Das Ensemble Opera Diversa in der Parallelwelt der „Anderen Stadt“

'Die andere Stadt'
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Zeitgenössische Musik ist ein Genre, das dem Mehrheitspublikum wenig bekannt ist. Oft wird sie von Klangkörpern gespielt, die sich um einen bestimmten Komponisten bilden und dessen Werke interpretieren. Eine von solchen Gruppierungen ist das Ensemble Opera Diversa in Brno / Brünn.

Obwohl das Wort „Opera“ im Namen des Ensembles steht, sollte man sich keinesfalls ein klassisches Opernhaus mit seinen Diven und großen Chören auf der Bühne sowie Musikern im Frack im Orchestergraben vorstellen. Das Ensemble Opera Diversa wurde vor mehr als zwanzig Jahren von ein paar Freunden in Brünn gegründet. Heute besteht es aus professionellen Musikern und Sängern, die sich auf innovative Musik- und Theaterprogramme konzentrieren. Den Kern des Repertoires bilden Werke des Komponisten Ondřej Kyas. Er sagt:

„Das Ensemble hat sich organisch entwickelt. Zuerst habe ich zusammen mit Pavel Drábek angefangen, er ist Anglist und Theaterwissenschaftler und schreibt Texte und Libretti. Wir haben mit unseren Freunden Mini-Opern aufgeführt. Das waren Musiker, die damals noch an der Musikhochschule oder am Konservatorium studierten. Daraus kristallisierte sich die Gründung des Ensembles heraus, dem sich dann weitere Mitwirkende, Sänger und Musiker anschlossen.“

Ondřej Kyas | Foto: Ensemble Opera Diversa

Der Name Ensemble Opera Diversa habe eine doppelte Bedeutung, betont der Gründer:

„Divers steht erstens für Abwechslung, Diversion oder einfach einen nicht ganz traditionellen Ansatz. Und zweitens steht es für das lateinische Wortgefüge ‚opera diversa‘, also verschiedene Werke.“

Das Musikensemble präsentiert jährlich 20 bis 30 Vorstellungen und Aufführungen, hauptsächlich in seiner Heimatstadt Brünn. Es hat bisher sieben abendfüllende Originalopern, zwei Dutzend Mini-Opern, zahlreiche Uraufführungen von Auftragswerken für Orchester sowie Werke des klassischen Repertoires produziert. Aktuell wird das Ensemble von der Bühnenkünstlerin Sylva Marková geleitet. Sie bezeichnet die Gruppe als eine Art Dreifachspinne:

„Ein Teil ist die Oper, die meistens unsere eigenen Werke aufführt. Dann gibt es die Konzertsparte, indem Kompositionen von Ondra Kyas oder von anderen, meist auch zeitgenössischen Komponisten gespielt werden. Und dann haben wir das Ensemble Versus – einen Chor, der sich mit Renaissancemusik beschäftigt. Und manchmal mischen wir das auch zusammen.“

'Manželské miniopery' | Foto: Ensemble Opera Diversa

Zeitgenössische Musik und Theater

Mitglieder dieser unabhängigen Vereinigung sind Musiker und Theatermacher, die ihren Lebensunterhalt auch mit anderen Tätigkeiten verdienen. Das Ensemble Opera Diversa sei das gewisse Extra für sie, bei dem sie machen könnten, was ihnen gefalle, sagt Marková:

Sylva Marková | Foto: Ensemble Opera Diversa

„Wir haben zwei Premieren pro Jahr, auf die in der Regel etwa acht Reprisen folgen. An einer solchen Produktion arbeiten wir zwei bis vier Monate, je nachdem, was die Aufführung braucht. Weiter gibt es noch acht bis zwölf Konzerte im Jahr. Zudem hat der Chor sechs oder sieben eigene Konzerte. Also, wenn es gut geht, spielen wir ein- oder zweimal im Monat. Das ist genug für ein Hobby.“

Für die Übertragung der Werke auf die Bühne ist bei „Diversa“ die Opernregisseurin Kateřina Křivánková verantwortlich:

„Eigentlich mache ich sowohl zeitgenössische als auch klassische Opern. Aber ich bevorzuge die zeitgenössischen, weil sie für mich aktueller und musikalisch interessanter sind. Ich merke keinen großen Unterschied zwischen einer klassischen und zeitgenössischen Oper, abgesehen vom musikalischen Material. Denn ich versuche, in beidem nach Aktualität zu suchen. Eigentlich gehe ich immer auf die gleiche Weise an das Werk heran.“

Einen Unterschied bei der Arbeit gebe es aber doch, räumt Křivánková ein:

Kateřina Křivánková | Foto: Ensemble Opera Diversa

„Bei der klassischen Oper kann man auf vorhandene Materialien zurückgreifen, also auf andere Aufführungen oder Video- und Tonaufnahmen. Hingegen muss man bei der Inszenierung eines neuen Werkes de facto nur mit der Partitur oder mit den vom Computer gelieferten Klängen arbeiten. Ich bin dann die erste, die das Werk interpretiert. Das hat wiederum einen großen Vorteil, nämlich dass es nichts gibt, woran man es messen kann. Ich habe bei der Inszenierung Freiheit.“

Die Hofdirigentin vom Ensemble Opera Diversa ist Gabriela Tardonová. Sie arbeitet seit mehr als 20 Jahren mit dem Ensemble zusammen und hat schon Ondřej Kyas‘ erste Oper „Pickelhering 1607“ geleitet. Die zeitgenössische Musik nehme eine bedeutende Stellung in ihrer Arbeit ein, so Tardonová:

„Meine ersten Erfahrungen mit der zeitgenössischen Musik habe ich im Chor Permoník in Karviná gemacht, in dem ich seit meinem fünften Lebensjahr gesungen habe. Wir hatten dort eine großartige Chorleiterin, Frau Šeinerová, die mit uns Gegenwartsstücke einstudierte. Dabei mussten wir auch flüstern oder rhythmisch sprechen, es gab verschiedene Cluster. Das war eine große Herausforderung, aber wir haben unser Gehör und unsere Intonation geschult. Ich war also mit dieser Art Musik vertraut, weil ich sie schon als Kind gemacht hatte.“

'Křížová cesta' | Foto: Ensemble Opera Diversa

Mysteriöser Roman „Die andere Stadt“ als Oper

Das bisher letzte große Bühnenwerk, das vom Ensemble Opera Diversa einstudiert wurde, ist die Oper „Druhé město“ (auf Deutsch: Die andere Stadt). Ondřej Kyas hat in diesem Fall nicht nur die Musik komponiert, sondern auch das Libretto verfasst. Es basiere auf dem gleichnamigen Roman des tschechischen Gegenwartsautors Michal Ajvaz, berichtet der Komponist:

Michal Ajvaz | Foto: Alena Blažejovská,  Tschechischer Rundfunk

„Ich kenne Ajvaz schon lange, schon zu Beginn meines Studiums an der philosophischen Fakultät in Brünn habe ich ein erstes Buch von ihm gelesen. Und das zweite oder dritte Buch von ihm, das ich in die Hand bekam, war ‚Die andere Stadt'. Etwa zehn Jahre später bin ich wieder auf diesen Text gekommen, und plötzlich war es wie ein Blitz aus heiterem Himmel: Ich dachte mir, eigentlich ist es verrückt, aber es wäre doch schön, daraus eine Oper zu machen. Ich fing sofort an, mir vorzustellen, wie man einige der schmuddeligen oder unrealistischen Phrasen darin singen würde. Ich meine sowieso, dass die Oper an sich eine ziemlich unnatürliche oder unrealistische Kunst ist. Also erschien mir die Verbindung eigentlich ziemlich logisch.“

Michal Ajvaz wird oft als Autor des magischen Realismus in der tschechischen Literatur bezeichnet. Er balanciert an der Grenze zwischen der realen und imaginativen Welt, die philosophische Tiefe mischt sich in seinen Texten mit Action und Abenteuer. „Die andere Stadt“ sei ein sehr schwer zu fassender Roman, sagt die Regisseurin Kateřina Křivánková:

Michal Ajvaz: „Die andere Stadt“  | Foto: Verlag Petrov

„Der Protagonist ist auf der Suche nach einer geheimen anderen Stadt. Er weiß nicht wirklich, wo diese Stadt ist oder wie sie aussieht. Aber je mehr er danach sucht, desto mehr wächst sein Wunsch, tatsächlich in ihre Geheimnisse einzudringen. Und während seiner Suche in Prag, wo sich die ganze Geschichte abspielt, begegnet er seltsamen Menschen, seltsamen Situationen und erlebt alle möglichen seltsamen Dinge.“

In einem Prager Antiquariat kauft ein namenloser Erzähler ein in einer unbekannten Schrift verfasstes Buch. Sein Wunsch, den Text zu entschlüsseln, bringt ihn auf die Reise durch die mysteriöse „andere Stadt“. „Die vollkommene Einheit ist im Splitter“ – dieses Zitat aus dem Roman war für Kateřina Křivánková ein Schlüssel zur Inszenierung:

„Wir haben die Form einer halbkonzertanten Aufführung gewählt: Alle Sänger stehen auf der Bühne, sie haben ihre festen Plätze vor den Notenständern und schlüpfen in ihre einzelnen Rollen. Und die Hauptfigur wird verdoppelt, es gibt einen Sänger, aber auch einen Erzähler. Die ganze Geschichte wird vom Protagonisten erzählt, der in seinen Erinnerungen zurückgeht: Das sind die einzelnen Situationen und Bilder, die auf der Bühne erscheinen und dann wieder verschwinden.“

'Die andere Stadt' | Foto: Marek Olbrzymek,  Festival Opera

Die Einheit ist im Splitter

Unterstützt wird das Aufführungskonzept durch die Bühnengestaltung von Sylva Marková. Sie erläutert:

„Das Orchester ist hinten und mit dem Rücken zu den Zuschauern positioniert. Die Lichter der Musiker stehen für eine Ahnung im Hintergrund. Die Notenständer und ein erhöhter Podest bilden die Landschaft. Dazu kommt eine Projektionsfläche, vor der der Tisch des Erzählers steht. Alles, was sich auf dem Tisch abspielt, wird auf die Leinwand projiziert. Diese Projektion ergänzen außerdem Bilder, die die Fantasie des Ajvaz-Romans zum Ausdruck bringen.“

'Die andere Stadt' | Foto: Markéta Kachlíková,  Radio Prague International

Musikalisch verweise „Die andere Stadt“ auf die Klassiker der Musik des 20. Jahrhunderts, sagt der Autor Onřej Kyas:

„Eigentlich bin ich eher ein konservativer Komponist, auch wenn das für manche Leute vielleicht nicht so klingen mag. Ich bin mit einer Faszination für Bohuslav Martinů aufgewachsen, aber etwa auch für Schostakowitsch. Es ist diesmal also eine Art zurückhaltender Modernismus. Dazu gibt es aber noch einen Synthesizer, der das Fremde, das Fantastische reinbringt. In den Szenen mit dem Mädchen und dem jungen Mann auf dem Schiff vereinfacht sich die Musik plötzlich fast in ein Lied. Die Komposition hat also verschiedene Ebenen.“

Ondřej Kyas setzt sich oft selbst ins Orchester und lässt sich bei der Interpretation seiner eigenen Werke von Gabriela Tardonová leiten. Und wie würde die Dirigentin seine Musik charakterisieren?

„Eigentlich ist sie sehr rhythmisch. Andererseits kann Ondřej auch schöne Melodien schreiben. Ich würde sie nicht als Arie bezeichnen, aber es gibt Stellen, an denen die Sängerin hervortritt und eine längere Phrase singt. Aber dann klingt es wieder eher wie ein Gespräch. Es ist sehr kommunikativ.“

Obwohl das Ensemble in seiner Heimatstadt Brünn keinen festen Raum hat und mit unterschiedlichen Bühnen zusammenarbeitet, hat es sich dort schon sein festes Publikum erarbeitet. Ensembleleiterin Sylva Marková:

„Es geht schrittweise vorwärts. Wir können nicht sagen, dass wir total ausverkauft sind, aber in der Regel kommen 200 bis 250 Leute zusammen. Ja, sie haben uns entdeckt und folgen uns.“

Jüngst stellte sich das Ensemble mit „Die andere Stadt“ in Prag vor, in weiteren Teilen Tschechiens bleibt es aber noch wenig bekannt. Nun hat „Opera Diversa“ ein kühnes Ziel vor sich, nämlich in Deutschland den Durchbruch zu schaffen. Und zwar im Zusammenhang mit der Frankfurter Buchmesse 2026, bei der unter anderem der Schriftsteller Michal Ajvaz die tschechische Literatur vertreten wird. Es wird daher eine Operntournee mit „Die andere Stadt“ geplant, und das Ensemble Opera Diversa sucht dafür im Moment Finanzquellen sowie ein Partnerorchester in Deutschland.

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