„Wir haben die EU durch die Probleme hindurchgelotst“ – Außenminister Lipavský im Interview für RPI
Tschechien hat ein relativ erfolgreiches halbes Jahr der EU-Ratspräsidentschaft hinter sich. Auf der anderen Seite stellt der russische Krieg gegen die Ukraine den Westen vor schwere Probleme und ist auch eine Prüfung für die Politik in Prag. Der tschechische Außenminister Jan Lipavský (Piraten) spricht über diese und weitere Themen in einem umfangreichen Interview für die englischsprachige Redaktion von Radio Prag International, das wir zusammengefasst haben.
Die aktuelle tschechische Regierungskoalition ist seit etwas mehr als einem Jahr im Amt. Eines der Ziele war, das Land nach der Politik des liberal-populistischen Premiers Andrej Babiš (Partei Ano) wieder in die europäische Mitte zu führen. Dazu nutzte das Kabinett die EU-Ratspräsidentschaft in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres. Um diesen Erfolg geht es unter anderem im Gespräch von Radio Prag International mit dem tschechischen Außenminister Jan Lipavský, das die englischsprachige Redaktion am Samstag in voller Länge gesendet hat. Unter anderem sagte Lipavský, dass er froh sei, von unterschiedlichen Seiten lobende Worte über die Ratspräsidentschaft zu hören. Man habe sich in den sechs Monaten einen guten Ruf bei den EU-Partnern gemacht:
ZUM THEMA
„Wir haben Europa gezeigt, dass wir ein konstruktiver Partner sind. Wir haben Fähigkeiten als Manager bewiesen, sind mit gutem Beispiel vorangegangen und haben einige wichtige Kompromisse erzielt. Im Mittelpunkt steht harte Arbeit, wenn die Dinge manchmal sehr delikat sind. Vor allem die Sanktionen gegen Russland oder die Debatte über die Energiesicherheit und die Energiekrise, die Wladimir Putin zu verantworten hat, waren heiße Eisen. Wir haben die EU durch diese Probleme hindurchgelotst, genau das war unsere Rolle.“
Sofort nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar vergangenen Jahres nahm Tschechien eine deutliche Position ein. Es war zum Beispiel das erste EU-Land, das Waffenlieferungen an Kiew beschloss.
Warnungen vor Russland
Gerade in jenen Staaten, deren Territorien früher zum Ostblock gehört haben, gab es eine entschlossene Unterstützung der Ukraine. Wohingegen die großen EU-Nationen wie Deutschland oder Frankreich eher zögerlich reagierten. Das sei durchaus eine Herausforderung gewesen, bekennt Lipavský.
„Wir müssen unsere Haltung und unsere Ängste erläutern. Wir – also Tschechien, Polen und die baltischen Länder – sprechen dabei über unsere historischen Erfahrungen mit der Vorherrschaft Moskaus. Je länger Putin seinen Krieg führt, desto mehr westliche Länder Europas hören uns zu und nehmen unsere Warnungen ernst“, so der Außenminister.
Keinen Erfolg hatte Tschechien jedoch, die EU auf eine einheitliche Linie zu bringen bei Touristenvisa von russischen Bürgern. Während hierzulande diese nicht mehr verlängert wurden, hat Deutschland bis heute nicht zu dieser Maßnahmen gegriffen. Das wirft auch die Frage auf, wie viel Schuld eigentlich auf die normalen russischen Bürger fällt, die mittlerweile schon fast in einer Diktatur leben und selbst für die Verwendung des Begriffs „Krieg“ bereits mit harten Strafen rechnen müssen. Im Interview verweist Jan Lipavský darauf, dass dies fast schon eine philosophische Frage nach der Kollektivschuld von Nationen sei. Und weiter:
„Wir wissen genau, wer den russischen Truppen die Anweisungen gegeben hat. Putin und seine Führung haben entschieden, dass Russland die Ukraine angreift. Sie sollten sich dafür verantworten. Tschechien unterstützt deswegen die Idee eines Ukraine-Tribunals, um die Verbrechen aufzuklären, die gegen die UN-Menschenrechtscharta verstoßen. Und in vielen Fällen wissen wir auch, wer konkret die spezifischen Kriegsverbrechen wie in Butscha begangen und wer sie angeordnet hat. Also welcher Oberst dies war, und in manchen Fällen kennen wir auch die genauen Namen der Soldaten, die von Tür zu Tür gegangen sind und unschuldige Zivilisten getötet haben – Männer, Frauen, alte Menschen, Kinder.“
Als Reaktion auf den russischen Angriff auf die Ukraine haben die EU-Staaten mittlerweile neun Sanktionspakete verabschiedet, drei davon während der tschechischen Ratspräsidentschaft. Laut Außenminister Lipavský zeigt sich auch bereits die Wirkung…
„Vor allem sehen wir, dass Russland versucht, westliche Technik zu beschaffen. Denn die russische Wirtschaft kann viel kriegswichtiges Gerät nicht selbst herstellen, etwa hocheffiziente Waffensysteme. Dabei müssen wir im Blick haben, auf welchem Weg der Kreml versucht, die Sanktionen zu umgehen. Aber natürlich ist die größte Herausforderung, die Sanktionen aufrecht zu erhalten. Sie müssen alle sechs Monate verlängert werden, was bedeutet, dass die Maßnahmen jedes Mal neu diskutiert werden. Da braucht es große Bemühungen“, sagt der tschechische Chefdiplomat.
Doch wie könnte der russische Krieg gegen die Ukraine zu einem Ende gebracht werden? Dies sei eine schwere Frage, gesteht Jan Lipavský:
„Es geht nicht so sehr darum, eine Vision zu entwickeln, wie der Krieg zu Ende gehen kann. Sondern es geht vielmehr darum, der Ukraine zu versichern, dass wir nicht ohne sie über einen Frieden verhandeln werden. Und dass wir nicht die Grundprinzipien der UN-Charta und die Weltordnung verlassen, wie sie nach Ende des Zweiten Weltkriegs geschaffen wurden. Das Grundprinzip besagt, dass Grenzen nicht mit brutaler Aggression verändert werden dürfen.“
Austerlitz-Format anstatt Visegrád
Innerhalb Europas ist Tschechien in mehrere lockere Zusammenschlüsse eingebunden. Der älteste davon ist die Visegrád-Gruppe, zu der noch Polen, Ungarn und die Slowakei gehören. Kürzlich sagte Jan Lipavský, die Visegrád-Treffen seien ein Diskussionsforum. Dies war wohl eine Reaktion darauf, dass der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán trotz der russischen Aggression gegen die Ukraine weiter mit Wladimir Putin verbandelt ist. Sind die Visegrád-Vier also überhaupt noch ein effektives Instrument?
„Wäre die Atmosphäre in der Visegrád-Gruppe besser, würde ich sehr viel mehr in diesem Format machen. Denn es ist über 30 Jahre alt und wurde noch zu Zeiten der Tschechoslowakei als Dreierbündnis gegründet. Dahinter standen Persönlichkeiten wie Václav Havel und Lech Wałęnsa. Ich muss schon sagen, dass die Atmosphäre sehr angespannt und die Kooperation nicht sonderlich aktiv ist. Das heißt aber nicht, die Visegrád-Vier als solche zu verwerfen“, so Lipavský.
Dennoch verweist der Außenminister auf ein weiteres Format, in dem seinen Aussagen nach derzeit mehr geschieht: das sogenannte Austerlitz-Format…
„Ich habe zwei meiner drei Besuche in Kiew unter der Schirmherrschaft des Austerlitz-Formats angetreten – also mit meinen Amtskollegen aus der Slowakei und Österreich. Und wir unternehmen immer mehr in dieser Konstellation.“
Dies bedeutet auch eine Änderung gegenüber der Politik der vorangegangenen Regierung in Prag. Ebenso stellt das aktuelle Kabinett die tschechischen Beziehungen zu China in Frage. Noch 2014 war vom damaligen sozialdemokratischen Premier Bohuslav Sobotka ein Reset im Verhältnis zu Peking lanciert worden. Das bedeutete damals das Bemühen um gute Beziehungen zu China auch zum Preis, über Menschenrechtsverletzungen hinwegzusehen. Jan Lipavský:
„Ich denke, dies war ein Versuch, der sich in der damaligen Form als falsch erwiesen hat. Wir dürfen unsere Werte nicht aufgeben, vor allem wenn wir sehen, wie die Ukraine wortwörtlich für unsere Werte kämpft. Auf diese Weise der chinesischen Seite entgegenzukommen, ist nicht richtig. Unsere Beziehungen zu China sollten pragmatischer Natur sein. Wir müssen auf der einen Seite unsere Grundwerte schützen und auf der anderen Seite unsere Handelsmöglichkeiten nutzen.“
Wenn der Außenminister über Grundwerte spricht, was hat er dabei aber alles im Sinn?
„Die Freiheit des Menschen, die Demokratie, das Recht auf freie Meinungsäußerung – es ist all das, was in unserer westlichen Art zu leben erlaubt ist. Wenn man aber rund um die Welt schaut, sieht man, dass dies nichts Selbstverständliches ist und es international geschützt werden muss.“
Auch im Konkreten bemüht sich Tschechien, diese Werte durchzusetzen. Lipavský schildert:
„Unsere Menschenrechtspolitik ist stark darauf fokussiert, Journalisten zu helfen und Kapazitäten für freie Medien aufzubauen. Wir betreiben einige Projekte in diesem Bereich. Tschechien ist Mitglied in der Media Freedom Coalition (Koalition für die Freiheit von Medien, Anm. d. Red.), die in Reaktion auf Chinas Inbesitznahme von Hongkong gegründet wurde. Dies ist eine langfristige Investition. Und Václav Havel sagte: Wenn wir uns nicht um die Probleme anderer kümmern, dann wird sich auch niemand um uns kümmern.“
Aber der Außenminister hat neben diesem Langstreckenlauf auch noch kurzfristigere Ziele, die er gerade im neu angebrochenen Jahr angehen möchte:
„Ich will Tschechien gerne in weiter entfernten Gegenden der Welt bekanntmachen – wie Südamerika, Afrika und Asien. Deswegen plane ich Reisen dorthin, so werde ich zum Beispiel eine Wirtschaftsdelegation nach Indien anführen. Aber natürlich geht es auch um den Krieg in der Ukraine. Wir müssen weiter Lösungen finden für viele Folgen der russischen Aggression wie die Fluchtbewegung oder die Energiekrise. Und nicht zuletzt schreiben wir unsere Sicherheitsstrategie und unsere außenpolitische Strategie um. Auch das füllt unsere Tage am Ministerium aus.“