Tschechien kürzt humanitäre Hilfe: Ukrainischen Flüchtlinge drohen prekäre Arbeitsverhältnisse

Geflüchtete

Tschechien gehört zu jenen Ländern in Europa, die im Verhältnis zu ihrer Einwohnerzahl am meisten ukrainische Flüchtlinge aufgenommen haben. Doch es gibt seit einiger Zeit hierzulande auch Stimmung gegen diese Art der Solidarität mit dem Land, das von Russland überfallen wurde. Außerdem will die tschechische Regierung sparen. Und so werden ab Juli die Regeln für die Bereitstellung von Wohnraum und humanitärer Hilfe verschärft. Nichtregierungsorganisationen haben bei einer Konferenz des UN-Flüchtlingskommissariats UNHCR in Prag aber gewarnt, dass dies viele der Flüchtlinge in prekäre Arbeitsverhältnisse drängen könnte. Anlässlich des Weltflüchtlingstags nun mehr zu dem Thema.

Illustrationsfoto: René Volfík,  Tschechischer Rundfunk

Es sind längst nicht mehr so viele ukrainische Flüchtlinge, die neu nach Tschechien kommen. Daher pendelt sich ihre Gesamtzahl hierzulande langsam ein – derzeit liegt sie bei rund 325.000 Menschen. Magda Faltová leitet die NGO „Sdružení pro integraci a migraci“ (Verein für Integration und Migration) mit Sitz in Prag:

„Gegenüber dem vergangenen Jahr ist die Zahl der Ankommenden stark gesunken, sie liegt etwa bei ein- bis zweitausend pro Woche. Die Lage ist nicht mehr so dramatisch, die Ankunft verläuft ruhiger. Entweder haben die Menschen bereits Kontakte hier, oder sie erhalten Unterkünfte über die Kontaktzentren. In den schwersten Zeiten kamen zwischen 3000 und 6000 ukrainische Flüchtlinge am Tag nach Tschechien. Die jetzige Lage lässt sich logistisch eigentlich problemlos bewältigen.“

Magda Faltová | Foto: Magdalena Hrozínková,  Radio Prague International

Wenn man durch Prag geht, sieht man mittlerweile auch in jeder kleinen Straße ein bis zwei Autos mit ukrainischem Kennzeichen stehen. Da könnte der Eindruck aufkommen, dass die Flüchtlinge aus dem Land gut versorgt seien. Auf einige treffe dies auch zu, gesteht Faltová:

„Es gibt eine große Gruppe an Flüchtlingen, die über Finanzmittel verfügen, weil sie unternehmerisch tätig waren oder hochqualifiziert sind und für internationale Konzerne gearbeitet haben. Sie haben nur einfach ihre Arbeit nach Tschechien verlegt. Das betrifft beispielsweise den IT-Sektor. Für sie kümmert sich der Arbeitgeber um die nötige Unterstützung, oder sie organisieren das selbst. Aber das sind natürlich nicht die Menschen, um die es hier geht.“

Stattdessen gehe es um jene, die dringend auf Unterstützung durch den tschechischen Staat angewiesen sind. Und das ist ein großer Teil der ukrainischen Flüchtlinge. Die genaue Zahl ist unbekannt, man kann nur schätzen. So hat das Arbeitsamt, das die Anträge auf Sozialleistungen bearbeitet, zum Beispiel im März über 103.000 Sätze humanitärer Hilfe an ukrainische Flüchtlinge überwiesen. Eine Sprecherin der Behörde wies aber darauf hin, dass eine einzige Auszahlung auch für mehrere Personen bestimmt gewesen sein kann.

Söhne und die Ersatzvater-Rolle

Um diese finanziell nicht abgesicherten Flüchtlinge und ihre Probleme kümmern sich NGOs wie eben der Verein für Integration und Migration. Die typischen Klienten: Mütter mit ein bis zwei Kindern. Am schwierigsten sei derzeit die Unterbringung, betont Faltová.

„Da geht es besonders um mittelfristige und langfristige Unterkünfte, die finanzierbar sind. Doch dieses Problem kommt zur Wohnungskrise noch dazu, mit der schon die Tschechen selbst zu kämpfen haben. Die Flüchtlinge ziehen da am kürzeren Ende. Sie haben weniger finanzielle Mittel, nicht die nötigen sozialen Kontakte und stoßen auf Vorurteile, ob sie überhaupt die Miete bezahlen können – wenn denn überhaupt an Ausländer vermietet wird. Vom Wohnen hängen viele weitere Dinge ab wie die Unterbringung der Kinder in der Schule oder eine dauerhafte Anstellung in qualifizierter Position und eine gewisse Verwurzelung“, so die Leiterin.

Ukrainische Flagge am Fenster des Hauses | Foto: René Volfík,  iROZHLAS.cz

Tatsächlich sind ein Drittel der ukrainischen Flüchtlinge Kinder. Das tschechische Bildungssystem ist jedoch nicht auf die Neuen eingestellt.

„Das betrifft besonders die Sekundarstufe eins und zwei. Da ist das System, wie wir schon seit langem kritisieren, nur wenig durchlässig für Kinder mit anderer Muttersprache. Deswegen werden sie zu erfolglosen Schülern und gehen von der Schule“, schildert Faltová.

Masha Volynsky | Foto: Magdalena Hrozínková,  Radio Prague International

Hinzu kommt, dass die ukrainischen Kinder in unvollständigen Familien aufwachsen. Für sie wird immer mehr zur Belastung, dass die Väter in der Ukraine zurückgeblieben sind und die Mütter schwer mit dem Alltag in Tschechien zu kämpfen haben. Masha Volynsky weiß davon zu berichten. Sie ist leitende Koordinatorin bei der Organisation Amiga, die unter anderem psychologische Beratung für die Flüchtlinge anbietet. Mittlerweile arbeiten 20 ukrainische Psychologinnen für Amiga.

„Dieses Verantwortungsgefühl geht leider auch auf die Kleinsten über. Selbst die Mütter von sieben oder acht Jahre alten Kindern kamen und sagten, dass diese nicht schlafen würden und in der Nacht weinten. Schon gleich zu Beginn des Kriegs war zu sehen, wie stark die Kinder den psychischen Zustand der Eltern wahrgenommen haben. Die Älteren, besonders die Jungs, die nur mit der Mutter hierhergekommen sind, haben häufig das Gefühl, sie müssten Verantwortung oder die Rolle des Vaters übernehmen. Das muss nicht heißen, dass sie gleich arbeiten gehen. Für einen Teenager ist dies jedoch schlecht, er sollte eher seine Fähigkeiten, seine Grenzen ausloten, als sich um die Familie zu kümmern“, sagt Volynsky.

Illustrationsfoto: Ukrainisches Verteidigungsministerium

Hinzu kommen auch noch die Traumata des Kriegs. Aber belastend für alle Generationen ist ebenso das simple Dasein als Flüchtling in Tschechien. Dazu gehört, plötzlich auf humanitäre Hilfe angewiesen zu sein. Masha Volynsky:

„Unseren Erfahrungen nach wollen viele von ihnen, wenn nicht sogar die Mehrheit, nicht von den Zahlungen abhängig sein. Sie sind nicht daran gewöhnt, denn in der Ukraine ist die Unterstützung durch den Staat sehr viel geringer und auch nicht so weit verbreitet. Sie waren bisher nur damit konfrontiert, sich auf sich selbst zu verlassen. Im vergangenen Jahr waren unsere Psychologinnen zum Beispiel in den Schlangen vor dem Arbeitsamt im Prager Stadtteil Holešovice im Einsatz. Da hörten sie dann Sachen wie: ‚Ich will das doch gar nicht, aber wie soll ich denn mein Kind ernähren?‘“

Abgedrängt in den Schwarzmarkt

In dieser schwierigen Situation hat die tschechische Regierung entschieden, die humanitäre Hilfe für die ukrainischen Flüchtlinge genauso zu kürzen wie die Wohnbeihilfe.

Matěj Šulc | Foto: Magdalena Hrozínková,  Radio Prague International

Konkret werden Notunterkünfte nur noch in den ersten fünf Monaten des Aufenthalts kostenlos sein. Danach müssen die Ukrainer diese selbst bezahlen oder eine eigene Wohnung finden. Ausnahmen bestehen nur für sogenannte „verletzliche Gruppen“, das sind Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre, Menschen ab 65 Jahren sowie Personen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen. Die humanitäre Hilfe wiederum wird gekürzt und die Wohnbeihilfe in sie eingegliedert. Doch das Einkommen wird auf die Hilfe angerechnet. Matěj Šulc koordiniert bei der Organisation für Flüchtlingshilfe (Organizace pro pomoc uprchlíkům) das Programm für ukrainische Flüchtlinge. Was die geplante Lex Ukrajina 5 bedeutet, erläutert er an einem Fall aus der vergangenen Woche. Da sei eine Mutter mit Kindern im Alter von acht und elf Jahren in die Beratung gekommen. Sie erhielt bisher 19.808 Kronen (834 Euro) an staatlicher Hilfe…

„In dem Moment, wo diese Mutter mit zwei Kindern arbeitet und vielleicht 20.000 Kronen monatlich verdient, kommt sie nach den neuen Regeln nicht nur um die humanitäre Hilfe, sondern auch um den Anspruch auf Wohnbeihilfe“, sagt Matěj Šulc.

Er warnt wie die Vertreter weiterer Nichtregierungsorganisationen vor den Folgen:

„Da von der humanitären Hilfe ab Juli die Höhe des Einkommens abgezogen wird, werden die meisten ukrainischen Flüchtlinge ihren Anspruch auf diese Gelder verlieren oder nur noch ein paar Tausend Kronen bekommen. Das heißt, dass sie nicht mehr in der Lage sein werden, die Mieten auf dem Wohnungsmarkt zu zahlen. Dabei ist derzeit völlig unklar, was passiert, wenn sie dies nicht mehr können.“

Hilfsorganisationen berichten schon jetzt davon, dass Flüchtlinge aus ihrer Unterkunft geworfen wurden und auf der Straße gelandet sind. Denn die Notunterkünfte sind eigentlich nur noch „verletzlichen Gruppen“ vorbehalten. Eine weitere Folge könnte sein, dass sich die Geflüchteten nicht mehr um legale Arbeit bemühen, ergänzt Magda Faltová vom Verein für Integration und Migration:

„Angesichts der geringen Löhne für die Flüchtlinge arbeiten sie lieber schwarz, um weiter auch die humanitäre Hilfe zu bekommen. Da geht es nicht um die Frage, ob man sich noch das Essen im Restaurant leisten kann, sondern ob man noch in der Lage ist, seine Kinder zu ernähren.“

Formen der Ausbeutung

Ganz allgemein sind viele Ukrainer hierzulande, auch wenn es sich nicht um Flüchtlinge handelt, eher im Niedriglohnbereich beschäftigt. Häufig läuft dies über Arbeitsagenturen. Und diejenigen, die in den vergangenen Monaten wegen des Krieges geflohen sind, haben zwar teilweise Anbindung an die ukrainische Minderheit gefunden – aber damit auch an einen Arbeitsmarkt mit unfairen Bedingungen. Die Organisation „La Strada“ hilft Menschen, die in gefährliche Abhängigkeiten geraten sind. Markéta Hronková leitet die NGO:

„Unserer Ansicht nach kommt es relativ häufig zu Formen der Ausbeutung von ukrainischen Flüchtlingen. Vor allem werden nicht alle Vereinbarungen eingehalten; die Arbeitsbedingungen entsprechen nicht den Vorschriften. Häufig sind die Menschen auch gezwungen, Arbeitsverträge zu akzeptieren, die sie ansonsten ablehnen würden. Denn die Nachfrage nach der entsprechenden Arbeit ist höher als das Angebot. Allerdings können wir nicht sagen, wie häufig dies in den Menschenhandel übergeht.“

Markéta Hronková  (rechts) | Foto: Anton Kajmakov,  Radio Prague International

Mit der neuen Lex Ukrajina befürchtet Hronková aber genau eine Entwicklung in diese Richtung…

„Ich denke, das Gesetz führt dazu, dass die Menschen nicht mehr motiviert sind, sich legal beschäftigen zu lassen. Und die Menschenhändler und Ausbeuter werden sich dessen bewusst sein. Sie werden dann andere Formen der Beschäftigung anbieten, die die Menschen noch mehr den Gefahren von Ausbeutung und Menschenhandel aussetzen“, so die Leiterin von „La Strada“.

Natürlich haben die NGOs die Regierung während der Beratungen über das neue Gesetz vor dieser Entwicklung gewarnt. Allerdings hätten sie im Kabinett kein Gehör gefunden, beklagt Faltová:

„Der Grund für die neue Lex Ukrajina sind Sparmaßnahmen und der Druck vonseiten der tschechischen Kreise, die die Notunterkünfte verwalten und das Angebot einschränken wollen. Die Regierung ist darauf eingegangen. Sicher sind die Sparmaßnahmen an sich verständlich. Ich halte es jedoch für sehr fraglich, dass die Folgekosten des neuen Gesetzes miteinberechnet wurden. Vielleicht kommen uns die komplizierten behördlichen Maßnahmen letztlich teurer, als wenn wir die Hilfen des Staates einfach wie bisher lassen würden und mit den Menschen individuell weiterarbeiten.“

Auch die Regierungsbevollmächtigte für Menschenrechte, Klára Šimáčková Laurenčíková, hat sich gegen die Maßnahmen ausgesprochen ebenso wie einige Ministerien, die Stadt Prag, weitere Gemeinden und viele Arbeitgeber.