Hinter steinernen Kulissen: Religiosität in Tschechien schwach ausgeprägt

Der Tod von Papst Johannes Paul II. und die Spekulationen im Vorfeld der Wahl seines Nachfolgers haben auch in Tschechien ein großes Medienecho hervorgerufen. Dennoch ist dem Land abseits der großen Vatikan-Reportagen in diversen Magazinen seine relativ unkatholische Tradition gerade in diesen Tagen anzumerken. Gerald Schubert stellt im nun folgenden Schauplatz die Frage, wie es die Tschechen eigentlich mit der Religion halten.

Karlsbrücke
Auch in Prag läuteten vergangene Woche die Kirchenglocken zum Gedenken an den verstorbenen Papst. Die Berichterstattung rund um Leiden und Sterben von Johannes Paul II. war auch in tschechischen Medien ausführlich und intensiv, thematisierte Aspekte der katholischen Glaubenslehre ebenso wie die Frage, ob der Papst nun auf seine Weise ein Popstar gewesen ist oder nicht, und lag damit weitgehend im europäischen Mainstream. Überhaupt deutet auf den ersten Blick kaum etwas darauf hin, dass es die meisten Menschen hierzulande mit der Religion ein bisschen anders halten als in den umliegenden Ländern. Touristen, die Prag besuchen, sehen eine Stadt, die - wie andere europäische Metropolen auch - stark geprägt ist von der Architektur der Kirche. Veitsdom und Teynkathedrale bilden im Gedächtnis der meisten Besucher zwei unverwechselbare Dominanten der Stadt, ebenso wie die barocken Heiligen, die die berühmte Karlsbrücke zu beiden Seiten malerisch säumen.

Wer aber einen Blick hinter die steinernen Kulissen der Stadt macht, wer die Struktur der tschechischen Gesellschaft auf ihre christlichen Wurzeln und auf die Bedeutung der Kirche in der Gegenwart abklopft, dem präsentiert sich ein ganz anderes Bild. Bei der letzten Volkszählung im Jahr 2001 bekannten sich nur knapp 3,3 Millionen Menschen zum Christentum, davon etwa 2,7 Millionen zum römisch-katholischen Glauben - bei einer Gesamtbevölkerung von etwa 10 Millionen ein relativ kleiner Anteil. Praktizierende Christen, so kircheninterne Schätzungen, bilden überhaupt nur etwa fünf Prozent der Gesamtbevölkerung.

Eine häufig genannte Erklärung für die eher schwache Verwurzelung des Glaubens in der tschechischen Gesellschaft ist natürlich der Einfluss der kommunistischen Ideologie, die dem Land mehr als vierzig Jahre lang ihren Stempel aufgedrückt hat. Professor Albert-Peter Rethmann, Prodekan an der theologischen Fakultät der Karlsuniversität Prag, schließt sich dem - zumindest teilweise - an:

"In jener Zeit sind sehr viele kirchliche Strukturen zerstört worden. Die Ordensgemeinschaften wurden aufgelöst, die Kirche stand unter einem sehr großen äußeren Druck. Dem Staat ist es gelungen, auf die inneren kirchlichen Strukturen einzuwirken, bis hin zur Ernennung von Bischöfen. Das hat natürlich bis heute Folgen, die Kirche in Böhmen ist eine relativ schwache Kirche. In Mähren hingegen gibt es, schon von der Mentalität her, eine größere Nähe zum polnischen Katholizismus. Es gibt dort noch ländliche Dörfer, die relativ geschlossen katholisch geprägt sind."

Der Unterschied zwischen dem böhmischen und dem mährischen Landesteil, auf den Professor Rethmann hinweist, schlägt sich auch regelmäßig in Wahlergebnissen nieder: Die Christdemokratische Volkspartei (KDU-CSL) schneidet in Mähren traditionell viel besser ab als in Böhmen. Eine allgemeine Konzentration des praktizierten Katholizismus auf den ländlichen Raum lässt sich in Tschechien hingegen nicht erkennen, sagt Rethmann:

"In Böhmen wird die katholische Kirche meines Erachtens immer mehr eine Religion der Städte. Denn gerade in den Städten ist es möglich, dass Gläubige Mitgläubige finden und dann eine Gemeinschaft gestalten und in der Gesellschaft gemeinsame Aufgaben finden können. In den ländlichen Gegenden Böhmens wird das immer schwieriger. Vielleicht liegt darin auch ein großer Unterschied zu Deutschland, wo man davon ausgeht, dass die Religion vor allem auf dem Land sehr stark verwurzelt ist."


Professor Albert-Peter Rethmann  (Foto: Martina Schneibergova)
Die ehemals kommunistische Herrschaft reicht als Erklärungsmuster für die schwach ausgeprägte katholische Tradition in Tschechien natürlich bei weitem nicht aus. Es genügt der Hinweis auf Polen, auf die Heimat des verstorbenen Papstes, des slawischen Papstes Karol Wojtyla. Gewiss: Auch in Tschechien stimmen Historiker und Politologen, Journalisten und Vertreter der Kirche darin überein, dass Johannes Paul II. eine wichtige Rolle gespielt hat beim Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa. Im einst ebenso kommunistischen Polen jedoch hatte der Papst von Anfang an doch eine völlig andere Bedeutung. Der eher analytische Blick aus der Perspektive des Kalten Krieges zeigt dort nur einen kleinen Ausschnitt aus der großen Erzählung der Nation. Professor Albert-Peter Rethmann, Prodekan an der theologischen Fakultät der Karlsuniversität Prag:

"In Polen hängt der Katholizismus traditionellerweise sehr stark mit der Rettung der Nation im 18. und 19. Jahrhundert zusammen. Dadurch, dass sich die Kirche in der Situation der polnischen Teilung sehr stark für die Rettung des Staates eingesetzt hat, bedeutete über Jahrhunderte hinweg Pole zu sein gleichzeitig katholisch zu sein."

Ganz anders in Böhmen. Hier spürt man, meint Rethmann, den alten Konflikt zwischen Hussiten und Katholizismus auch heute noch. Und nicht zuletzt hat hier die Staatswerdung damit zu tun, dass sich das Land von Österreich, vom katholischen Haus Habsburg, abgesetzt hat. Damit stand, zumindest indirekt, die Gegnerschaft zur katholischen Kirche mit an der Wiege des ersten Tschechoslowakischen Staates.


Welche Rolle spielt aber das historische Bewusstsein bei der kollektiven Identitätssuche einer Nation? Wie überlagert sich dabei die ferne Vergangenheit mit der jüngsten Geschichte? Fragen wie diese werden immer wieder aufs Neue beantwortet, und immer wieder werden dabei alte Geschichten neu erzählt. Die tschechische Publizistin Petruska Sustrová, sie arbeitet unter anderem als Polen-Korrespondentin, möchte jedenfalls eines nicht tun: Nämlich ein pauschal gut oder schlecht entwickeltes historisches Bewusstsein der Tschechen konstatieren. Gerade die Bedeutung, die die katholische Kirche Osteuropas beim Fall des Eisernen Vorhangs hatte, wird von den verschiedenen Generationen nämlich unterschiedlich gesehen, sagt Sustrová:

"Ich selbst etwa habe als Kind den Zweiten Weltkrieg auch als etwas wahrgenommen, was schon lange zurückliegt, und wofür man sich nicht zu interessieren braucht. Er erschien mir als abgeschlossenes Kapitel, obwohl seit seinem Ende erst ein paar Jahre vergangen waren. Ich glaube, genauso erscheint den jungen Leuten heute die Zeit des Kommunismus als etwas weit entferntes. Das ist ganz natürlich. Das Interesse für Geschichte und für den Zusammenhang der Geschichte mit der Gegenwart bildet sich meist erst später heraus. Die ältere Generation wiederum, die war vierzig Jahre lang einer atheistischen Propaganda ausgesetzt, die viel härter war als beispielsweise in Polen."

All das trägt natürlich dazu bei, dass die Reaktionen auf den Tod des Papstes in der tschechischen Bevölkerung doch weit kühler ausgefallen sind als bei den polnischen Landsleuten von Johannes Paul II. Petruska Sustrová meint aber noch eine Besonderheit in der tschechischen Mentalität zu erkennen, die mit Religiosität an sich auf den ersten Blick gar nicht so viel zu tun hat:

"Die Tschechen erleben im Vergleich mit anderen Völkern viel weniger Gefühle von Hochachtung oder Pathos. Sie sind eher skeptisch. In vielen Situationen ist es ehrlich gesagt auch ganz angenehm, dass nicht alles so ernst und erhaben gesehen wird, sondern eher mit Humor. Aber beim Tod einer großen historischen Persönlichkeit werden wir uns plötzlich der Schwäche dieser Haltung bewusst. Und wir sehen, wie diese Unfähigkeit, Hochachtung oder Bewunderung gegenüber einer Größe zu empfinden, letztlich doch klein und verkrampft sein kann."

Ein Argument, das man bei weitem nicht nur auf die Persönlichkeit des Papstes beziehen muss. Die von Petruska Sustrová angesprochene Skepsis, die gewisse Abneigung gegen jedwedes Pathos, das Zurechtstutzen des Lebens auf seine pragmatischen Aspekte - all das sind Erscheinungen, die auch in anderen Bereichen sichtbar sind. Beispielsweise im weit verbreiteten Misstrauen gegenüber Parteien und demokratischen Institutionen. Oder auch in der Skepsis gegenüber der europäischen Integration, einem langfristigen, riesigen, historisch einmaligen Projekt, dessen unmittelbare Nützlichkeit für das Hier und Jetzt des Alltagslebens sich oft nur schwer begreifen lässt.


Albert-Peter Rethmann, Prodekan an der theologischen Fakultät der Karlsuniversität Prag, sieht in dem schwierigen Erbe, das die tschechische katholische Kirche übernommen hat, jedenfalls auch ein großes positives Potential:

"Ich wünsche mir auf jeden Fall, dass die Erinnerungen, die hier vorhanden sind - die Erinnerungen an Widerstand, an ein überzeugtes Leben gegen eine übermächtige staatliche Gegenkultur - in Europa weiterhin präsent sind. Denn es sind wunderbare Menschen, die hier ihren Glauben gelebt haben, und die dazu beigetragen haben, dass hier nach der Wende kulturell und wertebezogen ein neuer Anfang gesetzt werden konnte."