6) Franz Kafka in Siřem: Dorfidylle und ein weiteres geheimnisvolles „Schloss“
Als bei Franz Kafka Tuberkulose diagnostiziert wurde, sollte ihm die Ruhe des kleinen Dorfes Siřem / Zürau Erholung verschaffen. In der Nähe seiner beiden Schwestern Elli und Ottla genoss Kafka die dortige Natur und frische Luft. Zudem wirkte das geheimnisvolle Speichergebäude inspirierend auf den Schriftsteller.
Von dieser Brücke aus sei K. in das Dorf gekommen. So berichtet es David Herblich, während er auf jener Straßenüberführung steht und in Richtung Siřem zeigt. K. ist natürlich die Hauptfigur in Franz Kafkas Roman „Das Schloss“, und Herblich verortet das Geschehen des Buches in seinem Heimatdorf.
Es scheint, dass jeder seinen Teil von Franz Kafka abhaben möchte. Wurde uns im Rahmen unserer Serie schon beim Besuch in Frýdlant berichtet, dass das dortige Schloss sehr wahrscheinlich die Vorlage für Kafkas berühmten Roman gewesen sei, hören wir etwas ganz Ähnliches nun in Siřem. Tatsächlich hielt sich der Schriftsteller mehr als ein halbes Jahr lang in dem nordböhmischen Dorf auf. Von September 1917 bis April 1918 machte er dort eine Kur wegen der gerade diagnostizierten Tuberkuloseerkrankung. Weiter führt Herblich aus:
„Direkt vor uns, auf der Anhöhe hinter dem Dorf, ist der Speicher zu sehen, der den Eindruck eines Schlosses macht. K. läuft von hier aus weiter. In dem zweiten Haus rechts war zu der Zeit ein Gasthof, der zur Brauerei gehörte. Und links sehen wir die Schmiede des Ehemanns der Wirtin von gegenüber. Bei ihr fand K. seine Unterkunft, und auch Franz Kafka wohnte hier, wenn er nach Siřem kam.“
Herblich ist Gründer und Vorsitzender des Vereins „Siřem Franze Kafky“ (Das Siřem Franz Kafkas) und betreibt die zugehörige Galerie im Ort. Das Dorf befindet sich im historischen Sudetenland, wurde zu Kafkas Zeiten Zürau genannt und war damals noch um einiges größer. Warum kam der Schriftsteller am 12. September 1917 gerade hierher?
„Kafkas Schwager Karl Hermann lebte hier, der Ehemann seiner ältesten Schwester Gabriele. Beide hatten einen Hof. Karl stammte aus einer großen Familie, der im Ort mehrere Gebäude gehörten. Franz Kafka war hier nicht nur einmal, sondern öfter. 1917, während des Krieges, kam er sozusagen zum Erholungsurlaub her. In Prag hatte er einen Blutsturz gehabt. Und weil es in Siřem einen zweiten gab, kehrte er nicht gleich wieder zur Arbeit zurück, sondern blieb acht Monate lang bis zum Frühling 1918. Zu dieser Zeit war auch seine Schwester Ottla hier. Sie half Gabriele auf dem Gutshof.“
Einige Fotografien von Kafka in Siřem sind von seinen Arbeitskollegen aufgenommen worden, die ihn dort besuchten. Sie hängen in einer Glasvitrine im Dorf. Gleich das erste Bild würde darauf hinweisen, so Herblich, dass der Literat im Haus Nummer 15 gewohnt habe:
„Man sieht darauf den Blick durch das ganze Haus, aufgenommen vom Hof aus. Wie man sich vor Ort überzeugen kann, gibt es dort anstelle der Hintertür heute ein Fenster. Das Haus im Hintergrund des Bildes befindet sich uns gegenüber. Auch die alte Akazie steht immer noch. Dieses Foto ist sehr bekannt. Weniger bekannt ist hingegen das zweite, das vor der Scheune aufgenommen wurde. Dort steht Ottla mit den Arbeitskollegen Kafkas aus Prag. Eine weitere Aufnahme zeigt Franz Kafka in Richtung des Nachbardorfs Soběchleby sowie erneut Ottla in derselben Bekleidung vom gleichen Tag und die Sekretärin Kafkas aus Prag.“
Kafka-Forscher haben es offenbar nicht leicht gehabt zu erkunden, wo in Siřem genau der Besucher aus Prag untergebracht war. Dazu David Herblich:
„Die Wissenschaftler wurden durch eine Postkarte, die Kafka an Max Brod geschickt hat, auf die falsche Fährte geführt. Auf dieser hatte Kafka mit einem Pfeil kenntlich gemacht, wo er in Siřem wohnt. Das war allerdings falsch. Ottla korrigierte dies und verwies auf das Haus Nummer 35, das am Ort des heutigen Spielplatzes stand. Die Forscher fanden heraus, dass es nicht den Hermanns gehörte, Kafka anfangs dort aber wirklich wohnte. Allerdings wurde er durch das Klavierspiel von gegenüber gestört. Er schrieb, dass sich das einzige Piano Nordböhmens ausgerechnet im Haus gegenüber befinde.“
Dies war im Haus Nummer 1. Die Tochter der Klavierspielerin würde immer noch jedes Jahr aus Deutschland nach Siřem kommen, so Herblich, und habe ihm sogar einige Fotos ihrer Mutter zur Verfügung gestellt.
Kafka hilft bei Arbeit im Schweinestall
Aber es war nicht nur das Klavierspiel. Auch die Fuhrwerke, die vor seinem Fenster vorbeifuhren, störten Kafka in seiner Ruhe, ebenso wie herumlaufende Mäuse und Katzen. Also zog der Schriftsteller um – auf das Gut seines Schwagers mit der Nummer 15…
„Dort hatte er Ruhe. Auf den Feldern beobachtete er die Bauern beim Aussäen. Aus seinen Aufzeichnungen wissen wir außerdem, dass er selbst Kartoffeln erntete und oft zum Stall ging. In einem Brief an seine Verlobte Felice Bauer beschrieb er drei Seiten lang das Leben der Schweine.“
Er würde immer wieder neue Hinweise und Materialien zu Kafkas Aufenthalten in Siřem bekommen, wirft der Vereinsvorsitzende ein. In der Galerie des Dorfes würden auch regelmäßig Vorträge stattfinden. So wisse man etwa auch, dass der Kurgast öfter die Familie Feigl auf dem Nachbarhof besuchte. Diese hatte sieben Töchter, und Kafka gefiel eigenen Angaben zufolge die jüngste, die mitunter ein weißes Kaninchen auf der Schulter trug.
Viele Dokumente oder Zeitzeugenberichte gebe es allerdings nicht, räumt Herblich ein:
„Nach 1945 wurde die hiesige Bevölkerung ausgesiedelt. In den Mischfamilien blieben nur wenige Deutsche hier, die sich noch an Franz Kafka erinnerten. Er selbst schrieb Briefe und Tagebücher sowie ‚Die Zürauer Aphorismen‘. Eine große Debatte wird ja um ‚Das Schloss‘ geführt. Alle Häuser aus dem Roman kann ich Ihnen hier in Siřem zeigen – auch wenn es heißt, dass Kafka das Buch später, nämlich 1921 verfasste. Sogar Miloš Forman und Václav Havel waren in den 1960er Jahren hier und forschten nach, wo Kafka gewohnt hat. Leider haben sie nicht die noch lebenden Zeitzeugen aufgesucht, sondern haben sich an den Nationalausschuss gewandt. Dessen Vorsitzender sagte ihnen, dass er nichts von einem Franz Kafka wüsste.“
Mehrere Anläufe für angemessene Erinnerung
Wie ist David Herblich eigentlich dazu gekommen, die Erinnerung an Franz Kafka in Siřem neu aufleben zu lassen? Seine Verbindung zum Dorf gehe bis in die Kindheit zurück, erzählt der Kulturschaffende, als er nämlich in den Ferien hier immer seine Großeltern besuchte. Als Jugendlicher habe er dann gemeinsam mit seinem Vater Wanderer durch das Dorf geführt. Und weiter:
„Es gab einige Aktivitäten von Leuten, die Finanzen zur Instandsetzung des Schlosses sammeln und dort Unterkünfte einrichten wollten. Es ging um Projekte im zweistelligen Millionenbereich, die aber nie umgesetzt wurden. Auch eine Gedenktafel wurde feierlich enthüllt – aber am falschen Haus. Das hatte zwar den Hermanns gehört, aber Kafka hatte nie dort gewohnt. All das habe ich mir die ganze Zeit vom Fenster aus angeschaut, und es tat mir einfach leid, dass das Dorf immer weiter verfiel. Also entschied ich, nicht als Einzelner aufzutreten, sondern einen Verein zu gründen. So entstand 2008 ‚Siřem Franze Kafky‘.“
In dem Verein hat Helbrich nicht nur einige Mitstreiter versammelt, sondern auch verschiedene Kooperationen geknüpft. So findet in diesem Jahr etwa das Festival Deziluze in der Kafka-Galerie statt. DJs, Theater und Workshops im Do-it-yourself-Stil ließen für ein Wochenende eine Hyperrealität entstehen, heißt es in der Selbstdarstellung. Deziluze gebe es bereits im zehnten Jahrgang, sagt Mitorganisatorin Mariana Cimburová, aber nach Siřem komme man zum ersten Mal – und das auch mit Unterstützung des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds:
„Da in diesem Jahr der 100. Todestag von Franz Kafka ansteht, gab es mehrere Projektausschreibungen. Dadurch haben sich für uns viele neue Möglichkeiten eröffnet. Das Festival veranstalten wir nun in Zusammenarbeit mit der Kafka-Galerie und mit der Stadt Blšany. Geplant ist unter anderem eine Bühne im Speicher, dem vermeintlichen ‚Schloss‘. Außerdem wird es im Dorf mehrere Lichtinstallationen geben, um einige markante Punkte herauszuheben. So wird zum Beispiel die Kirche schön angestrahlt, denn wir mögen solche historischen Bauten sehr. Darum wollen wir sie in die Szenerie des Festivals einbeziehen.“
Auf dem Programm steht etwa auch ein Audiowalk, durch den Siřem mit den Augen Franz Kafkas erkundet werden kann. Bei den Performances und Konzerten sind unter anderem auch Künstler aus Berlin zu erleben.
Das Festival Deziluze findet vom 28. bis 30. Juni in Siřem statt. Tickets gibt es für 900 Kronen (37 Euro) unter deziluze.eu.
Der 100. Todestag von Franz Kafka bietet nicht nur die Möglichkeit, Kafkas Werk und Leben aus aktuellen und neuen Perspektiven zu betrachten. Alle Veranstaltungen, Ausstellungen, Vorträge, literarische Links sind auf der Website des Projekts Kafka2024 zu finden.
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Auf den Spuren von Franz Kafka
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