90. Jubiläum der Tschechoslowakei - Litfasssäulen erzählen
Staubige Bücher, dämmrige Museen, einschläfernde Vorträge – kurzum: gähnende Langeweile. Das ist Geschichte! Oder besser gesagt, viele Menschen glauben, dass Geschichte so sei. Es ist also kein Wunder, dass sie um historische Themen einen großen Bogen machen. Diesem Problem sahen sich Eugen und Zuzana Brikcius ausgesetzt. Ihr Vorhaben: Eine Ausstellung zum 90. Jahrestag der Gründung der Tschechoslowakei. Doch was bringt eine Ausstellung in einem Museum, wo sie kaum jemand anschaut? Es musste also eine andere Lösung gefunden werden.
„Unter der Führung von Major Nustík, der das Bataillon in der ersten Frontlinie führte, verließen die Soldaten um 3 Uhr die Schützengräben und marschierten über die Sümpfe weiter. Sie waren ständig unter Beschuss. Die Reihen wurden immer dünner, aber diejenigen die überlebten, sind immer weiter voran gedrungen. Und schon erreichten sie die ersten Häuser des Dorfs, durch das Beispiel ihrer mutigen Befehlshaber ermuntert. In einer Stunde hatten sie das Gebiet unter ihre Kontrolle gebracht. The New York Times, am 25. Oktober 1918.“
Der Artikel der New York Times beschreibt eine Offensive der tschechoslowakischen Legionäre, die an der Westfront in Frankreich bei Terron kämpften. Kurz vor der geschilderten Offensive – am 21. Oktober 1918 – hatten die Soldaten die erfreuliche Nachricht über die Bildung einer tschechoslowakischen Regierung erhalten. Der Zeitungsartikel ist eines der Dokumente, die auf der ersten Station der Plakatausstellung zu lesen sind. Mit dem Vortragen des Dokuments und Musik wurde die Straßenausstellung eröffnet. Die historische Präsentation auf Plakaten wurde von Eugen und Zuzana Brikcius initiiert. Das Aktionskünstlerehepaar führte die interessierten Passanten von der Kleinseite über die Mánes-Brücke durch die Altstadt bis zum Platz der Republik. Bei der Eröffnung sprach ich mit Zuzana Brikcius: Wie kamen Sie überhaupt auf die Idee einer solchen Ausstellung?„Eine Idee dieser Art haben wir eigentlich schon voriges Jahr realisiert und zwar zum Jubiläum von Tomáš Garrigue Masaryk. Die ursprüngliche Idee hatte ich in Wien bei einer ähnlichen Ausstellung die zum Jubiläum von Sigmund Freud gemacht wurde. Und nachdem es im letzten Jahr ein Erfolg war, haben wir uns entschieden auch eine Ausstellung zum Thema ‚Die Entstehung der Tschechoslowakei 1918’ zu machen.“
Vom Vojan-Park ging es um die Ecke nach Klárov, wo am Eingang zur Metro-Station weitere Plakate zum Geschehen des turbulenten Jahres 1918 installiert wurden. Da stellt sich natürlich die Frage, für wen die Ausstellung vor allem bestimmt ist?
„Wir haben sie für die ganz normalen Prager konzipiert und sie ist auch sehr gut für Kinder geeignet, denn sie zeigt nicht die langweilige Chronologie, die für Kinder uninteressant ist. Wir haben überlegt, welche Zitate, welche Schriften, welche Auszüge aus der authentische Zeit besonders interessant wären und das sind solche, die nicht notorisch bekannt sind. Deshalb ist es gerade für Kinder spannend, weil es nicht der Stoff ist, der in normalen Schulbüchern zu finden ist. Die Ausstellung richtet sich also sowohl an die Leute, die auf die Straßenbahn warten als auch an Gruppen, die sich für genau dieses Thema interessieren. Aber natürlich ist die Ausstellung nicht nur für Prager, sondern auch für viele Bürger der Tschechischen Republik, die sich dafür interessieren.“ Den Spaziergang durch die Geschichte des tschechoslowakischen Staates kann man auf dem rechten Moldauufer fortsetzen: auf den Litfasssäulen bei der Kunstgewerbehochschule und beim Tanzkonservatorium findet man Dokumente über die Erste Republik, die Nazi-Okkupation sowie die ersten Nachkriegsjahre bis hin zum kommunistischen Putsch von 1948. Durch die Kaprova kommt man über den Altstädter Ring weiter zum Obstmarkt. Gegenüber dem Haus zur Schwarzen Mutter Gottes, in dem das Museum des Kubismus untergebracht ist, hat Ehepaar Brikcius die Station Nr. 5 platziert. Die Plakate umfassen die Jahre des Kommunismus – von 1948 bis 1989. Am Repräsentationshaus vorbei, geht es weiter durch die Straße V Celnici zum Masaryk-Bahnhof. Auf der Litfasssäule an der Ecke der Straße Na Florenci und Havlíčkova befindet sich die Fortsetzung der historischen Präsentation. Das Ende der Ausstellung markiert eine Plakatwand bei der St. Josef-Kirche in der Straße Na Poříčí. Hier erfährt der Betrachter etwas über das letzte Jahrzehnt der Tschechischen Republik. Das letzte Plakat behandelt die EU-Ratspräsidentschaft im kommenden Jahr. Selbst für Zuzana Brikcius ist es schwierig zu entscheiden, welches der Dokumente denn nun am bedeutendsten ist:„Eines der wichtigsten ist sicherlich dasjenige, das den Brief oder letzten Aufruf des Studenten Jan Palach, der sich selbst, als Demonstration gegen den Einmarsch der sowjetischen Armee und der Truppen des Warschauer Pakts 1968, verbrannt hat, thematisiert. Er wollte damit die Bevölkerung zum Widerstand aufrufen und ein Zeichen gegen die Armee des Warschauer Paktes und die Zensur setzen. Das ist meiner Meinung nach das wichtigste Dokument. Das Zitat, das dabei stand, stammt von Svatopluk Karásek, einem tschechischen Politiker, evangelischem Priester und ehemaligem Dissidenten und lautet: „Sag dem Teufel nein“. Dieser Spruch ist zeitlos und besagt, dass die Bevölkerung selbst entscheiden sollte, was gut und böse ist und danach handeln.“Die Ausstellung wird in den Prager Straßen noch bis zum 3. November zu sehen sein. Zuzana Brikcius hofft auf ein reges Interesse:
„Wir möchten mit dieser Ausstellung den Bürgern ein bisschen mehr über die Tschechische Republik und die Tschechoslowakei erzählen. Das ist wie ein Märchen, dass wirklich passiert ist: ab und zu mit gutem Ende, ab und zumit schlechtem Ende. Wir waren selbst erstaunt darüber, wie faszinierend die Gischte der Gegenwart ist und dass wir noch viel für heute aus ihr lernen können.“Damit sind wir nicht an der letzten Station der Plakatausstellung, sondern auch fast an das Ende des heutigen Spaziergangs durch Prag angelangt. Zuzana Brikcius hat während der Führung den Studenten Jan Palach erwähnt. Palach hat sich im Januar 1969 verbrannt, um das Volk aus der Lethargie wachzurütteln, die in der Gesellschaft nach der Okkupation der Tschechoslowakei durch die Warschauer Pakt-Staaten herrschte. Falls Sie wissen an welcher Fakultät der Karlsuniversität Jan Palach studierte, können Sie es uns schreiben. Denn so lautet die heutige Frage zur Sendung. Das Fakultätsgebäude steht auf dem Platz, der heute den Namen von Jan Palach trägt. Ihre Zuschriften richten Sie bitte an Radio Prag, Vinohradská 12, PLZ 120 99 Prag 2, Tschechien.
In der Sendung vor vier Wochen fragten wir Sie nach dem deutschen Namen der Straße Celetná – es ist die Zeltnergasse. Ein Buch über Prag geht an Claus Bothe aus Oberstdorf.