Von der Kirmes zur Kunst: Geschichte des tschechischen Puppentheaters

Foto: Mährisches Landesmuseum Brünn

Menschen verleihen ihnen seit jeher ihre Stimmen, um sie Geschichten erzählen zu lassen - über das Gute und Böse, das Groteske oder das Ernsthafte im Leben. Sie hießen Punch wie in England, Petruschka wie in Russland und Kasperl oder Hanswurst wie im deutschen Sprachraum. Es geht also um Puppen oder Marionetten. Diese Puppen waren auf jeden Fall Vorgänger des Kašpárek, der wiederum aus der Geschichte des tschechischen Puppentheaters nicht wegzudenken ist. Und dieses Theater hat einen langen Weg zurückgelegt: von der einfachen Kirmeskomödie zum niveauvollen Kunstgenre.

Kašpárek und Gespenster, Kašpárek und Čaraburda, Kašpárek und Indianer - wer weiß, wie all die Puppentheaterstücke heißen, in denen der tschechische Kasper auftaucht. Um etwas mehr Licht auf den Beginn seiner Bühnenauftritte wie auch auf die Geschichte des Puppenspiels in Böhmen zu werfen, müsste man weit ins 18. Jahrhundert zurückblicken. Der legendäre Václav Matěj Kopecký und seine Nachkommen legten damals die Fundamente für die tschechischsprachige Puppenspieltradition. Sie zogen mit ihrem Wandertheater durch die böhmischen Lande. Seitdem hat das Puppentheater eine große Entwicklung erlebt.



Václav Matěj Kopecký
Ab Beginn des 20. Jahrhunderts an schossen Vereine wie Pilze aus dem Boden, die sich im Rahmen ihrer Haupt- oder Nebentätigkeit mit viel Enthusiasmus dem Puppentheater für Kinder widmeten. Selbst der Turnvereins Sokol war daran beteiligt. Das massive Interesse am Puppenspiel wurde auch von der weltweit ersten Fachzeitschrift mit dem Titel „Český loutkář“ / „Tschechischer Puppenspieler“ befeuert. Ab der Gründung der Ersten tschechoslowakischen Republik im Jahr 1918 erlebte das Puppentheater seine goldene Zeit. Etwa 2000 Amateurensembles spielten damals regelmäßig für Kinder. Das wirkte sich auch bald auf den häuslichen Bereich aus, wie eine Ausstellung veranschaulicht, die bis Ende April im Dietrichstein-Palais im südmährischen Brno / Brünn zu sehen ist.

Foto: Mährisches Landesmuseum Brünn
Unter dem Titel „Marionetten-Haustheater - bescheidene Bühne der Musen“ dokumentiert die Ausstellung die einzigartige Entwicklung des tschechischen Puppentheaters. Dazu wurde eine repräsentative Auswahl von rund 100 Jahre alten Marionetten, Kulissen und anderen Dekorationen zusammengestellt. Jaroslav Blecha, Kurator der Ausstellung und Leiter der Puppenspielabteilung im Mährischen Landesmuseum Brünn:

„Das Marionetten-Haustheater hat in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen Boom erlebt. Als Vorbild diente die alte Tradition böhmischer Marionetten-Haustheater, die bis zur Jahrhundertwende mit ihren kleinen Wanderbühnen von Wirtshaus zu Wirtshaus zogen. Nun wurden aber die Guckkastenbühnen sowie die Vollfadenmarionetten in Serienproduktion gefertigt. Immer öfter wurden sie auch von Berufskünstlern entworfen oder angefertigt. In das Metier wurden auch renommierte Intellektuelle als Autoren eingebunden, was dem Guckkastentheater viel Prestige einbrachte. Viele Eltern spielten zu Hause für ihre Kinder und deren Freunde, oder auch für ihre erwachsenen Freunde. Oft auch mit viel Kreativität.“

Foto: Mährisches Landesmuseum Brünn
Die Exponate gehören zum Fundus des Brünner Puppentheaters „Radost“. Mit „nur“ 2000 Marionetten gehört der Fundus zwar nicht zu den größten in Tschechien, kaum aber lässt sich ein anderes Puppentheater hierzulande finden, das so gründlich seine Produktionen der vergangenen 60 Jahre dokumentiert hat. Nach jeder Derniere - der letzten Darbietung einer jeden Inszenierung also – wurden jeweils die drei schönsten Marionetten archiviert. Der mittlerweile historische Marionettenfundus soll im Juni im neuen, architektonisch einzigartigen Museum des Puppentheaters „Radost“ untergebracht werden. Das im Bau befindliche Museumsgebäude wird die Gestalt eines hölzernen Schiffes haben, das die Marionetten symbolisch ins reale Leben fahren soll. In wechselnden Ausstellungen werden hier Sammlungen von je 200 Marionetten der Öffentlichkeit vorgestellt.

Foto: Mährisches Landesmuseum Brünn
Rauf und runter – so etwa verlief der Weg des tschechischen Puppentheaters seit der Mitte des 20. Jahrhunderts. Oft spiegelte sich dabei das gesellschaftspolitische Geschehen wider. Nach 1949 entstand in der Tschechoslowakei allmählich ein Netz von Puppentheatern, die vom Staat im Rahmen seiner Kulturpolitik finanziert wurden. Das Regime wollte die – wie es hieß - sozialistische Kindererziehung auch über dieses Gebiet der Kunst kontrollieren. Traditionelle Vereine jeder Art wurden zwangsweise aufgelöst. Auch ein Teil der Puppenspielensembles musste seine Tätigkeit beenden. Andere erhielten neue Betreiber und spielten unter dem Patronat verschiedener Kulturklubs, die damals landesweit von Betriebsgewerkschaften oder Kultureinrichtungen gegründet wurden.

Lenka Lázňovská
Von einer breit angelegten Amateurbewegung konnte keine Rede mehr sein. Doch noch vor der politischen Wende von 1989 erlebte das Puppentheater einen Wandel zum Besseren. Das behauptet Lenka Lázňovská, Expertin für Laientheater und Leiterin des Nationalen Informations- und Beratungszentrums für Kultur.

„Im Zeitraum von Mitte der 1980er bis Mitte der 1990er Jahre erreichte die Amateurszene des tschechischen Puppenspiels einen neuen Höhepunkt. Es entstand eine ganze Reihe von Ensembles, die als Bahnbrecher viele neue Impulse in das Amateurtheater brachten. Neben dem klassischen setzte sich auch das moderne Puppentheater als Kunstgattung durch, das viel Wert auf ästhetische Normen legt und das Poetische unter anderem auch mit einer breiten Palette an nonverbalen Mitteln auszudrücken weiß.“

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Während der 1990er Jahre sei es jedoch wieder bergab gegangen. Davon erhole sich das Puppentheater erst seit kurzem wieder, behauptet Lázňovská. Mit dem Einzug des Kapitalismus musste auch die Finanzierung anders geregelt werden, viele Amateurbühnen verloren daher nach 1989 ihr Dach über dem Kopf. Gleichzeitig aber sind wiederum neue Puppentheater entstanden, deren Ensembles auf professioneller oder halbprofessioneller Basis funktionieren. Derzeit gibt es in Tschechien neun professionelle Puppentheater und über 80 Amateurbühnen. Lenka Lázňovská erläutert, warum sie der Zukunft des Puppentheaters in Tschechien mit Optimismus entgegensieht.

Foto: Mährisches Landesmuseum Brünn
„Meiner Meinung nach haben in letzter Zeit immer mehr junge Menschen zum Puppenspiel als einem Mittel der Selbstreflexion zurückgefunden. Es sind Menschen im Alter bis zu 30 Jahren, die sich dem Puppenspiel zugewandt haben, um ihre Erfahrung der heutigen Welt auszudrücken.“

Viele von ihnen studieren an der Hochschule für Puppenspielkunst, die seit über 50 Jahren als eine der Fakultäten der Prager Akademie der Musischen Künste besteht. Das Puppentheater will auch eine Alternative zum heute dominanten Zeitvertreib am Computer bieten.


Dieser Beitrag wurde am 12. Februar 2011 gesendet. Heute konnten Sie seine Wiederholung hören.