen über 600 Jahre Geschichte zu Ende gehen. Denn seit dem Spätmittelalter ist die Förderung von Kohle in der Gegend belegt. Zbyněk Jakš hat früher selbst im Tagebau gearbeitet. Heute leitet er das Technische Museum des Erzgebirgsvorlandes in der Stadt Most / Brüx und schilderte in den Inlandssendungen des Tschechischen Rundfunks:

„Die älteste Erwähnung des Bergbaus im böhmischen Kohlerevier stammt von 1403. Es handelt sich um einen Eintrag in der Stadtchronik von Duchcov. Demnach verkaufte am 16. Mai des Jahres der Bürger Mstislav seinen Anteil an der Grube in der Gemeinde Grünwald an eine Gruppe Bergleute aus Meißen für vier Schock Groschen. Die nächste Erwähnung stammt von 1550. Damals beklagte Bohuslav Felix von Hassenstein und Lobkowitz, der Hauptmann von Sankt Joachimsthal, gegenüber dem böhmischen Statthalter, Erzherzog Ferdinand von Tirol, dass es in den Kreisen Saaz, Leitmeritz und Schlan vielerorts an Holz fehle. Und er kündigte an, dort eine neuartige Grube für Steinkohle zu bauen.“

Bohuslav Felix von Hassenstein und Lobkowitz bat Erzherzog Ferdinand daher darum, dass dieser bei seinem Vater, König Ferdinand I., ein gutes Wort für die Erteilung des benötigten Bergrechts einlegen möge. Das gelang, und am 1. August 1550 wurde das entsprechende Privileg ausgesprochen.

See Milada,  wo die Gemeinde Vyklice war | Foto: Jan Beneš,  Tschechischer Rundfunk

Wie die Kohleförderung damals aussah, ist allerdings nicht bekannt. Erst rund 200 Jahre später gab das Bergamt in Vyklice / Wiklitz einen entsprechenden Bericht heraus. Dieser erschien 1740 und belegt die Förderung an den nordböhmischen Orten Všestudy / Puschenplez und Varvaržov / Arbesau.

Zunächst wurde die Kohle oberirdisch abgebaut. Das heißt, dass dort, wo die Kohleflöze an die Oberfläche kamen, Steinbrüche entstanden. Erst später ging man unter die Erde und brachte den begehrten Rohstoff aus den Stollen ans Tageslicht. Aber wofür wurde die Kohle verwendet?

„Früher wurde zwar mit der Kohle in kleinerem Umfang auch schon geheizt. Aber hauptsächlich wurde sie verbrannt, um mit der Asche die Felder zu düngen. 1805 wurde das Verbrennen der Kohle zu diesem Zweck hierzulande allgemein verboten, denn man wollte sie als Brennstoff verwenden. Dafür musste der Rohstoff aber an die Bestimmungsorte transportiert werden. Als die Elbe für den Transport der Kohle nach Deutschland freigegeben wurde, gab es um 1830 den ersten Förderboom. Noch wichtiger wurde aber die Inbetriebnahme der Aussig-Teplitzer Eisenbahn im Jahr 1852. Bahngleise wurden damals vor allem wegen des Transports der Kohle verlegt. Das war der Auftakt zum Abbau im großen Stil“, so Jakš.

Foto: Tomáš Adamec,  Tschechischer Rundfunk

Schwimmsandkatastrophe von Brüx

Illustrationsfoto: hangela,  Pixabay,  Pixabay License

In der Erde des südlichen Erzgebirgsvorlandes musste man nur etwas graben, und schon stieß man auf Braunkohle. Über die Schiene wurde der Brennstoff dann an die Elbe gekarrt. Rund um Sokolov / Falkenau, Most / Brüx, Teplice / Teplitz und Ústí nad Labem / Aussig entstanden kleine Steinbrüche und unterirdische Stollen.

Doch die Arbeit unter Tage war in dieser Gegend wegen der geologischen Begebenheiten extrem gefährlich. Zbyněk Jakš erläutert:

„Die Flöze in den Stollen waren teils 20 bis 30 Meter hoch. Wurde die Kohle abgebaut, entstanden Hohlräume. Und in die drohte immer sogenannter Schwimmsand einzusickern, also sehr feiner, wassergetränkter Sand. Dadurch kam es dann zu Erdeinbrüchen an der Oberfläche.“

Das war auch die Ursache für die Katastrophe von Brüx in der Nacht vom 19. zum 20. Juli 1895. Der Journalist Max Winter schrieb in der Arbeiter-Zeitung vom 24. Juli 1895:

Immer stärker wurde die Strömung des tückischen Elements unter der Erde; der Boden, worauf die Häuser stehen, wurde völlig unterwaschen und stürzte ein, die Häuser mit sich reißend.

„In einem Schachte der Brüxer Bergbaugesellschaft sind die Erdschichten oberhalb einer am Freitag abgebauten Stelle ins Rutschen gerathen, und in die durch Lostrennung entstandene Öffnung strömte der in der Gegend häufig vorkommende Schwimmsand ein. Durch diese eine Stelle geriethen die Sandschichten in der Umgebung in Bewegung, der Untergrund der nächsten Straße gerieth ins Wanken, es bildeten sich große Erdeinrisse, welche den Einsturz von Häusern bewirkten, indem sie die Tragfähigkeit des Bodens unterhöhlten. Immer stärker wurde die Strömung des tückischen Elements unter der Erde; der Boden, worauf die Häuser stehen, wurde völlig unterwaschen und stürzte ein, die Häuser mit sich reißend.“

Nicht nur Straßen und Wohnhäuser, sondern sogar der Bahnhof der Stadt versank im Boden. Zwar starben erstaunlicherweise nur drei Menschen bei dem Unglück, aber 2500 wurden obdachlos.

„Osseger Witwen“

Die anderen Gefahren neben dem Schwimmsand waren vor allem Grubeneinstürze sowie das Grubengas. Eine der schwersten Katastrophen im böhmischen Kohlegebiet ereignete sich am Nachmittag des 3. Januar 1934 in der Grube Nelson III. Die ganze Schicht von 150 Arbeitern war unter Tage, als es zur Explosion kam. Nur drei der Bergleute konnten sich über einen Luftschacht retten. Die restlichen kamen entweder bei der Explosion selbst ums Leben, oder sie erstickten an Kohlenmonoxid. Das Unglück ging sogar in die Literatur ein. Bertolt Brecht schrieb darüber seine „Ballade von den Ossegger Witwen“.

Obwohl die Arbeit gefährlich war, wurden die Bergleute noch bis zum Zweiten Weltkrieg nicht sonderlich gut bezahlt. Das änderte sich erst danach.

„In der Ära des Sozialismus baute der Staat massiv auf Kohle und begann, die Beschäftigung im Bergbau zu fördern. Damals lag die Lebenserwartung eines Bergmannes bei 49 Jahren, und das ließ sich nur durch entsprechende Löhne ausgleichen. Nach der Samtenen Revolution änderte sich dies aber wieder, wie ich selbst erlebt habe. Mein Lohn lag auf der Höhe einer Angestellten am Schalter einer Bank“, sagt Zbyněk Jakš.

Noch in der Ersten Republik gehörte die nordwestböhmische Kohleregion zum mehrheitlich deutschsprachigen Gebiet. Aber auch schon damals zogen tschechische Arbeiter in die Gegend. Dies setzte sich zu kommunistischen Zeiten fort. Der Museumsdirektor:

„Als die Kohleförderung begann, kamen auch die Menschen von anderswoher. Meine Familie ist das beste Beispiel dafür, wir kommen nämlich ursprünglich aus der Gegend von Brünn. Mein Großvater und mein Vater sind aber wegen der Arbeit hierher gezogen.“

Mondlandschaft wegen Stromproduktion

Horní Jiřetín | Foto: Denisa Tomanová,  Radio Prague International

Vor dem Zweiten Weltkrieg wurde die Braunkohle vor allem für den Betrieb von Dampfmaschinen in der Industrie genutzt. Erst ab den 1960er Jahren wurde der Rohstoff in großem Stil verheizt, um Strom herzustellen. In der Folge veränderte sich die Landschaft nachhaltig…

„Schon für den Betrieb der Dampfmaschinen wurden riesige Mengen an Kohle gebraucht. Und fast jede Fabrik hatte solch eine Maschine, auch etwa Brauereien. Aber dieser Bedarf konnte in Nordböhmen noch weitestgehend durch den Untertagebau gedeckt werden. Dann aber wurden die großen Elektrizitätswerke gebaut. Am Tag verbraucht ein solches Werk mehrere Züge mit Kohle, nicht etwa mehrere Waggons. Heute fahren zum Beispiel die Züge vom Tagebau direkt zum Werk Počerady“, so Jakš.

Ab den 1950er Jahren entstanden im südlichen Erzgebirgsvorland die riesigen Tagebaue. Nach dem Krieg waren 34 Kohlegruben in Betrieb sowie 24 eher kleinere Steinbrüche. Das Gesamtfördervolumen lag bei rund 20 Millionen Tonnen im Jahr 1950. Anfang der 1990er Jahre gab es fast nur noch Tagebaue. Aber es waren nicht einmal mehr 20, und das Fördervolumen war auf über 78 Millionen Tonnen angestiegen. Auch das lässt die Dimensionen der Braunkohleförderung erahnen.

Dutzende Dörfer und Städte mussten den Halden weichen, auch das historische Most. Eine technische Meisterleistung und zugleich das traurige Symbol dieser Zerstörung wurde die spätgotische Dekanatskirche Mariä Himmelfahrt: Sie verschob man 1975 auf Schienen um 841 Meter. Aber auch jede Menge Wälder, Wiesen und Auen verschwanden in der Mondlandschaft.

Horní Jiřetín | Foto: Denisa Tomanová,  Radio Prague International

Schwarzes Dreieck

Die kommunistische Regierung nahm bei der Ausbeutung des Kohlereviers zudem schlimmste Umweltverschmutzung in Kauf. Martin Neruda ist Umweltwissenschaftler an der Jan-Evangelista-Purkyně-Universität in Ústí nad Labem:

„Die Gegend gehörte zum sogenannten Schwarzen Dreieck. Dieses schloss Nordwestböhmen, die Tagebaue bis nach Leipzig und hinüber nach Cottbus in der Lausitz sowie bis Südwestpolen ein. Dort konzentrierten sich nicht nur die Kohleförderung, sondern eben auch die Heizkraftwerke, die nicht entschwefelt waren, und zum Beispiel die Chemieindustrie. Die Folge war der saure Regen, der die Fichten etwa im Erzgebirge absterben ließ. Es war eine ökologische Katastrophe.“

Erzgebirge | Foto: Miloš Turek,  Radio Prague International

Und unter der Luftverschmutzung litten ebenso die Menschen, auch deswegen wurde die Umweltbewegung in Nordböhmen zu einer der Triebkräfte für die Samtene Revolution von 1989. Erst danach erhielten die Industrieanlagen endlich Filter für den Schwefel und für weitere Schadstoffe. Das bedeutet allerdings nicht, dass nun Luftkurorte entstanden wären. Die Gegend ist auch heute noch eine jener in Tschechien, die besonders häufig mit Smog zu kämpfen hat.

Auch das könnte sich aber innerhalb der nächsten zehn Jahre ändern, wenn tatsächlich bis 2033 alle Kohlekraftwerke abgeschaltet würden. Schon jetzt werden die Förderung zurückgefahren und die Halden rekultiviert. Und das mit durchschlagendem Erfolg, wie Martin Neruda berichtet:

„Das Leben kehrt ziemlich schnell an diese Orte zurück, wenn man erst einmal das Abschöpfen des Wassers beendet hat und sich wieder Grundwasser ansammelt. Es ist fast ein Wunder, wie schon in ein oder zwei Jahren alles wieder grün ist. Die Behörden halten diese Gebiete sogar für wertvolle Biotope, und der Plan ist, sie künftig zu schützen.“

Genau so stellen sich es auch die Umweltschützer vor im Fall der Braunkohlegrube Lom ČSA. Es wäre der grüne Schlusspunkt hinter einem der dreckigsten Phänomene der industriellen Entwicklung.

Lom ČSA | Quelle: Sev.en Energy
Autor: Till Janzer | Quelle: Český rozhlas
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