„Tschechisch entwickelt sich schnell und nicht zum Schlechteren“ – Sprachwissenschaftler Karel Oliva im Gespräch

Karel Oliva (Foto: Annette Kraus)

Karel Oliva ist in Tschechien so etwas wie der oberste Hüter der Sprache. Der Linguist ist Vorsitzender des Instituts für tschechische Sprache bei der Akademie der Wissenschaften. Daneben schreibt er für Zeitungen und ist häufiger Gast in Radio und Fernsehen. Im Gespräch mit Karel Oliva geht es um gutes und schlechtes Tschechisch, den Einfluss der Freiheit auf die Sprache und Vulgarismen in der Politik.

Karel Oliva  (Foto: Annette Kraus)
Herr Oliva, Sie wurden in der letzten Zeit häufiger in den Medien zitiert mit einer Kritik an der Entwicklung der tschechischen Sprache seit 1989. Hat denn die Freiheit der Sprache nicht gut getan?

„Ich habe diese Entwicklung nicht direkt kritisiert. Es gab eher Kritik von außen, von Leuten, die sich für Sprache interessieren und sich viel damit beschäftigen. Eigentlich freut es mich, wenn es Interesse für die Sprache gibt. Andererseits muss ich auch sagen, dass die Kritik irgendwie sehr laizistisch war. Denn wir Wissenschaftler – cum grano salis – sehen die Sache eben ein wenig anders. Die Sprache entwickelt sich – und nicht unbedingt zum Schlechteren.“

Welche Tendenzen in der tschechischen Sprache haben Sie denn in den vergangenen Jahren festgestellt?

Foto: Archiv Radio Prag
„Das sind natürlich mehrere Sachen. Eine davon fällt bestimmt jedem auf: Wir haben so viele Wörter aus anderen Sprachen, also Lehnwörter ins Tschechische aufgenommen. Sehr oft sind es Dinge aus dem Englischen, aber nicht nur. Denn zum Beispiel ist die Kochkunst in Frankreich oder Italien viel weiter entwickelt als in Amerika oder Großbritannien. Daher nehmen wir die Begriffe lieber aus diesen Ländern. Allgemein muss man sagen, dass sich die Sprache dadurch nicht verschlechtert hat. Wir haben einfach neue Dinge aufgenommen und dadurch auch neue Termini. Außerdem hat sich die einstige Kluft zwischen formeller und informeller Sprache verringert. Sie besteht noch immer, aber beide Varianten sind nicht mehr so weit voneinander entfernt. Das halte ich jetzt für keine besonders tolle Entwicklung, aber man muss dies auch mit einer gewissen Zurückhaltung werten. Als letzte Sache sollte ich noch erwähnen, dass wir auch noch einen ganz entgegengesetzten Trend zur Informalisierung beobachten. In ökonomisch formalen Bereichen, zum Beispiel bei Interaktionen zwischen Firmen wie in Gesprächen und Verträgen und vor allem in Werbematerial wird häufig sehr gutes Tschechisch benutzt. Denn wer in einem Werbe-Flyer grammatikalische Fehler macht, der präsentiert sich nicht so toll. Die Sprache entwickelt sich nun einmal in viele verschiedene Richtungen und es ist interessant, diese Entwicklung zu beobachten. Doch sie führt nicht unbedingt zum Schlechteren. Es ist einfach eine Veränderung.“

Tschechische Sprache zu Anfang des 20. Jahrhunderts
Aus welcher Richtung kommt die Kritik denn vor allem?

„Vor allem ältere Leute beschweren sich über die vielen Lehnwörter und dass wir nicht mehr so schönes Tschechisch sprechen würden. Aber das kommt daher, weil diese Leute aus ihrer Jugend an ein Ideal der tschechischen Sprache gewöhnt sind, das heute einfach nicht mehr gilt. Das ist alles. Ich glaube, sie haben in einer Zeit gelebt, in der sich die Gesellschaft und die Sprache überhaupt nicht bewegt haben. Jetzt verändert sich alles ziemlich schnell. Das führt zu einer Unzufriedenheit mit der Sprache. Dabei steht im Hintergrund vor allem ein Sprachideal – also etwas, das man sich einprägt, wenn man jung ist und die Sprache lernt. 50, 60 Jahre später und besonders in unserer Zeit ist Sprache aber nun einmal an einem anderen Punkt angelangt, Welten davon entfernt. In dem Sinne entspricht die Sprache nicht mehr diesem Ideal, und das ist das Problem.“

Foto: Archiv Radio Prag
War die Tschechoslowakei denn während des Sozialismus wirklich so ein sprachlich abgeschlossener Raum? Da gab es doch sicher auch Einflüsse?

„Ich würde sagen, eher nicht. Vielleicht gab es ganz am Anfang, direkt nach 1948, russische Einflüsse, die wiederum aus anderen Gründen nicht akzeptiert wurden. Man ist nicht oder nur sehr wenig gereist. Wenn man reisen konnte, dann ging es in die DDR. Von dort kamen aber nur wenige Lehnwörter, genauso aus Russland oder Bulgarien. Was wir heute aus anderen Sprachen übernehmen, sind Begriffe für neue Dinge. Welche neuen Dinge haben wir damals zum Beispiel aus Rumänien übernommen? Gar keine.“

Pho-Suppe  (Foto: Dagobert29,  Wikimedia Public Domain)
Die größten Einwanderergruppen in Tschechien heute sind neben den Slowaken die Vietnamesen und die Ukrainer. Beeinflussen auch sie die tschechische Sprache?

„Von den Vietnamesen haben wir den Begriff Pho-Suppe – polévka Pho übernommen. Den könnte man gar nicht übersetzen. Doch bei normalen Wörtern, also bei Wörtern des täglichen Gebrauchs, da fällt mir nichts ein. Aus der Ukraine auch nicht. Aber aus dem slowakischen Wortschatz haben wir natürlich viel übernommen.“

Die neuen Wörter aus dem Englischen werden nun nicht eins zu eins übernommen, sondern gewissermaßen tschechisiert…

Meeting  (Foto: Public Domain,  Courtesy Reagan Library,  PD)
„Ja, sie werden dekliniert und konjugiert. Aber wichtig ist nicht nur die formale Seite, das heißt, dass wir ein tschechisches Wort daraus machen. Sehr häufig wählen wir nur eine spezielle Bedeutung dieses neuen Wortes aus. Daher würde ich sagen, dass es für die Sprache sogar nützlich ist, weil wir dadurch ganz feine Bedeutungsunterschiede mit einem tschechischen und einem englischen Wort ausdrücken können. Das wäre im Englischen eigentlich nicht möglich.“

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

„Zum Beispiel ‚meeting‘ und ‚schůzka‘. Ich könnte beispielsweise mit meiner Frau eine schůzka haben. Aber wenn ich mit einer Frau ein meeting habe, dann ist es entweder ein Business-Meeting oder eine Frau, die spezielle Dinge kommerziell unternimmt. Ich muss wirklich sagen, dass es feine Unterschiede gibt, die man dadurch ziehen kann. Ohne die Lehnwörter wäre das gar nicht möglich. Man kann es nicht verallgemeinern, aber in manchen Fällen bereichert die Vermischung die Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache.“

Miloš Zeman  (Foto: ČT24)
Um noch einmal zu den kritischen Punkten zurückzukommen: Jemand, der in Sachen Umgangssprache einen Tiefpunkt erreicht hat, ist Staatspräsident Miloš Zeman. Er hat ein Radio-Interview voller vulgärer Ausdrücke gegeben. Ist das eine Ausnahmeerscheinung oder ein Symptom für den allgemeinen Sprachverfall?

„Wie Sie richtig gesagt haben: Zeman ist ein Beispiel, aber nicht das einzige. Leider. Ich weiß nicht, ob Sie sich noch daran erinnern, was Mirek Topolánek einmal gesagt hat. Und Karel Schwarzenberg. Und sicherlich noch viele mehr. Jiří Rusnok zum Beispiel. Das Problem ist, dass die anderen Politiker auch keine gute Sprache verwenden. Aber der Unterschied ist nicht so krass, und sie haben sich zumindest im öffentlichen Raum, bei offiziellen Gelegenheiten ein wenig bemüht, in den Grenzen der guten Sprache zu bleiben. Das macht Zeman ganz gar nicht, und das finde ich wirklich furchtbar. Aber ich würde nicht sagen, dass es nur Miloš Zeman ist. Es sind auch viele andere.“

Foto: Martin J. Rýznar,  Twitter
Ein relativ harmloser Begriff, der ebenfalls in diesem Interview gefallen ist, war „Lumpenkavárna“. Das ist kein tschechisches Wort, sondern eine Erfindung von Zeman. In den Medien wurde ausführlich spekuliert, was er damit eigentlich gemeint hat. Wie würden Sie den Begriff der Lumpenkavárna erklären?

„Der Begriff ist mir natürlich auch unbekannt. Wir können nur raten, was er damit gemeint hat, und ob er überhaupt etwas damit gemeint hat. Das müssen wir zuerst einmal voraussetzen. Lumpenkavárna – auf Deutsch Lumpencafé – ist ein Begriff, der zumindest auf der linguistischen Ebene offensichtlich vom Begriff ‚Lumpenproletariat‘ abgeleitet ist. Er stammt von Karl Marx, nicht aus dem Kapital, sondern aus einem anderen Buch, dessen Titel mir gerade auch nicht einfällt, da ich kein begeisterter Marx-Leser bin. Was der Begriff nun bedeutet? Nun, wahrscheinlich sitzen in der Lumpenkavárna einfach die Menschen, die Miloš Zeman nicht gefallen.“

Tschechische Sprache
Die verschiedenen Diskussionen um das Tschechische zeigen, dass die Entwicklung der Sprache hierzulande sehr aufmerksam beobachtet wird. Woher kommt das?

„Das kommt einfach daher, weil sich ein kleines Volk immer viel mehr um seine Sprache sorgt, als eine große Nation. Dass die deutsche Sprache irgendwann einmal von anderen Sprachen wie dem Englischen oder Chinesischen überrollt wird und aus der Welt verschwindet, diese Gefahr ist nicht eminent. Dass sich ein kleines Volk immer so stark um seine Sprache kümmert, hat daher hauptsächlich eine psychologische Natur.“

Autor: Annette Kraus
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