Mobbing und Schikanen: Gewalt an tschechischen Schulen
Wer in einer tschechischen Schulklasse hospitiert, wird wahrscheinlich überrascht sein, wie brav und zurückhaltend tschechische Schüler etwa im Vergleich zu deutschen wirken. Die Lehrer - das merkt man auf Schritt und Tritt - besitzen hier eine nahezu grenzenlose Autorität. Sogar Kindergärtnerinnen werden in Tschechien mit "Frau Lehrerin" angesprochen. Doch hinter der Fassade von Zucht und Ordnung kommen an vielen tschechischen Schulen zunehmend Mobbing und gegenseitige Schikane zum Vorschein.
"Zuerst hatte ich Angst darüber zu sprechen. Aber als es richtig schlimm wurde, habe ich es meiner Mutter erzählt und sie ist dann zur Schuldirektorin gegangen. Die hat uns versprochen, dass alles besser wird. Aber sie hat nichts gegen das Mobbing unternommen, und ich habe dann schließlich die Schule gewechselt."
Die Geschichte von Michaela Vesela, 8. Klasse, ist kein Einzelfall: Rund 40 Prozent aller tschechischen Schüler sind laut unterschiedlichen Erhebungen in den letzten Jahren schon einmal Opfer von Schikane geworden. Zwar gab es hier bislang keine Amokläufe, die die Welt schockierten. Aber es hat sich ein latente und stetig wachsende Rücksichtslosigkeit breit gemacht, beobachtet Bohumil Stejskal aus dem tschechischen Schulministerium:
"Die Aggressivität nimmt insgesamt zu. Das ist nicht nur ein Problem der Schulen, wie viele Leute hier meinen. Man merkt das beispielsweise auch an den Autofahrern. Die Kinder brauchen positive Vorbilder, und die bieten wir Erwachsene ihnen nicht mehr."
Vorbilder suchen sich auch die tschechischen Kinder zunehmend in brutalen Computerspielen und in den Medien. Hier sieht Stejskal die Hauptursache für die wachsende Gewalt an den Schulen. Die politische Wende von 1989 sei dafür nicht verantwortlich:
"Dieses Verhalten gab es immer, auch vor 1989 schon. Seit der Wende wird einfach offen darüber geredet, das ist der Unterschied."
Offen über Gewalt zu reden - genau das fällt den betroffenen Kindern und Eltern aber schwer. Auch die Lehrer fühlen sich häufig überfordert. Dennoch helfe es niemandem, dem Thema aus dem Weg zu gehen, meint der vierzehnjährige Ondrej Keiser, Schüler an der Interbrigady-Schule in Prag. Nur wenn man sie gezielt anpacke, könnten Mobbing und Schikane rechtzeitig verhindert werden:
"Auf jeden Fall sollte man auch kleinere Schikanen nicht als harmlose Scherze abtun. Es ist überhaupt nicht harmlos, wenn es zur Mode wird, Schwächere zu tyrannisieren und Spaß daran zu haben."
Ondrejs Schule ist eine von mehreren Projektschulen in Tschechien, die Gewalt und Schikane regelmäßig im Unterricht thematisieren. Vater des Projektes ist der Psychologe Michal Kolar. Er ist überzeugt, dass es wesentlich weniger Gewalt an den Schulen gebe, wenn mehr in präventive Maßnahmen investiert würde:
"Vor einigen Jahren ist es uns bei einem Pilotprojekt gelungen, an den beteiligten Schulen die Fälle von direkter und indirekter Schikane innerhalb von vier Monate um bis zu 75 Prozent zu senken. Ein sehr ermutigendes Ergebnis."