Tschechisch-deutsche Iglauer Gespräche (2. Teil)

"Das Hauptziel des historischen Verstehens ist die hypothetische Rekonstruktion einer geschichtlichen Problemsituation" - so formulierte einst sein Postulat der Philosoph und Geschichtstheoretiker, der vor dem 2. Weltkrieg nach London emigrierte jüdische Wiener Karl Popper. Um eine Rekonstruktion der geschichtlichen Problemsituation, bezogen auf das tschechisch-deutsche bzw. tschechisch-sudetendeutsche Verhältnis vor dem Krieg, während des Krieges und unmittelbar danach, bemühen sich seit 12 Jahren tschechische und deutsche Politiker, Ex-Politiker, Intellektuelle, Geistliche sowie Vertreter verschiedener staatlicher und nichtstaatlicher Organisationen im Rahmen der so genannten Iglauer Gespräche. Damit kommen wir zu dem bereits vor zwei Wochen in dieser Sendereihe angekündigten zweiten Teil des Berichts über das diesjährige Treffen in Jihlava/Iglau, das vom 11. - 13. April stattfand. Am Mikrophon ist Jitka Mladkova:

Tschechien und Deutschland
Unter dem Leitmotto "Tschechen und Deutsche - Mitverantwortung für die Mitte Europas" standen in Iglau verschiedene Themen auf dem Programm wie z.B. "Europäische Traumata und Visionen des 20.Jahrhunderts" oder "Europäische Realität nach dem Jahr 1945". Unterschiedliche Blickwinkel und unterschiedliche Bewertungen der damit verbundenen Ereignisse waren kennzeichnend für die Debatte. Das Fazit: ein einheitlich skizziertes Bild der Nachkriegswelt ist nach wie vor nicht entstanden. Für die angestrebte Annäherung der Standpunkte bei der Betrachtung kontroverser geschichtlicher Momente hat man aber eine Inspiration, die unter dem Titel "25 Jahre Frankener Erklärung" als Programmpunkt der Iglauer Konferenz thematisiert wurde.

Diese kam im Februar 1978 im bayrischen Franken zustande, als hier auf Initiative der Vereinigung Opus Bonum ein Symposium über die Entwicklung der Tschechoslowakei in den Jahren 1945 - 1948 stattfand. Genau 30 Jahre nach der kommunistischen Machtergreifung 1948 kamen in Franken tschechoslowakische Exilanten zusammen, die aus politischen Gründen ihr Land verlassen hatten, um sich mit überlebenden Illusionen und Mythen über die Vergangenheit und Gegenwart der damaligen Tschechoslowakei auseinanderzusetzen. In der gemeinsamen Erklärung wurde u.a. festgestellt, dass einige Millionen von Bürgern deutscher Nationalität nach 1945 außerhalb des Gesetzes gestellt worden waren, indem das Prinzip der Vergeltung das Prinzip der Gerechtigkeit und des Rechts verdrängte. In Iglau haben sich nun zahlreiche Diskussionsteilnehmer gerade auf die Leitgedanken der Frankener Erklärung als eine Art Wegweiser berufen. So auch Walter Kittel, Staatssekretär a.D. und ehemaliger Beauftragter der Bundesregierung für Beratung in Osteuropa:

"Die Wahrheit der geschichtlichen Fakten muss siegen, das Vergeltungsprinzip muss überwunden werden durch Recht und Gerechtigkeit. Die Menschenrechte sind unteilbar, die Minderheitenrechte sind essenzieller Teil der Menschenrechte. Von daher sind wir auf einem Wege, der auch uns Orientierung zu geben hilft - für die Gegenwart des deutsch-tschechischen Verhältnisses, aber auch für die Fragen der EU-Erweiterung."

Wir sind gefordert - so Walter Kittel wörtlich - Schlüsse aus unserem Geschichtsverständnis zu ziehen, Werturteile zu treffen und uns zu distanzieren von negativen Entwicklungen und Fakten. Dies im Sinne einer moralischen Wiedergutmachung und auch, um für die Zukunft gegen böse Verstrickungen immun zu sein. Die beste Immunität, die beste Festung, um sich gegen solche Verstrickungen verteidigen zu können, sei der neue EU-Vertrag.

"Die Ermutigung, die wir haben ist: Je mehr Bereitschaft zur historischen Wahrheit besteht - bei den Deutschen, bei den Tschechen - um so freier wird unser Selbstbewusstsein, und was die tschechische Rolle angeht, um so stärker werden die Tschechen wirken, um so selbstsicherer!"

"Die Zukunft für ein Europa ohne Nationalismus" war ebenfalls eines der Themen der Iglauer Gespräche. Walter Kittel, der auch an der Vorbereitung der tschechisch-deutschen Aussöhnungserklärung von 1997 beteiligt war, hat wie viele andere Konferenzteilnehmer für das erweiterte geeinigte Europa plädiert:

"Die Situation, vor der wir jetzt stehen, ist relativ einfach. Wir wünschen uns von Herzen, dass der Countdown, dieser ganze Fahrplan in Erfüllung geht. Er wird unsere Beziehungen verbessern, er wird überhaupt die Situation der Menschen in Mitteleuropa, aber in Europa insgesamt stabilisieren, verbessern und absichern. Die unselige Trennung des Kontinents, Europas, wird damit im Wesentlichen überwunden."

Gerade durch diesen Beitritt der mitteleuropäischen Länder - so meinte ein anderer Gast in Iglau, Prof. Peter Kampits von der Wiener Universität - werde eine Art Denkweise nach Westeuropa, das sich bisher als Hauptrepräsentant der EU betrachtet habe, eingebracht, die bei aller Berücksichtigung der Notwendigkeit politischen Handelns, politischer Vertragswerke auf rechtlicher Ebene, eben auch das Problem der Werte thematisiert. Integrieren heißt aber nach Pof. Kampits....

"Integrieren darf ja nicht heißen Aufsaugen durch den Stärkeren oder verschluckt werden vom Stärkeren, sondern integrieren bedeutet ja eine respektvolle Anerkennung auch des Kleineren, des wirtschaftlich Schwächeren. Deutschland, Frankreich oder Großbritannien repräsentieren hier natürlich etwas ganz anderes als die kleineren Länder, etwa in diesem mitteleuropäischen Bereich."

Kampits benannte auch existierende Probleme, die seiner Meinung nach aber sich nicht als Hindernis erweisen sollten:

"Natürlich gibt es bei uns ähnliche Berührungsängste, natürlich haben wir auch ein Problem, wenn man jetzt die Haltung zu den Benes-Dekreten von tschechischer Seite hernimmt, oder wenn man an die berühmte Temelin-Frage denkt. Das sollte man auch gar nicht leugnen. Aber ich glaube, in einem Umgehen mit gegenseitigem Respekt, das natürlich nicht von heute auf morgen geschehen kann, könnte hier auch im Rahmen eben der Europäischen Union sehr viel getan werden.."

Doch in diese sollen die Mittel- bzw. Mittelosteuropäer selbstbewusst beitreten, denn ...

"Wir sind keine Bettler, die vor den Türen der Reichen und Besitzenden anklopfen und sagen, ja bitte nehmt uns doch auf, sondern wir bringen viel mit."

Diese Haltung sollte man nach Kampits zum geistigen Hindergrund der Verhandlungen machen, da gerade die kulturellen und geistigen Traditionen sind das wesentliche, das auch die Mittel- bzw. Ostmitteleuropäer in die EU mitbringen.