Verfolgt und für vogelfrei erklärt – Roma in den Böhmischen Ländern
Sie sind heute die größte Minderheit in Tschechien: Roma machen hierzulande gut zwei Prozent der Bevölkerung aus. Ihre Ansiedlung in Böhmen und Mähren ist seit dem Mittelalter dokumentiert. Doch ziemlich schnell nach der Ankunft wurden sie zu Gejagten. Eine Geschichte schwerster Verfolgung und Zwangsansiedlung.
Wann die Roma auf das Gebiet des heutigen Tschechiens kamen, ist schwer zu sagen. Erste Erwähnungen stammen vom Ende des 14. Jahrhunderts. Definitiv tauchen sie in einem Schutzbrief des böhmischen Königs Sigismund vom 17. April 1423 auf. Der spätere römische Kaiser verfasste ihn auf der Burg Zips in der Slowakei. In dem Brief geht es, so wörtlich, um „Ladislav, den Führer seines zigeunerischen Volkes“. Und weiter steht dort:
„In solchem Falle, da Ladislav mit seinen Leuten an irgendeinem Ort unseres Kaiserreichs erscheint, in Stadt oder Dorf, empfehlen wir, ihm Treue zu bezeugen, die Ihr hiermit auch Uns bezeugt. Gewährt ihnen Schutz, damit Ladislav und sein Volk sich unversehrt hinter Euern Mauern aufhalten können.“
Allgemein dürften die ersten Roma gegen Ende des 14. Jahrhunderts nach Mitteleuropa gekommen sein, so die Meinung der Wissenschaft. Wann sie aber erstmals in Europa auftauchten, ist nicht geklärt. Bekannt ist nur, dass sie aus Indien kamen und ihre ursprüngliche Heimat zwischen dem dritten und elften Jahrhundert verließen. Weil im heutigen Romanes einige Worte persischen Ursprungs sind, geht man davon aus, dass sie sich längere Zeit in der Gegend des heutigen Iran aufgehalten haben dürften. Dasselbe trifft auf die nächsten Stationen zu: Armenien und das Byzantinische Reich.
Doch zurück nach Mitteleuropa. Will man die frühe Geschichte der Roma in dieser Gegend beschreiben, gerät man an Grenzen. Denn die vorhandenen Quellen zeichnen ein sehr einseitiges Bild. Die Historikerin Helena Sadílková leitet das Seminar für Romistik an der Prager Karlsuniversität:
„Keine Quelle vor allem der älteren Geschichte wurde von Roma selbst verfasst. Man muss sich dann jeweils die Frage stellen, warum diese zum Thema der entsprechenden Quelle wurden. Die Dokumente erzählen jedenfalls weniger über diese ethnische Gruppe und ihr Leben, als dass sie davon zeugen, wie mit Roma umgegangen wurde. Man muss sich klarmachen, dass die Verfasser voreingenommen waren und nur bruchstückhaft informiert haben. Das zieht sich hin bis in die Neuzeit. Die ersten eigenen Schriftstücke vonseiten der Roma tauchen Ende des 19. Jahrhunderts auf. Doch vieles ist nicht mehr erhalten. Und daher besteht ein starkes Ungleichgewicht zwischen eigenen und fremden Quellen zu den Roma.“
„Aus Böhmen ausgewiesen“
Dies muss man im Hinterkopf haben, um die weitere Entwicklung einordnen zu können. Während die Ankunft der Roma in Böhmen Anfang des 15. Jahrhunderts noch begrüßt wird, kippt die Stimmung innerhalb weniger Jahrzehnte. Der Anthropologe und Historiker Pavel Himl von der Prager Karlsuniversität:
„Warum sich die Haltung nicht nur der Bevölkerung, sondern auch der Herrschenden änderte, ist nicht ganz klar. Doch zu Ende des 15. Jahrhunderts gab der Reichsrat zahlreiche Patente heraus, die die sogenannten ‚fahrenden Zigeuner‘ aus dem Römischen Reich deutscher Nationen auswiesen. Im 16. und 17. Jahrhundert gab es dann die Verfolgung durch die Zentralmacht, die mit der Gründung moderner Staatsgebilde zusammenhing. Da wollte der Herrscher vom Zentrum aus die Kontrolle haben über das gesamte Staatsgebiet und die Menschen, die sich auf diesem befanden.“
Bereits Ende des 15., Anfang des 16. Jahrhunderts verbreiten sich Nachrichten, dass Roma die Spione der Türken wären und für diese beispielsweise Brandstiftung begingen. Das ist der Anfang ihrer Verfolgung.
„In der Habsburger Monarchie gipfelte dies in den 1720er Jahren. Damals wurden immer mehr Anordnungen gegen Roma herausgegeben. Aber schon Ende des 17. Jahrhunderts wurden die ‚fahrenden Leute‘, wie sie ebenfalls hießen, in einigen Patenten zu Vogelfreien erklärt. Das bedeutete, dass jeder sie ohne Strafe töten durfte. In den tschechischen Texten wurde der deutsche Begriff vogelfrei übrigens so erklärt, dass man sie ‚frei wie ein Vogel erschießen dürfe‘. Die erste solche Quelle aus Böhmen stammt von 1697. Roma wurden allein deswegen auf diese Weise verfolgt, weil sie sich nicht an die Landesverweisung gehalten hatten und immer noch vor Ort waren. Dafür wurde der Begriff ‚Herumstreunen‘ verwendet. Letztlich wurde dies unter Todesstrafe gestellt“, so Pavel Himl.
In den Originalformulierungen spricht man damals zum Beispiel von der (so Zitat) „Ausrottung des schädlichen wie gefährlichen Räuber-, Zigeuner- und landstreichenden Trossgesindels“.
Allerdings gibt es Abstufungen. Wird jemand zum ersten Mal aufgegriffen, wird er gezeichnet – das bedeutet häufig, dass ihm die Ohren oder Teile der Ohren abgeschnitten werden. Der Historiker:
„Das war auch auf den Warntafeln zu sehen, die einst an den Grenzen standen. Sie sollten die fahrenden Leute vom Betreten des Landes abhalten. Später wurden die Fahrenden gebrandmarkt. RBO bedeutete dann ‚relegatus Bohemiae‘, also ‚aus Böhmen ausgewiesen‘. Wurde jemand mit diesem Zeichen dann aufgegriffen, galt er als Wiederholungstäter, und mit ihm wurde härter verfahren. In der Zeit der schlimmsten Verfolgung hieß es, dass alle Roma schon einmal des Landes verwiesen worden seien. Daher galten nach einer bestimmten Zeit alle, die aufgegriffen wurden, als Wiederholungstäter und wurden sofort mit dem Tod bestraft – Männer wurden aufgehängt, Frauen geköpft. Kinder oder Minderjährige wurden wieder ausgewiesen oder zur Umerziehung den Frauen weggenommen.“
Dabei wird mit Roma deutlich härter verfahren als mit anderen sogenannten „Streunenden“. Denn sie haben etwas in der frühen Neuzeit geradezu Ungehöriges: nämlich keinen Herren. Sie sind also niemandem untertan. Man kann sie auch nicht wie etwa Läuflinge, also entflohene Leibeigene, irgendwohin zurückschicken.
Schmiede und Pferdehändler
Als weitere Quellen dienen die Protokolle von Gerichtsverfahren gegen Roma. So sind in den Böhmischen Ländern aus den Jahren 1694 bis 1763 allein mehr als 500 Prozesse dokumentiert, in denen es um die Todesstrafe ging. Aus den Verteidigungsreden der Angeklagten lässt sich laut dem Historiker Himl zumindest erahnen, wie die Roma in den Böhmischen Ländern damals gelebt haben.
Schon zu den Zeiten der stärksten Verfolgung dürfen sich in Mähren aber auch einige Familien der Minderheit ansiedeln. Das bekannteste Beispiel ist der Schmied Štěpán Daniel und seine Angehörigen. Spätestens ab 1698 ermöglicht Dominik Andreas I. Graf von Kaunitz ihnen, sich in Uherský Brod / Ungarisch Brod niederzulassen. Gerade das Schmiedewesen gehört zu den traditionellen Gewerben der Roma. Und weiter Pavel Himl:
„Ein etwas stereotypes Bild war jenes der Roma als Pferdehändler. Ansonsten ließen sie sich wie weitere Nicht-Sesshafte zu Arbeiten auf den Feldern anstellen. Zudem hatten sie ihr Auskommen sozusagen als Spezialisten für Magie, vor allem sagten sie die Zukunft vorher oder halfen bei kleineren Problemen. Dafür gab es Bedarf, auch wenn ihnen genau dies bei den Ermittlungen häufig zur Last gelegt wurde.“
Auch über die religiösen Vorstellungen der Roma ist einiges bekannt. Selbst zählen sie sich zum katholischen Glauben. Allerdings wird ihnen von der eingesessenen Bevölkerung angelastet, sich nicht sehr genau an die Vorgaben der Kirche zu halten. Tatsächlich pflegen sie damals auch animistische Bräuche. Da zeigen sich die vielen Einflüsse, die sie auf ihrer Reise von Indien nach Europa in die eigene Kultur aufgenommen haben.
Ab Mitte des 18. Jahrhunderts beginnt sich die Einstellung der Obrigkeit zu den Roma zu wandeln.
„In der Praxis waren die Strafen nicht mehr so streng wie zuvor. Dass die ‚Fahrenden‘ keiner Obrigkeit untertan waren, verlor an Bedeutung. Sie wurden nicht mehr des Landes verwiesen, sondern zurück an den Ort ihrer Herkunft geschickt, also wo sie zum Beispiel geboren waren. Keine Rolle spielte dabei, ob sie dem dortigen Herrn auch wirklich unterstellt gewesen waren“, so Himl.
Kaiserin Maria Theresia und Kaiser Joseph II. ändern also die Politik gegenüber den Roma. Man verfolgt und verbannt sie nicht mehr, sondern will sie „zivilisieren“. Oder andersherum: Während sie sich zuvor nicht ansiedeln durften, will man sie nun unter Zwang genau dazu bringen.
Das Problem ist jedoch, dass sie an den meisten Orten weiterhin nicht willkommen sind. So können sich nur wenige Roma-Familien bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in mährischen und böhmischen Gemeinden ansiedeln. Dazu die Expertin Sadílková:
„Eines der bekanntesten Beispiele ist die Roma-Comunity in Svatobořice. Sie befand sich am Ortsrand in Richtung Kyjov. Erst allmählich arbeiteten sich die Bewohner in Richtung des Ortes vor. So gelang es einer Familie, dort ein Haus zu kaufen. Es dauerte aber lange, bis ihnen auch das Heimatrecht gewährt wurde. Diese Entwicklung zog sich noch das ganze 19. Jahrhundert hin, bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. In Svatobořice wurde einigen Roma-Familien erst 1928 das Heimatrecht verliehen.“
Zunehmend setzt der Staat dabei moderne bürokratische und polizeiliche Mittel ein. Im sogenannten „Landstreichergesetz“ von 1873 wird zum Beispiel verfügt, dass alle „unterstands-, arbeits- und mittellosen Menschen“ mit Arrest bestraft werden sollen. Ab 1885 können solche Leute in Zwangsarbeits- und Besserungsanstalten eingewiesen oder zu Zwangsarbeit für die Heimatgemeinde verpflichtet werden.
Legionäre im Ersten Weltkrieg
Während sich zahlreiche Gemeinden gegen die Ansiedlung von Roma wehren, wenden sich diese zunehmend an übergeordnete Behörden, um ihr Recht zu erhalten. Und so entstehen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts in Böhmen und Mähren viele Roma-Siedlungen.
Auf der anderen Seite ergeben sich für diese Minderheit dadurch auch dieselben Pflichten wie für den Rest der Bevölkerung. So etwa während des Ersten Weltkriegs. Helena Sadílková:
„Als Bürger Österreich-Ungarns wurden Roma auch zur Armee eingezogen. Und einige von ihnen wechselten sogar in die tschechoslowakischen Legionen, um für einen eigenständigen Staat zu kämpfen. Über dieses Thema wird derzeit geforscht, wobei einige Familiengeschichten im Mittelpunkt stehen. Die traurige Nachricht dabei ist, dass auch diese Menschen während des Zweiten Weltkriegs dann in sogenannte Zigeunerlager kamen. Aber schon in der Ersten Republik hatten sie nur eine unterprivilegierte Stellung in der Gesellschaft.“
Oder anders gesagt: Ihr Leben riskieren durften sie, aber anerkannt wurden sie trotzdem nicht.