Holešovice calling – vom Arbeiterbezirk zum Hipster-Viertel
Wo leben die Kreativen, wo trifft sich die Avantgarde? Wo sind die angesagten Viertel? Zwei Reise-Blogger haben die 20 hippsten Stadtteile Europas gesucht und sind auch in Prag fündig geworden: Holešovice im siebten Stadtbezirk konkurriert mit jungen Vierteln in Wien und Amsterdam. Ein Streifzug durch einen aufstrebenden Stadtbezirk.
Die Besonderheiten des Stadtteils sind natürlich auch der Bezirksverwaltung bewusst. Sie residiert in einem monumentalen Gebäudekomplex aus den 1920er Jahren. Früher wurde hier in über 700 Räumen die Planwirtschaft der ČSSR organisiert. In einem treffe ich Jakob Hurrle, der seit Januar im Stadtrat des Bezirks sitzt. Er betreut dort die Bereiche Soziales und Gesundheit.
„Prag 7 ist der Teil der Stadt, der sich in den letzten Jahren mit am stärksten verändert hat. Er ist sehr attraktiv geworden, obwohl noch vor 20 Jahren weite Teile, gerade Holešovice, den Ruf eines ziemlich dreckigen Arbeiter- und Industriequartiers hatten. Das hat sich jetzt radikal verändert.“Die Veränderungen hat auch Jaroslav Ostrčilík verfolgt. Er wohnt seit sieben Jahren in diesem Teil Prags:
„Es gibt in den Straßen zwischen den Wohnhäusern viele alte Fabriken aus dem 18. Jahrhundert, für die in den allermeisten Fällen ein neuer Zweck gefunden wurde. Das ist sehr beeindruckend. Es gab nämlich sehr viele dieser Gebäude. Diese Entwicklung hat Holešovice sehr stark neu geprägt und einiges bewegt. Dadurch sind natürlich viele Menschen hierher gezogen, die nicht mehr dem Arbeitermilieu angehören. So ist Holešovice hip geworden.“
Neue Kunst statt rauchende Schlote
Ein Beispiel für diese Art der Umnutzung ist das Dox. Aus einer ehemaligen Fabrik für Lokomotiven ist auf 3000 Quadratmetern eine moderne Galerie entstanden. Über dem beigen Klotz thront seit Dezember vergangenen Jahres eine Installation, die einem Zeppelin nachempfunden ist. 40 Meter lang, tonnenschwer, aus Holz und Stahl liegt sie auf dem Gebäude und scheint doch zu schweben. Ein ungewohntes Objekt, das zunächst fremd wirkt, aber doch in seine Umgebung integriert ist. So möchte auch Leoš Válka, Gründer und Direktor der Galerie, diesen Ort verstanden wissen.„Das Dox-Zentrum der Gegenwartskunst wurde im Jahr 2008 eröffnet. Seitdem ist es ein fester Bestandteil der kreativen Szene bildender Künstler in Prag. Das Dox ist wohl die größte private Galerie in ganz Tschechien. Dass sie hier im Stadtteil Holešovice angesiedelt ist, ist kein Zufall. Denn weltweit geht der Trend dahin, an ehemaligen Industriestandorten künstlerische Initiativen entstehen zu lassen – man spricht auch von der ‚Kreativindustrie‘. Im selben Zug haben sich hier Werbeagenturen, Grafiker, Theaterschaffende, Galerien und Designer niedergelassen. Auf die Künstler folgten Cafés und zahlreiche Geschäfte. Seit diesen acht Jahren ist die Kultivierung des Stadtviertels weiter vorangeschritten, doch zum Glück nicht so rasant, wie zu befürchten war. Deshalb ist auch heute noch das Bild von Holešovice geprägt von einem interessanten Mix aus Bauten der Leichtindustrie, modernen Bürogebäuden bis hin zu luxuriösen Wohnungen und eben der ‚Kreativindustrie‘. Dies alles bestimmt die Vielfalt in Holešovice. Und weil sich dieser Wandel zum Glück nur langsam vollzieht, hoffe ich, dass dieses Bild auch noch die nächsten zehn, fünfzehn Jahre erhalten bleibt.“
Zu ähnlicher Zeit haben sich auch die Betreiber des Kinos Bio Oko im Viertel angesiedelt. Sie übernahmen 2010 einen alten Kinosaal, den sie seitdem mit einem Programm aus Arthouse, Avantgarde und Blockbustern bespielen. Das Foyer des Kinos, eine Mischung aus Bar und Café, ist schon mittags gut besucht, man sitzt und unterhält sich angeregt. David Beránek leitet das Bio Oko:„Wir sind seit sieben Jahren hier. Es gab hier ein leer stehendes Kino, und der siebte Stadtbezirk hat eine Ausschreibung gemacht, die wir dann gewonnen haben. Seitdem wir hier sind, hat sich die Lage sehr gewandelt. Durch die Universitäten sind viele Studenten gekommen, die sich für Kunst interessieren, und gleichzeitig wurde die Initiative ,Art District 7‘ ins Leben gerufen. Wir waren vermutlich einfach im richtigen Moment am richtigen Ort.“
Kultur zwischen Integration und Anarchie
Art District heißt, dass Kulturinstitutionen, kleine Ateliers und Designer mit Unternehmen und vor allem mit der Bevölkerung im Viertel vernetzt werden sollen. Dazu wird beispielsweise öffentlich über die Entwicklung des Viertels diskutiert, oder man trifft sich bei kostenlosen Ausstellungen und Konzerten.„Durch Kunst und Kultur sollen die Nachbarschaften belebt und Leute auf die Straße gebracht werden. Kultur hilft auch, um gegen die Verwahrlosung des öffentlichen Raums vorzugehen und die Menschen zusammenzubringen. Wichtig ist dabei die Frage, die auch von Kritikern dieses Prozesses gestellt wird: Für wen ist eigentlich diese ganze Bewegung? Wer kann sich daran beteiligen, und wer beteiligt sich vielleicht nicht? Wir wollen versuchen, dass die Kultur einen integrativen Charakter hat und Menschen, die eher am Rande stehen, die Möglichkeit gibt, einbezogen zu werden“, so Stadtrat Hurrle.
Neben der Kunst bietet das Viertel auch Raum für exotische Ideen. Etwas eingeklemmt zwischen zwei gewöhnlichen Wohnhäusern befindet sich ein zweistöckiger Industriebau. Ganz in schwarz gestrichen hebt er sich von seiner Umgebung ab – er wirkt futuristisch. Und was sich hinter dieser Fassade verbirgt, ist ebenso zukunftsweisend. Es heißt paralelní polis, also Parallelstadt oder Parallelstaat, die Beteiligten haben sich ganz der Freiheit des Internets verschrieben. Im sogenannten „kryptoanarchischen Institut“ kann man etwa lernen, verschlüsselt online zu kommunizieren und sich so vor Überwachung zu schützen. Der Projektkoordinator Martin Šíp erklärt das experimentelle Konzept:„Parelelní Polis ist eine Non-Profit-Organisation, die 2014 in Zusammenarbeit mit der tschechischen Künstlergruppe Ztohoven und dem slowakischen Hacker-Projekt ProgressBar gegründet wurde. Unsere Organisation setzt sich für Technologien ein, mit denen der Mensch wesentlich freier und unabhängiger von Staaten werden soll. Wir finanzieren uns aus Spenden und aus unseren eigenen Projekten. So betreiben wir das MakersLab, das ist eine Werkstatt für 3-D-Druck, den Co-Working-Raum Paper Hub und das Bitcoin-Café. Dabei handelt es sich um das weltweit erste Kaffeehaus, in dem nur mit Bitcoin bezahlt werden kann. Die Bitcoins sind das Flaggschiff des ganzen Projektes, die erste nichtstaatliche Währung.“
Aber es sind nicht nur solche aufsehenerregenden Projekte, die den Bezirk prägen, sondern es wandelt sich auch das allgemeine Straßenbild. Die österreichische Journalistin und Köchin Sandra Dudek lebt und arbeitet seit 2004 im Stadtteil.Am Sonntag geschlossen
„Wenn ich darüber nachdenke, hat sich Prag 7 in den letzten Jahren sehr verändert. Sehr erstaunlich ist, wie ein Kaffeehaus nach dem anderen aufmacht und ich mich gar nicht mehr erinnern kann, was vorher da war.“
Besonders im Bereich der Letná sei der Wandel aber immer noch vergleichsweise sanft. Es gehe längst nicht so hektisch und touristisch zu wie in der Prager Altstadt, betont Dudek:
„Ich bin ursprünglich aus Österreich und seit 2001 in Tschechien. Woran ich mich zunächst gestoßen habe, war der Turbokapitalismus hier im Land. Dass der Supermarkt 24 Stunden geöffnet ist, war für mich neu und sehr befremdlich. Aber hier im Stadtteil Letná war und ist es am Samstag um zwölf Uhr immer noch eher ruhig. Die Drogerie, die kleinen Haushaltswarengeschäfte oder das Gewürzgeschäft machen mittags zu. Ich empfinde das als einen Vorteil.“
Dasselbe gilt aber nicht in allen Teilen des siebten Stadtbezirks. Unten an der Moldau sind viele Investoren angelockt worden. Es droht, dass durch Großprojekte alte Strukturen verloren gehen. Jaroslav Ostrčilík:„Gerade im Bereich der sogenannten ‚Prag-Marina‘ wohnen Leute, die dort eigentlich nicht wirklich leben, sondern nur physisch zugegen sind. Sie fahren mit dem Auto zur Arbeit und zurück und schlafen dann in ihren Luxuswohnungen. In diesem Raum findet auch kein Austausch mit umliegenden Häusern oder anderen Wohnblocks statt, und dadurch ist dort auch kein Leben. In andere Teilen des Viertels sind die Strukturen viel organischer gewachsen, das steht im Gegensatz zu den künstlichen Klötzen an der Moldau.“
Der Fußballschal in der Kneipe
Auch Stadtrat Jakob Hurrle sieht die Entwicklung von Prag 7 differenziert. Es sei die Aufgabe der Politik, genauso die Entwicklung von Kunst und Kultur zu fördern, wie darauf zu achten, dass das Viertel ein Lebensraum für alle bleibt.„Das Viertel ist sehr attraktiv geworden für Kunstschaffende und Kreative. Das sieht man in den Straßen: Es sind unglaublich viel Cafés und kleine Galerien entstanden. Auf der einen Seite ist das ein sehr positiver Wandel, den wir auch unterstützen. Auf der anderen Seite: Je erfolgreicher dieser Wandel ist, desto bedrohlicher kann er auch für diejenigen sein, die auf der Strecke zu bleiben drohen – Menschen die nicht so kreativ sind, ältere Bewohner oder Menschen mit weniger Geld. Ich denke, hier ist das Hauptproblem der Wohnungsmarkt, dass für bestimmte Menschen die Mieten unerschwinglich werden könnten.“
Aus Sicht von Ostrčilík hat der Wandel vieles verbessert. Aber nicht alle alten Probleme seien gelöst:„Die Gentrifizierung hier ist sehr wohl zu beobachten – Hipster überall! Aber sie ist doch sanft. Neben schicken Kaffeehäusern, die immer mehr aufmachen oder umgewandelt werden, werden weiter ganz normale Kneipen betrieben, in denen beispielsweise ein Schal des Fußballklubs Sparta Prag an der Wand hängt. Und gleichzeitig finden sich Designerläden genauso wie etwa eine Drogerie. Unterschiedliche sozio-ökonomische Gruppen leben hier nebeneinander. Es gibt einige Straßen, die Tschechen ein kleines Ghetto nennen würden. Dort wohnen Roma und Menschen in prekären Lebenslagen. Gleichzeitig finden sich Straßen, in denen Porsche parken. Es ist sehr bunt hier.“