„Junge Perspektive einbringen“ – Sieger des Europäischen Essaywettbewerbs
Zum 13. Mal haben die Ackermann-Gemeinde und die Bolzano-Gesellschaft auch in diesem Jahr den Europäischen Essaywettbewerb für Studierende veranstaltet. Radio Prag International hat die Sieger getroffen.
Das Thema des Essaywettbewerbs hieß in diesem Jahr „Ist der Westen noch zu retten?“. Wie die Initiatoren zur Wahl des Themas anmerkten, hätten der russische Angriff auf die Ukraine von 2022 und die Veränderungen der geopolitischen Realität die traditionellen Werte in Europa zutiefst erschüttert. Wie im Schatten des Krieges eine gemeinsame Sprache gefunden werden könne, lautete darum eine der Fragen, die die Teilnehmer des Wettbewerbs inspirieren sollten.
Die Preisträger des Wettbewerbs wurden während des Symposiums „Dialog in der Mitte Europa“ feierlich bekanntgegeben, das vom 22. bis 24. März in Brno / Brünn stattfand.
„Der erste Platz geht an Herrn Alexander Ihle“, sagte Oliver Herbst, der die Preisverleihung moderierte und auch Jurymitglied war. Der Gewinner wurde aufgefordert, seinen Essay vorzulesen. Hier ein Ausschnitt aus dem Aufsatz:
„Es ist nicht schwer, sich in diesen Tagen in seinen eigenen Gedanken zu verlieren; in Zeiten von Krisen und Kriegen scheint die Flucht in sich selbst der beste Ausweg. Es wird dabei immer ungeordneter, nicht nur auf der Welt, sondern auch in mir. Kaum eine Krise hat meiner Generation so die Realität des vergänglichen Friedens verständlich gemacht wie der Ukraine-Krieg. Ein Novum in einer Gesellschaft, die unseren Wertevorstellungen so sehr ähnelt, das zeigte nicht zuletzt der Euromaidan mit dem Wunsch einer Zusammenkunft unter der gemeinsamen europäischen Flagge. Es ist auch ein klarer Wunsch meiner Generation in der Ukraine, für moderne Werte einzustehen, jeden Menschen als Teil einer funktionierenden Gesellschaft zu fördern und seine Freiheiten als Grundlage für ein erfülltes Leben eines jeden Einzelnen zu sehen. Betrachtet man die politische Lage in Russland und den Eingriff in die öffentlichen und privaten Strukturen, kann man an diesem freiheitlichen Begriff in Russland stark zweifeln. Mit dem Krieg gegen die Ukraine beginnt somit auch ein klarer Angriff auf das, was uns umgibt, unsere Strukturen, unsere Demokratien und unsere Rechte, die in anderen Ländern an Wert verlieren. Wir befinden uns im Herzen Europas, auch hier werden die Wertevorstellungen von unterschiedlichen politischen Kräften von innen und außen angegriffen, als kein Teil dieser Gesellschaft definiert und gezielt Menschen aus unserer Mitte gerissen. Die Proteste innerhalb Deutschlands haben dabei sehr wohl gezeigt, dass man für die allgemeinen Werte dieser europäischen Gemeinschaft einsteht. Es ist keine Selbstverständlichkeit, in Frieden und Freiheit zu leben; es ist ein kontinuierlicher Prozess, bei dem der demokratische Wertekompass immer wieder die Grenzen des Rechts eines jeden ausloten muss…“
Der 24-jährige Alexander Ihle mit einem Ausschnitt aus seinem Essay. Alle drei ausgezeichneten Beiträge wurden in Brünn vorgelesen und anschließend auf der Homepage der Ackermann-Gemeinde veröffentlicht.
Den zweiten Platz belegte Patrick Kittler (25), den dritten Barbora Šindelářová (23). Nach der Preisverleihung entstanden die folgenden Gespräche mit Alexander Ihle und mit Patrick Kittler.
Herr Ihle, wie haben Sie von dem Wettbewerb erfahren?
„Ich habe darüber über meinen Professor erfahren. Ich dachte mir, es ist eine gute Möglichkeit, meine Perspektive einzubringen, und habe mich dann beworben. Ich studiere in Chemnitz Politikwissenschaften, bin kurz vor dem Bachelor und strebe dann den Master an.“
Fanden Sie etwas besonders spannend an diesem Wettbewerb?
„Für mich war das Thema interessant. Sich also damit auseinanderzusetzen, was die europäischen Werte sind: Woran halten wir fest, was kann man gehen lassen, und wie kann man eine junge Perspektive einbringen.“
Können Ihrer Meinung nach aus Russlands Krieg gegen die Ukraine bestimmte Lehren gezogen werden?
„In jedem Fall, dass man Demokratie schützen muss. Dass man vor allem mehr Mut haben sollte, sie zu verteidigen und dies auch in Form breit angelegter Bildung.“
Kann Ihnen die Auszeichnung Impulse für das weitere Studium geben?
„Für mich ist es das erste Mal, dass ich auf einem solchen Podium gesprochen habe. Ich fand es toll, dass ich Anerkennung für einen sehr persönlichen Text bekommen habe und meine Perspektive darstellen konnte. Für mich ist es natürlich auch wichtig, diesen Dialog zu führen, weil er gerade generationsübergreifend ist.“
Hatten Sie inzwischen schon die Möglichkeit, mit jemandem aus dem Publikum über Ihren Essay zu sprechen?
„Ja, ich hatte schon die Möglichkeit, von einigen Leuten Reaktionen einzuholen. Und die waren eindeutig positiv. Es freut mich natürlich, dass die Perspektive angekommen ist und am Streben nach Demokratie festgehalten wird. Man sieht, dass man sich um die Demokratie kümmert.“
Herr Kittler, wie haben Sie von dem Wettbewerb erfahren?
„Der Moderator Oliver Herbst war im vergangenen Semester mein Dozent in einem Uni-Seminar. Da er uns deswegen seine Telefonnummer gab, sah ich zufällig über WhatsApp, dass er diese Ausschreibung geteilt hatte. Als ich das Thema sah, war für mich klar, dass ich mitmachen muss.“
Haben Sie während dieser kurzen Zeit nach der Preisverleihung schon Reaktionen aus dem Publikum auf Ihren Essay gehört?
„Es hat mich sehr gefreut, als zwei, drei Leute zu mir kamen und sagten, dass sie den Essay super fanden. Ich habe auch eine Podiumsdiskussion geführt, die ich spannend fand. Das war, was ich mir erhofft habe. Ich hätte mich auch gefreut, wenn die Podiumsdiskussion hätte noch länger gehen können.“
Können Ihnen die Anerkennung und die Erfahrung vom Brünner Symposium irgendwie beim Studium helfen?
„Als Erfahrung sowieso. Man bekommt eine Anerkennung, die man in einem anderen Raum nicht bekommen hätte. Es ist ein Unterschied, ob man den Text Freunden oder Eltern zeigt oder ob man aus Deutschland hierhergefahren wird und den Essay vortragen kann. Es gibt eine Jury, die schon einiges gelesen hat und sehr erfahren ist. Wenn sie sagt, der Text ist gut, dann ist es eine große Hilfe, diese Anerkennung zu haben. Ich überlege, in die Journalistik zu gehen. Ich arbeite teilweise schon in dem Bereich, indem ich Filmkritiken und Texte über Filme schreibe.“
Den Preis für den dritten Platz im Essaywettbewerb erhielt Barbora Šindelářová. Die 23-Jährige studiert Medizin an der Prager Karlsuniversität. Sie ist Mitglied der Jungen Sozialdemokraten. Für die Teilnahme am Wettbewerb habe sie sich entschieden, da sie das Thema angesprochen habe, sagte sie gegenüber Radio Prag International:
„Ich halte mich für eine stolze Europäerin und wollte meine Meinung zum Ausdruck bringen.“
Auf die Frage, ob der Westen noch zu retten sei, antwortet die Preisträgerin:
„Ich denke schon. Wenn die junge Generation aktiver wird und konstruktiv denkt, bin ich davon überzeugt, dass der Westen noch zu retten ist.“
Barbora Šindelářová meint zudem, dass man in den letzten Jahren in einer postfaktischen Zeit lebe:
„Wir können uns auf keine Informationen verlassen. Es ist notwendig, alles zu überprüfen. Vor allem junge Europäer sollten nach Tatsachen suchen und eine eigene Meinung haben. Es ist wichtig, mit den anderen zu diskutieren – egal ob es eine andere Generation ist oder Menschen sind, die andere politischen Ansichten haben.“
Barbora Šindelářová ist nicht die erste Studentin ihres Fachs, die beim Essaywettbewerb gepunktet hat. Vor einem Jahr siegte eine deutsche Medizinstudentin. Šindelářová dazu:
„Ich war überrascht, dass ich den dritten Preis erhalten habe. Ich denke, dies könnte für Studierende aus verschiedenen Fächern inspirierend sein. Wenn man Technik oder Naturwissenschaften studiert, bedeutet das noch nicht, dass man sich nicht auch für soziale oder politische Themen interessieren kann.“
Oliver Herbst ist Journalist. Er war auch Mitglied der Jury beim diesjährigen Wettbewerb. Hier ein Gespräch mit dem Juror:
Herr Herbst, Sie waren Jurymitglied beim Essaywettbewerb. Was fanden Sie in diesem Jahr am spannendsten?
„Das Thema ,Ist der Westen noch zu retten?‘ war sehr komplex. Das muss man ganz ehrlich sagen. Wir stellen eine gewisse Fragilität der westlichen Gesellschaftssysteme fest und auch Rückschläge. Aber trotz all dem stelle ich doch beim Anschauen aller Wettbewerbsbeiträge auch etwas sehr Motivierendes fest. Das ist der Optimismus, der in den Essays deutlich wird. Dieser ist auch tatsächlich angebracht. Denn der Westen bietet doch etwas Wichtiges an: die Fähigkeit, Kritik auszuhalten, Kompromisse zu schließen und auch sich selbst jederzeit reformieren zu können.“
Wie viele Beiträge sind eigetroffen?
„Es waren diesmal 18 Beiträge. Das ist nicht allzu viel, aber doch ein guter Rücklauf. Besonders schön war diese Breite an Themen, die dabei angeboten worden ist.“
Letztes Jahr wurde eine Medizinstudentin mit dem ersten Preis geehrt, auch diesmal ging ein Preis an eine künftige Ärztin…
„Das macht eben diese Vielfalt und diese Diversität aus, die der Wettbewerb widerspiegelt.“
Lässt sich aus den Beiträgen erfahren, was für Lehren man vom Russlands Krieg gegen die Ukraine ziehen kann?
„Ja, nämlich dass wir im damaligen Westen jene Länder, die früher zum Warschauer Pakt gehörten und sich westlich der Sowjetunion befanden, völlig zu Unrecht als Osteuropa bezeichnet haben. Das ist eine der Lehren, die auch ich mitnehme. Für uns war alles, was östlich der Bundesrepublik war, Osteuropa. Wir sehen nun, dass es ein Fehler war, diese Länder so falsch einzuordnen.“