Gegen Vorurteile und Verharmlosung - der Welt-Aids-Tag in Tschechien
Der erste Dezember ist der Welt-Aids-Tag. Auch in Tschechien wird an diesem Tag mit dem Verkauf von roten Schleifen an die Bedrohung durch das HIV-Virus erinnert. Dabei ist die Lage im Lande vergleichsweise gut. Das könnte sich aber bald ändern, denn das Entsetzen der späten 80er Jahre ist heute einer sorglosen Leichtsinnigkeit gewichen. Über HIV in Tschechien und den Umgang mit der Krankheit und den Erkrankten berichtet Thomas Kirschner.
Die Zahlen klingen beruhigend: Trotz aller anfänglichen Katastrophenszenarien wurden seit der Entdeckung von Aids in Tschechien offiziell nur 807 HIV-Positive registriert. 192 Patienten sind an Aids erkrankt, 118 davon sind an der Immunschwäche bereits gestorben. Tschechien steht damit nicht nur innerhalb der postkommunistischen Länder auf dem günstigsten Platz, sondern weist auch im gesamteuropäischen Vergleich eine der geringsten Infektionsraten auf. Die Relation macht erst ein Blick über die Grenzen deutlich: Rechnet man die tschechischen Zahlen auf Deutschland mit seiner rund achtmal größeren Bevölkerung hoch, so ließen sich im größten tschechischen Nachbarland etwa 5000 HIV-Patienten erwarten. Tatsächlich aber wurden in Deutschland bislang 49.000 HIV-Positive und knapp 24.000 Aids-Tote registriert. In Osteuropa ist die Lage noch wesentlich schlimmer, so Miroslav Hlavaty von der tschechischen Aids-Hilfe (CSAP):
"Nehmen Sie nur die Lage in Russland und der Ukraine, wo die Infizierten in die Hunderttausenden gehen. Das ist ein Sandwich-Effekt, und wir sind die Frikadelle in der Mitte! Irgendwann kommt die Welle auch zu uns!"
Eindämmen lässt sich Aids nur durch dauerhafte und konsequente Prävention. Von einer Entwarnung kann und darf daher keine Rede sein, bestätigt auch der bekannte Sexologe Radim Uzel:
"Wenn wir das schön laut immer wiederholen, dann ruhen sich die Leute auf ihren Lorbeeren aus und lassen ihre Vorsicht fallen. Aber die Grenzen sind heute nicht nur durchlässig für Menschen, sondern auch für Krankheiten, und die Situation ist im Westen und Osten von Tschechien erheblich schlechter! Wenn wir also vom Sandwich-Effekt reden und zugleich sagen, naja, in Tschechien ist es sicher, da kann man´s bei einer Prostituierten auch mal ohne Kondom machen, dann ade - da können wir uns in ein paar Monaten von dieser Situation verabschieden."
Zur großen Sorge der Experten zeigen die Trends in Tschechien bereits nach oben. Allein in den ersten zehn Monaten des Jahres wurden so viele HIV-Neuinfektionen registriert, wie im gesamten Vorjahr. Geschockt ist Miroslav Hlavaty auch über die Ergebnisse der kostenlosen Aids-Tests im Prager Zentrum der Aids-Hilfe: Seit 1999 wurden hier 28 Neuansteckungen festgestellt - die Hälfte davon allein im laufenden Jahr. Eines der zentralen Probleme ist die fehlende Aufklärung. Um Aids ist es ruhig geworden; die Informiertheit der Menschen nimmt wieder ab. In den 90er Jahren war das dank großer Kampagnen in Tschechien anders, erinnert sich Miroslav Hlavaty:"Der Höhepunkt der Aufklärung lag in Tschechien um das Jahr 1996. Damals wussten fast alle, was HIV und Aids sind. Kurz vorher war Freddy Mercury an Aids gestorben, was damals auch die Aufmerksamkeit auf die Krankheit gelenkt hat. Heute dagegen wird nur noch sehr wenig über Aids gesprochen - für große Aufklärungskampagnen fehlt das Geld. Die jungen Leute sehen Aids daher nicht mehr als Bedrohung, und das ist eine Gefahr, denn die Zahlen steigen wieder, und das betrifft vor allem die ganz jungen Leute."
Angemessen schützen kann sich nur, wer über die Krankheit Bescheid weiß. Nur 20 Prozent der tschechischen Jugendlichen schützen sich beim ersten Sex mit einem unbekannten Partner noch mit einem Kondom. Für Aids-Aufklärung und Behandlung steht aber immer weniger Geld zur Verfügung. Von einst 66 Mio. Kronen im Jahre 1996 sind nunmehr nur noch 19 Mio. Kronen geblieben, etwa 630.000 Euro. Wie steht es um die Kenntnisse in der tschechischen Bevölkerung nach dem Ende der großen Aufklärungskampagnen? Bei einer Umfrage wurde nach drei Möglichkeiten gesucht, sich mit HIV zu infizieren. Eine junge Studentin gibt gleich eine richtige Antwort:
"Durch die Übertragung von infiziertem Blut, durch ungeschützten Geschlechtsverkehr und durch die Übertragung von der Mutter auf das Kind, aber das ist nur ein ganz kleiner Prozentsatz."
Ein weiterer Respondent tippt auf Homosexualität und verwechselt damit Risikogruppe und Ursache. Auch in weiteren Antworten vermischt sich die Wahrheit mit Unwissen und Vorurteil:
"Also vor allem durch Sex, durch Küssen -- und weiter weiß ich auch nicht."
"Das geht einmal über den direkten Geschlechtsverkehr, dann kann man sich das irgendwo auf öffentlichen Toiletten holen, und eine dritte Art -- hm, die weiß ich jetzt auch nicht..."
"Na, über Berührungen und durch´s Küssen vielleicht! Es gibt eine ganze Menge von Möglichkeiten, wie man sich das holen kann! Und das ist nichts Angenehmes - das ist schrecklich ansteckend!"
Die Vorurteile und Ängste gegenüber HIV-Infizierten bekommen nicht selten auch die Schüler zu spüren, die am Welt-Aids-Tag in vielen tschechischen Städten die roten Schleifen als Zeichen des gemeinsamen Kampfes gegen die Krankheit verkaufen und Geld für die Aids-Hilfe sammeln. Die Kampagne läuft in Tschechien im vierten Jahr. Immer noch halten aber vor allem ältere Leute die Spenden sammelnden Schüler selbst für HIV-Infizierte und laufen eilends davon. Die tief verwurzelten Berührungsängste kennt auch Miroslav Hlavaty. Für das Haus der Prager Aids-Hilfe sei es schwer, einen Handwerker zu finden, da niemand dort etwas anfassen wolle. Anstatt sich an der Aufklärung zu beteiligen, halten HIV-Infizierte in Tschechien ihre Erkrankung deshalb lieber geheim, berichtet Hlavaty:
"Uns sprechen zum Beispiel Leute von der staatlichen Verwaltung an sagen: ´Hören Sie mal, Herr Direktor, es gibt in Tschechien 807 HIV-Fälle, abzüglich 118 Toter, die bereits an AIDS gestorben sind - wie kommt es, dass bei Ihnen nur drei Betroffene über ihre Erfahrungen berichten?´ - Stellen Sie sich heute hier vor die Kamera, und sagen Sie, dass Sie schwul und HIV-positiv sind. Damit ist ihr Leben für Sie in unserer Gesellschaft zu Ende, leider."
Vor diesem Hintergrund bekommen die Straßenaktionen am Welt-Aids-Tag in Tschechien eine besondere Bedeutung, betont der Sexualwissenschaftler Radim Uzel:
"Das sind nicht nur Sammelaktionen, sondern vor allem auch eine Werbekampagne auf der Straße!"
Die Schüler, die sich freiwillig gemeldet haben - im vergangen Jahr waren es nahezu 4.500 - verteilen auch Informationsmaterial und kommen mit den Menschen ins Gespräch. Die klassischen Generationenrollen werden damit vertauscht, erläutert Uzel.
"Der Gedanke ist, das Ganze umzudrehen: Nicht die Alten unterrichten die Jungen, sondern umgekehrt, auch die Älteren können sich von den Jungen etwas abschauen - zum Beispiel die größere Toleranz. Und gerade dafür dient die Sammlung am Welt-Aids-Tag: Die jungen Menschen reden mit den Älteren, und wir helfen dabei, dass sie ihren Eltern und Großeltern auch etwas beibringen."Aids in Tschechien - trotz einer auf den ersten Blick guten Lage bleibt die Bedrohung weiter bestehen. Aids in Tschechien, das ist aber nicht nur der Kampf gegen die weitere Ausbreitung der Krankheit, sondern auch gegen die Ausgrenzung der Erkrankten, so der Sexualwissenschaftler Radim Uzel:
"Gerade der Welt-Aids-Tag zum 1. Dezember jeden Jahres und das Anstecken der Roten Schleife erinnert uns daran. Die Menschen weltweit geben ein Zeichen, dass sie begriffen haben, dass die Gefahr allgegenwärtig ist."