Ausstellung „Phänomen Baťa“ in der Prager Nationalgalerie
Von 1910 bis 1938 wuchs aus dem ostmährischen Dorf Zlín eine der wichtigsten Produktionsstätten der Tschechoslowakei. In diesem Zeitraum verzehnfachte sich die Einwohnerzahl von Zlín auf knapp 40.000 Menschen. Hinter diesem rasanten Aufschwung steht der weltberühmte Schuhhersteller Tomáš Baťa. Die Firma Baťa baute nicht nur ausgedehnte Werksanlagen. Eine ganze neue Stadt entstand. Mit Wohnsiedlungen, Kulturbauten und Freizeiteinrichtungen. All das streng geplant und nach funktionalistischen Grundsätzen. Eine neue Ausstellung in der Prager Nationalgalerie präsentiert das einmalige architektonische Erbe der Baťas.
Vergangene Woche wurde die Ausstellung im Prager Messepalast eröffnet. In dem 1928 fertig gestellten Bau der Architekten Bohuslav Fuchs und Oldřich Tyl zeigt die Tschechische Nationalgalerie Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts. Das Gebäude ist ein geradezu idealer Ort für eine Ausstellung über die Architektur in Zlín. Und zwar nicht nur wegen seiner großzügigen Räumlichkeiten. Es gilt als eines der Hauptwerke des tschechoslowakischen Funktionalismus. Doch macht eine Ausstellung in Prag überhaupt Sinn? Wäre nicht die Stadt Zlín ein viel geeigneterer Ort?
„Ich wurde gefragt, ob es mir nicht leid tut, dass diese Ausstellung nicht in Zlín stattfindet. Ich habe geantwortet: Nein, ganz und gar nicht. Das war unser Ziel. Wir, der Landkreis Zlín, wollen zusammen mit der Stadt Zlín einer möglichst breiten Öffentlichkeit zeigen, wie aus dem Dorf Zlín eine Stadt von überregionaler Bedeutung geworden ist, die heute sogar Kreisstadt ist“, so der Hauptmann des Landkreises Zlín, Stanislav Mišák. Die Bürgermeisterin der Stadt Zlín, Irena Ondrová, ergänzt:
„Ich bin sehr froh, dass wir ein Stück Zlín hier in Prag, in diesen beeindruckenden Räumen präsentieren können. Warum nicht in Zlín? Weil Zlín selbst ein Ausstellungsobjekt ist. Die ganze Stadt ist ein Exponat.“
Doch wie präsentiert man eine Stadt als Exponat? Das sei nicht einfach gewesen, gestehen die beiden Kuratorinnen der Ausstellung, Ladislava Horňaková und Radomíra Sedláková. Horňaková, die Leiterin der Zlíner Kreisgalerie, erläutert das Konzept der Ausstellung:
„Wir wollten, dass die Leute in der Ausstellung das Gefühl haben, sie sind jetzt in Zlín. Sie sollen ein wenig die Atmosphäre des Zlín der Zwischenkriegszeit spüren. Ich denke, in Zusammenarbeit mit den Architekten und Grafikern ist uns das auch gelungen. Außerdem haben wir noch eine Reihe von Fotografien von Josef Sudka verwendet, der im Jahr 1935 im Auftrag von Tomáš Baťa in Zlín fotografiert hat.“
Zurück noch einmal zum Funktionalismus: Was zeichnet diesen Baustil nun aus? Er stellt erstmals die Funktion des Gebäudes in den Vordergrund, ohne dabei die ästhetische Wirkung des Gebäudes zu vernachlässigen. Dank des rasanten wirtschaftlichen Aufschwunges in der jungen selbstständigen Republik sind in den 1920er- und 1930er-Jahren in der Tschechoslowakei Dutzende dieser Bauten entstanden. Die von außen zumeist recht unscheinbaren Gebäude überraschen in ihrem Innern mit oft geradezu revolutionären Ansätzen in der Raumaufteilung und mit zahlreichen technischen Finessen. Eines der berühmtesten Beispiele dafür – nicht nur in Tschechien, sondern auf der ganzen Welt – ist die Villa Tugendhat in Brünn, geplant vom weltbekannten Architekten Ludwig Mies van der Rohe. Das 1930 fertig gestellte Wohnhaus des Textilfabrikanten Fritz Tugendhat zählt seit 2001 zum Unesco-Weltkulturerbe. Neben der Villa Tugendhat finden sich in Brünn noch zahlreiche weitere wertvolle funktionalistische Gebäude: Die mährische Sparkasse, das städtische Bad, das Café Zeman, die Bahnhofspost.Die höchste Dichte an funktionalistischen Bauten hat aber mit Sicherheit die Stadt Zlín aufzuweisen. Das schachbrettartig angelegte Werksgelände der Firma Baťa wird vom Verwaltungsgebäude überragt. Mit 77,5 Metern Höhe war der 1938 eröffnete Bau das erste Hochhaus der Tschechoslowakei und nach dem so „Boerentoeren“ im belgischen Antwerpen das damals zweihöchste Gebäude Europas. Neben der Höhe besticht auch hier das Innere des Hochhauses: Erstmals wurden in einem Verwaltungsgebäude Großraumbüros eingerichtet. Ganz im Sinne von Tomáš Baťas Philosophie eines offenen Arbeitsklimas. Um effiziente Abläufe zu garantieren, war jeder Abteilung dabei ein Stockwerk zugewiesen. Marketing, Vertrieb, Personal, Verrechung. Alles übersichtlich gegliedert. Der Firmenchef selbst ließ sich sein Büro in einem überdimensionalen Aufzug einrichten. Damit konnte er überall dort sein, wo er gerade gebraucht wurde. Ohne seinen Schreibtisch verlassen zu müssen. Dieses technische Unikat ist bis heute erhalten und wurde gemeinsam mit dem Gebäude vor wenigen Jahren aufwändig renoviert.
In einem Punkt unterscheiden sich die Gebäude in Zlín ganz deutlichen von den funktionalistischen Bauten im Rest des Landes: Sind die funktionalistischen Bauwerke sonst fast immer in strahlendem weiß oder einem leichten Grauton gehalten, überwiegt in Zlín das kräftige Rot unverputzter Backsteine. Und auch die technische Lösung trägt die deutliche Handschrift des Meisters der Effizient Tomáš Baťa, wie Kreishauptmann Mišák erklärt:
„Diese Architektur ist vielleicht nicht schön. Aber sie ist sehr funktionell, durchdacht, effektiv, flexibel. Die Grundlage aller dieser Bauwerke ist ein Quadrat mit den Abmessungen von 6,15 Metern mal 6,15 Meter. In diesem Abstand stehen die Betonsäulen. Ganz egal, ob es sich dabei um eine Fabrikshalle oder eine Schule handelt. Der Raum zwischen diesen Säulen wurden dann je nach Bedarf mit Ziegeln vermauert, die dann zumeist unverputzt geblieben sind.“
In diesem Stil entstanden neben Dutzenden Fabrikshallen und dem Baťa-Firmensitz auch ein großes Hotel, Schulen und Internate. Doch Zlín ist nicht bloß eine Ansammlung von funktionalistischen Gebäuden. Tomáš Baťa und seine Nachkommen haben eine ganze Stadt auf dem Reißbrett entwerfen lassen:
„Wir wollen mit dieser Ausstellung zeigen, wie es möglich war, dass gemeinsam mit dem Aufbau einer Firma zur Entstehung einer ganzen Stadt gekommen ist. Wie aus einem bestimmten Stil, der von einem kleinen Kreis von Architekten entworfen wurde, eine Art Marketingkonzept für die Firma Baťa wurde“, so Kreishauptmann Stanislav Mišák. Auch der Generaldirektor der Nationalgalerie, Milan Knížák zeigt sich beeindruckt über das, was die Baťas innerhalb weniger Jahre in Zlín verwirklicht haben.
„Das war die einzige Utopie, die jemals funktioniert hat. Baťa hat seine Utopie von der neuen Welt tatsächlich umgesetzt. Dieses sozialistische Experiment hat bei ihm funktioniert. Seine Nachahmer, all die sozialistischen Regimes auf der Welt, die leider diesen ‚Staatskapitalismus’ eingeführt haben, sind gescheitert. Der Staat ist eben kein guter Unternehmer. Aber Baťa konnte diese Utopie verwirklichen. Obwohl er in alle Bereiche des täglichen Lebens eingegriffen hat, die Menschen ganz für sich und seine Firma beansprucht hat. Die Stadt Zlín selbst, das ganze Phänomen Baťa ist eine einzigartige Sache. Auf der ganzen Welt gibt es nichts Vergleichbares.“
Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht im Jahr 1939 flüchtete die Familie Baťa nach Amerika und setzte ihre Geschäftstätigkeit von Kanada aus fort. Der tschechoslowakische Firmenteil wurde bereits 1945 wegen angeblicher Kollaboration mit den Nazis verstaatlicht und unter dem neuen Namen ‚Svit’ weitergeführt. Nach der Machtübernahme der Kommunisten im Jahr 1948 wurden die Baťas als rücksichtslose Kapitalisten gebrandmarkt. Um die Erinnerung an sie auszulöschen, wurde sogar die Stadt Zlín umbenannt: Bis 1990 hieß die Stadt Gottwaldov; zu Ehren des ersten kommunistischen Präsidenten Klement Gottwald. Trotzdem hielten auch die kommunistischen Machthaber an Baťas städtebaulichem Konzept fest: Bis Ende der 1950er-Jahre wurden vor dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr realisierte Bauten fertig gestellt.
Der Sturz des kommunistischen Regimes im November brachte der Stadt zwar wieder ihren historischen Namen Zlín. Gleichzeitig ging es aber mit der Schuhindustrie bergab. Heute, knapp 20 Jahre nach der politischen Wende ist von der Schuhproduktion in Zlín nicht mehr viel übrig geblieben. Zwar wurde das ehemalige Baťa-Hauptgebäude aufwändig renoviert und beherbergt heute den Sitz der Kreisverwaltung. Doch viele andere Gebäude stehen leer und verfallen zusehends. Der Landkreis bemühe sich gemeinsam mit der Stadt Zlín um die Rettung der Bauten, betont Kreishauptmann Mišák:
„Wir arbeiten gerade gemeinsam an der Renovierung des östlichen Teil des Areals. Der wird für die Produktion schon nicht mehr benötigt. Wir wollen ihn wieder in die Stadt integrieren. Der Kreis Zlín hat dort zwei weitere Objekte angekauft. Dort wollen wir die Kreisgalerie, das südostmährische Museum und die Bibliothek ansiedeln, um das ganze zu einem multikulturellen Zentrum auszubauen. Dabei wollen wir den Funktionalismus Baťas respektieren und seine Tradition erneuern.“
Bürgermeisterin Ondrová pflichtet ihm bei und spart nicht mit Kritik: Viel von der wertvollen Bausubstanz sei durch die jahrzehntelange Vernachlässigung und zahlreiche unsachgemäße Eingriffe bereits verloren gegangen.
„Wir führen einen ziemlich harten Kampf um die Ereneuerung der bedeutenden Gebäude. Das ist eine finanziell sehr aufwändige Sache. Da muss ich auch den Staat ein wenig kritisieren: Die Unterstützung zum Erhalt von moderner Architektur ist nicht ausreichend. Die Verantwortlichen müssten einen anderen Blick haben für die moderne Architekturgeschichte und sie mehr unterstützen.“
Die Ausstellung im Prager Messepalast läuft noch bis zum 31. Mai. Und Anfang Mai stehen die Stadt Zlín und ihr reiches architektonisches Erbe im Mittelpunkt eines internationalen Symposiums.
Nähere Informationen zur Ausstellung finden Sie auf den Seiten der Nationalgalerie: www.ngprague.cz
Und alles Wissenswerte rund um das Symposium erfahren Sie hier: www.projekt-zipp.de