„Unter unserem Haus ist Kohle“ - die Schülerin Julia Wendelová aus Karviná
Sie ist zwölf Jahre alt, kommt aus Deutschland, lebt aber im schlesischen Karviná, einem alten Kohlerevier ganz im Osten der Tschechischen Republik mit schlechter Luft und hoher Arbeitslosigkeit. Sie heißt Julia Wendel oder auch Julia Wendelová – je nachdem. Ihre Eltern sind der Konditor Thomas Wendel aus Schleswig-Holstein und die gelernte Damenschneiderin Barbara Wendelová, die ursprünglich aus Karviná stammt. Als Julia sieben Jahre alt war, zog die Familie von Neustadt in Holstein an der Ostsee nach Karviná um. Der Betrieb, wo Vater Thomas als Konditor gearbeitet hatte, war Pleite gegangen, neue Arbeit zu finden, war schwer. Und so entschloss sich die Familie zu einem ungewöhnlichen Schritt: Arbeit in Karviná suchen und umziehen.
„Als wir aus Deutschland weggezogen sind, war ich sehr traurig. Ich war vorher nur ein paar Mal in Tschechien. Außerdem konnte ich kein tschechisch, dass war sehr schwierig. Mein Vater hat in Neustadt keine Arbeit gefunden und meine Mutter hat nicht viel verdient. In Tschechien sollte es besser werden. Inzwischen bin ich glücklich über den Umzug. Wenn ich nicht hierher gezogen wäre, dann hätte ich meine beste Freundin Katka nicht kennengelernt.“
Was siehst Du eigentlich als Deine Muttersprache an – Tschechisch oder Deutsch?
„Ich bin in Deutschland geboren und war bei unserem Umzug sieben Jahre alt. Daher sehe ich Deutsch als meine Muttersprache an.“
Und glaubst Du nicht, dass sich das in den nächsten Jahren noch mal ändern wird?„Nein, dass würde ich nicht sagen. Inzwischen kenne ich durch die Schule zwar mehr Wörter auf Tschechisch, aber eines Tages ziehe ich wieder nach Deutschland. Dort gefällt es mir besser. Daher bleibe ich bei Deutsch.“
Wenn Du sagst, Du findet Deutschland ein bisschen besser als Tschechien, woran denkst Du da konkret?
„In Deutschland gibt es nicht so viel Müll. Die Straßen von Karviná sind sehr verdreckt. Hier liegt immer viel Müll. Außerdem sind die Menschen in Deutschland nicht so vulgär. Die Schimpfwörter in Tschechien sind wirklich schrecklich. Zudem stört mich, dass es in Tschechien sehr lange dauert, bis etwas repariert wird. Wenn in Deutschland etwas auf dem Spielplatz kaputtgeht, dann wird es schnell erneuert. Allgemein gibt es mehr Spielplätze und Schwimmbäder. Das Angebot für Kinder ist größer.“Bist Du eigentlich für Deine Klassenkameraden „die Deutsche“?
„In der ersten oder zweiten Klasse war es schon so. Die anderen Kinder haben mich immer gefragt, wie man etwas auf Deutsch sagt. Jetzt besuche ich das Gymnasium. Dort bin ich in einer neuen Klasse. Ich habe zu Anfang schon gesagt, dass ich aus Deutschland stamme. In der Klasse könnte fast jeder sagen, dass er aus einem anderen Land kommt. Wir haben zum Beispiel ein Mädchen aus Griechenland und einen Jungen aus Spanien. Daher bin ich nicht 'die Deutsche'.“Als Ihr vor fünf Jahren umgezogen seid, bist Du sogar schon einen Monat vor Deinen Eltern nach Karviná gegangen und hast bei Deinen Großeltern gelebt. Du konntest eigentlich kein Tschechisch und sie konnten so gut wie kein Deutsch. Wie habt Ihr das damals gemacht?
„Anfangs war es schwierig. Wie wir das geschafft haben, weiß ich selbst nicht mehr. Wenn ich Frikadellen haben wollte, habe ich einfach 'frikadelky' gesagt. Meine Großmutter hat im Wörterbuch geguckt, was das bedeutet. Irgendwie haben wir es geschafft. Außerdem habe ich die Dinge gemalt, die ich haben wollte.“Wie war dann Dein erster Schultag in Karviná? – Du bist ja direkt in die erste Grundschulklasse gekommen...
„Das war richtig blöd. Die Lehrerin hat mich als 'Julia aus Deutschland' vorgestellt und den anderen Kindern gesagt, dass ich kein Tschechisch spreche. Dann sollte ich ein deutsches Gedicht aufsagen. Meine Klassenkammeraden haben mich mit großen Augen und offenen Mund angeguckt. Sie haben wohl gedacht: Ach so, die ist Deutsche.“
Deine Mutter hatte also vorher in Deutschland nie Tschechisch mit Dir gesprochen?„Nein, in Deutschland nicht. Hier hat sie mir aus dem Buch 'Pejsek a Kočíčka'(Hündchen und Kätzchen, Kinderbuch von Karel Čapek, Anm. d. Red.) vorgelesen. Meine Mutter hat mir den Text übersetzt, da ich kein Wort verstanden habe. Mit der Zeit habe ich die Sprache gelernt. Ich musste Tschechisch sprechen, wenn ich mit meinen Freundinnen plaudern wollte. Die Mädchen haben gesagt, dass man am Anfang gehört hat, dass ich nicht aus Tschechien komme. Das ging noch bis Ende der ersten Klasse. Danach konnte man das nicht mehr hören.“
Wie kommst Du mit der Luft hier klar – die ist ja ziemlich schlecht?
„Die Luft ist schrecklich. Wenn ich abends mein Zimmer lüften möchte, kommt viel Smog rein. Daher lasse ich mein Fenster lieber geschlossen. Im Sommer findet der Sportunterricht manchmal draußen statt. Einmal wollten wir rausgehen, um zu laufen. Die Lehrerin meinte, dass würde nicht gehen, weil es zu viel Smog gibt. Sie wollte nicht, dass wir den Dreck einatmen.“Viele junge Leute gehen aus Karviná weg. Du bist jetzt zwölf Jahre alt, in ein paar Jahren machst Du Abitur. Wo siehst Du Deine Zukunft – hier in Karviná?
„Meine Zukunft ist in Deutschland. Ich möchte dort eine Universität besuchen und arbeiten. Hier in Karviná möchte ich nicht bleiben. Unter unserem Haus befindet sich Kohle. Ich bin mir sicher, eines Tages wird sie abgebaut.
Wie der Schritt von Schleswig-Holstein nach Schlesien für die Eltern von Julia Wendel war, das erfahren Sie in der Sendereihe Forum Gesellschaft in der kommenden Woche.