Bei Auslandsreise abgesetzt: Emigration von Sportlern aus der kommunistischen Tschechoslowakei
Mehrere Hundert tschechoslowakische Sportler sind während der kommunistischen Ära in den Westen emigriert. Manchmal nutzten sie Wettkämpfe im Ausland, um sich abzusetzen. In ihrer eigentlichen Heimat wurden sie dann entweder verleumdet oder totgeschwiegen.
Die Emigration tschechoslowakischer Sportler beginnt nicht erst zu kommunistischen Zeiten. Bereits kurz vor und nach der Besetzung von Böhmen und Mähren durch Hitler im März 1939 flüchten zahlreiche von ihnen. Dazu gehört auch der spätere Schach-Großmeister Salo Flohr. Jaroslav Rokoský ist Historiker an der Jan-Evangelista-Purkyně-Universität in Ústí nad Labem / Aussig und am Institut für das Studium totalitärer Regime in Prag:
„Salo Flohr war in den 1930er Jahren einer der weltbesten Schachspieler. 1939 sollte er um den Weltmeistertitel kämpfen. Der Wettkampf gegen Alexander Aljechin war in der Tschechoslowakei geplant. Allerdings kam es nicht mehr zu diesem Kampf um den Schachthron. Da Samo Flohr jüdischer Abkunft war, musste er fliehen und emigrierte zunächst nach Schweden. Ende 1940 siedelte er sich aber dauerhaft in der Sowjetunion an. Die tschechoslowakischen Sportler sind also nicht nur in den Westen geflohen, sondern im Zweiten Weltkrieg auch in den Osten.“
Mit der Machtübernahme der Kommunisten im Februar 1948 setzt eine zweite Emigrationswelle aus der Tschechoslowakei ein. Sie hat jedoch praktisch nur den Westen als Ziel. Zunächst geht es zwar auch darum, sich wie zu Zeiten der nationalsozialistischen Besatzung in Sicherheit zu bringen. Aber selbst zu stalinistischen Zeiten denken viele der Sportler auch einfach an ihre Karriere und die Möglichkeiten, die sie in ihrer Heimat nicht bekommen. Zudem spielen politische Überzeugungen eine Rolle – so wie im Fall des vielseitigen Sportlers Josef Maleček. Berühmt wurde er in der Zwischenkriegszeit vor allem als größter Eishockeystar der Tschechoslowakei.
„Nach dem Zweiten Weltkrieg wollten die Kommunisten Maleček auf ihre Seite ziehen. Aber sie hatten keinen Erfolg. Ein paar Wochen nach der Machtübernahme vom Februar 1948 entschloss sich der Eishockeyspieler zur Emigration. Dafür nutzte er einen peruanischen Pass. An der Grenze erkannte ihn jedoch der Zollbeamte. Er sagte: ‚Herr Maleček, Sie sind der letzte Peruaner, den wir aus dem Land lassen.‘ Josef Maleček lebte in der Folge zunächst in Davos, wo sich im Dezember 1948 unter anderem auch das Eishockeyteam LTC Prag zum traditionellen Spengler Cup aufhielt. Maleček versuchte zusammen mit einem anderen Exilanten, einem früheren Spieler des LTC Prag, dessen ehemalige Mitspieler zu überreden, nicht in die Heimat zurückzukehren und eine tschechoslowakische Exil-Nationalmannschaft zu gründen“, so Historiker Rokoský.
Laut dem Geschichtswissenschaftler stimmen damals die Spieler des Vereins darüber ab. Doch sie entscheiden sich zur Rückkehr, bis auf zwei Verteidiger, die bleiben.
Versuchte Entführung der Eisprinzessin
Ein weiterer prominenter Fall ist die Eiskunstläuferin Ája Vrzáňová. Die spätere Weltmeisterin wird ab 1947 in London vom Schweizer Arnold Gerschwiler trainiert. Sie ist die erste Frau, die den doppelten Lutz springt. Doch die neue kommunistische Führung der Tschechoslowakei verbietet ab 1948 die Zusammenarbeit mit Gerschwiler. Als Vrzáňová dann 1950 doch zur Eiskunstlauf-WM in London gelassen wird, um ihren Titel aus dem Vorjahr zu verteidigen, nutzt die 19-Jährige auf Anraten ihrer Eltern die Gelegenheit: Sie ersucht um politisches Asyl. Zuvor hat sie erneut WM-Gold geholt. Nach der politischen Wende von 1989 erzählte die ehemalige Sportlerin auch im Tschechischen Rundfunk ihre Geschichte:
„Ich bin damals emigriert, weil mich die Kommunisten nicht weiter nach London lassen wollten. Mir ging es um meine Leistung und meinen Sport. Bei meiner Emigration habe ich aber nicht gedacht, dass es 40 Jahre dauern würde, bis ich zurückkehren könnte. Denn es ist unglaublich schwer, seine Heimat für immer zu verlassen. Ich dachte, dass es vielleicht für ein Jahr oder anderthalb Jahre wäre. Letztlich sah ich meinen Vater erst 13 Jahre später wieder und meine Mutter nach einem Jahr.“
Denn auch Ája Vrzáňovás Mutter emigriert, ihr Vater bringt dafür aber nicht die Kraft auf. Immerhin darf er in den 1960er Jahren seine Tochter und seine Frau besuchen.
1950 setzt das kommunistische Regime jedoch alles daran, die berühmte Eiskunstläuferin nicht zu verlieren. Dabei kommt es zu dramatischen Szenen. Noch in London versuchen Agenten der tschechoslowakischen Staatssicherheit, sie auf der Straße vor ihrer Wohnung in ein Auto zu zerren und zu entführen…
„Sie drohten, dass sie meine Mutter erschießen würden. Da bin ich zusammengebrochen. Ich habe mich an den Zaun geklammert und so laut geschrien, wie ich nur konnte. Und ich hatte wahnsinnig Glück. Denn in dem Moment stürmten mein Trainer und zwei weitere Männer aus der Haustür. Ich wohnte damals bei dem Trainer und seiner Frau. Sie stürzten zu mir und retteten mich ins Haus. Das war schrecklich“, so die frühere Eisläuferin.
Wenig später wandert Vrzáňová in die USA aus. Dort nutzt sie die Möglichkeiten, in professionellen Eis-Shows aufzutreten…
„Dank meiner beiden Goldmedaillen begann ich als Star bei den Ice Follies. Nach drei Jahren wechselte ich zu den Ice Capades, bei denen ich 16 Jahre lang geblieben bin. Ich hatte eine wunderbare Karriere, dazu kamen Fernsehen und Reklame. 1969 heiratete ich Pavel Steindler. Er war Tscheche, kam aus Prag und war ein hervorragender Koch und Restaurantbetreiber. Daher habe ich die Schlittschuhe an den Nagel gehängt und ihm im Restaurantgeschäft geholfen. Wir hatten viel Erfolg, und mir hat das Spaß gemacht. Es war, wie wenn ich auf der Bühne gestanden bin.“
Ája Vrzáňová stirbt 2015 in New York City.
Verleumdet oder totgeschwiegen
Für die Staaten des Ostblocks wurden sportliche Erfolge schon bald ein wichtiges Instrument im Kampf der Systeme. Medaillen und Siege sollten die Überlegenheit des Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus beweisen. Also war auch von strategischer Bedeutung, wie auf die sogenannte Republikflucht von Sportlern reagiert wurde. Nicht nur in der Tschechoslowakei gab es zwei unterschiedliche Methoden. Historiker Rokoský erläutert:
„Zum einen war dies, die Emigration vor der Öffentlichkeit zu verheimlichen. Das hieß, kein Wort darüber zu verlieren, um dies so schnell wie möglich vergessen zu machen. So lief dies bei weniger bekannten Sportlern, die der breiteren Öffentlichkeit kein Begriff waren. Die zweite Art der Reaktion war: anschwärzen, diskreditieren und anprangern. Das betraf die medial bekannten Sportler. Sie hatten laut dem kommunistischen Regime auf schändliche Weise das Land verlassen und waren so zu ‚Verrätern des Volkes‘ geworden. Die Menschen hier haben natürlich ihre eigenen Ansichten dazu gehabt. Von den weiteren Erfolgen oder Misserfolgen dieser Sportler hörten sie aber meist nur noch in den Sendungen von ‚Voice of America‘ oder ‚Radio Freies Europa‘.“
Auch Ája Vrzáňová wurde nach ihrer Emigration verleumdet. Im Parteiorgan der KPTsch, der Rudé právo (Rotes Recht), stand etwa:
„Sie hat sich auf die Straße des Verrats begeben und wird wie alle Verräter enden. Das Ende dieses Wegs ist eine Bank im Hyde Park oder der Sprung in die Themse.“
Völlig verschwiegen wurden hingegen die beiden Fußballer, die mit ihren Toren im WM-Halbfinale 1962 in Chile dem tschechoslowakischen Nationalteam den Weg ins Endspiel öffneten: der Slowake Adolf Scherer und der Tscheche Josef Kadraba. Die beiden Stürmer emigrierten nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes im August 1968…
„Scherer entschied sich 1973, im Süden Frankreichs zu bleiben und spielte in der Folge für Nîmes. Und Kadraba blieb bereits ein Jahr zuvor in Wien, wo er schon fünf Jahre lang als Mechaniker bei Ford gearbeitet hatte und Fußball nur noch für das Werksteam spielte. In der Zeit der sogenannten Normalisierung in der Tschechoslowakei während der 1970er und 1980er Jahre sollten die beiden Fußballer vergessen gemacht werden. Nicht mal mehr in den Statistiken tauchten sie auf. Wer die Tore im WM-Halbfinale und WM-Viertelfinale 1962 geschossen hat, durfte bis in den November 1989 nicht in Rundfunk und Presse erwähnt werden. In der Statistik stand dann da beispielsweise 1:0 für die Tschechoslowakei, aber der Schütze des Tores wurde nicht genannt“, so Rokoský.
1961 wurde die Emigration zu einem Tatbestand im neuen Strafrecht der Tschechoslowakei. Der Strafsatz bewegte sich zwischen sechs Monaten und fünf Jahren Haft. Da aber die Sportler ohnehin im Ausland waren, konnte die Strafe nicht vollzogen werden. Ab 1965 war deswegen möglich, das Vermögen der Emigranten einzuziehen. Und viele Sportler erhielten auch nach der Samtenen Revolution dieses Vermögen nicht mehr zurück. Schlimmer noch musste für sie aber die Vorstellung von dem gewesen sein, was ihre Familien und Angehörigen durchmachen mussten, insofern diese in der Tschechoslowakei geblieben waren. Der Historiker:
„Zunächst kamen die Verhöre. Die Fragen, die den Angehörigen gestellt wurden, waren in allen Fällen sehr ähnlich: Ob sie etwas von den Vorbereitungen der Flucht gewusst hätten, ob sie in Briefkontakt mit dem Emigranten stünden, was derjenige im Ausland mache und ob er nicht ins Land zurückkehren wolle.“
Weitere Folgen für die zurückgebliebenen Angehörigen von Emigranten – und zwar allgemein und nicht nur die von Sportlern – waren meist Verbote. So wurden diese häufig nicht zum Studium an einer Hochschule zugelassen oder durften nicht in einem attraktiven und von ihnen gewünschten Beruf arbeiten.
Vom Verband gesperrt: Der Fall Knoflíček
Natürlich bemühte sich der kommunistische Staat auch, die Sportler bei ihren Auslandsreisen zu bewachen und zu überwachen. Regelmäßig fuhren Stasi-Kader mit den Teams zu internationalen Spielen oder Meisterschaften. Allerdings war den meisten Sportlern klar, wer diese beiden Herren waren, die kurz vor der Fahrt zur Delegation gestoßen waren und sich nun zum Beispiel als technische Leiter, Übersetzer oder Ärzte ausgaben. Dennoch emigrierten insgesamt 270 Spitzensportler, die olympische Disziplinen betrieben, aus der Tschechoslowakei. Und weiter der Historiker:
„Die Sportler wussten, dass sie sich von diesen Angehörigen des Innenministeriums nicht fassen lassen durften, sollten sie sich von der Delegation entfernen. Dabei gab es im Verlauf der 40 kommunistischen Jahre auch eine gewisse Entwicklung. Der Schwimmer Josef Hladký setzte sich zum Beispiel bei der WM 1986 in Madrid ab, indem er in der Privatwohnung eines Bekannten blieb, als das Team abreisen wollte. Die Stasi-Leute machten daher noch auf dem Flughafen kehrt, suchten Hladký in der Wohnung auf und redeten auf ihn ein. Als er sich weigerte mitzukommen, sagten sie, er habe noch in den kommenden Wochen Zeit, sich umzuentscheiden und zurückzukehren. Josef Hladký änderte seine Entscheidung aber nicht und emigrierte nach Westdeutschland. Dadurch verpasste er allerdings die Olympischen Sommerspiele 1988 in Seoul, bei denen er gerne um eine Medaille gekämpft hätte.“
In zahlreichen Sportarten hatten die kommunistischen Staaten durchsetzen können, dass selbst politische Emigranten für eine gewisse Zeit an bestimmten internationalen Wettkämpfen nicht teilnehmen durften.
Probleme bekamen auch die beiden Fußballspieler Luboš Kubík und Ivo Knoflíček, als sie sich im Sommer 1988 von einem Trainingscamp ihres Vereins Slavia Prag in Hannover absetzten. Dies zog automatisch eine 18-monatige Sperre nach sich. Doch sie hatten schon mit dem englischen Verein Derby County ein Engagement vereinbart. Ohne ihre Pässe, die die Staatssicherheit einbehalten hatte, konnten sie jedoch erst nach einem Jahr nach England reisen.
Währenddessen knickte Kubík ein und kehrte mit dem Versprechen des Straferlasses zurück in die Tschechoslowakei. Dadurch verlor Derby County aber sein Interesse an Knoflíček, und dieser tingelte durch Italien und Deutschland auf der Suche nach einem Verein – bis sich im September der FC St. Pauli meldete, fünf Monate vor Ende der Sperre. Letztlich ging es schneller, denn im November kam es zur Samtenen Revolution. Vor einigen Jahren erinnerte sich Ivo Knoflíček in den Inlandssendungen des Tschechischen Rundfunks:
„Die Sperre war zwar deprimierend, aber um uns wurde sich gut gekümmert. Uns besuchten weitere Tschechen, die emigriert waren. Auch die anderen Spieler kümmerten sich um uns, nahmen uns zum Bowling mit oder zu sich nach Hause. Ich habe schöne Erinnerungen daran. Nur durften wir halt keine offiziellen Spiele bestreiten, das war das Schlimmste. Wir haben zwar zusammen mit den anderen Spielern trainiert, hatten viele Freiheiten, aber uns fehlten auch unsere Familien. Ich bin geblieben, weil ich mir sicher war, dass es einen Durchbruch geben werde. Aus der DDR war zum Beispiel Ulf Kirsten emigriert, auch er konnte nach einem Jahr oder nach anderthalb Jahren wieder spielen. Das gab mir die Hoffnung. Die Eishockeyspieler hatten es besser. Wenn sie in die USA flohen, durften sie sofort für ihre neuen Vereine aufs Eis.“
Ivo Knoflíček erzielte im Übrigen gleich im ersten Bundesligaspiel für St. Pauli das Siegtor zum 2:1-Erfolg gegen Borussia Mönchengladbach. Und er gehörte bei der WM 1990 zur tschechoslowakischen Nationalmannschaft, die immerhin bis ins Viertelfinale gelangte. Bis 1993 blieb Knoflíček im Ausland, kehrte dann nach Tschechien zurück, ehe er 1998 seine aktive Karriere beendete. Der 62-jährige Ex-Fußballprofi gilt heute als eine der Ikonen seines früheren Vereins Slavia Prag.