Das "hunderttürmige" Prag

Prag

Prag wird als die goldene, bzw. hunderttürmige Stadt bezeichnet. Wie das zuletzt genannte Attribut entstand, das können Sie im folgenden Spaziergang durch Prag von Martina Schneibergova und Gerald Schubert erfahren.

Prag, die hunderttürmige Stadt - dieser Beiname wurde Prag wahrscheinlich erstmals 1814 von Schriftsteller Josef Hormayer gegeben. Das Attribut soll den Pragern damals so gut gefallen haben, dass sogar eine Kommission errichtet wurde, deren Ziel es war, zu beweisen, dass der Autor Recht hatte. Mitglied der Kommission war neben dem berühmten Linguisten Josef Dobrovsky auch der nicht weniger bekannte Mathematiker und Philosoph Bernard Bolzano. Dieser soll als Erster die Türme Prags gezählt haben. Er kam zu einer Zahl von 103. Hormayer hatte also Recht.

Schon damals tauchte jedoch die Frage auf, was man eigentlich als Turm bezeichnen soll. Unter den 103 Prager Türmen, die der Mathematiker Bolzano in Prag fand, waren jedenfalls die Wassertürme und die kleineren Türme an Privathäusern nicht miteinberechnet. Bei der erwähnten Zahl von Türmen handelte es sich nur um Kirchtürme bzw. Wehrtürme.

Der Prager Chronist Zap kam zu dem Schluss, dass die Stadt 89 größere, mehr als 100 kleinere und 22 Stadttürme hat. Ein anderer Prag-Kenner, Schotke, kam 1881 auf eine Zahl von nur 77 Türmen. Damit Prag das wohlklingende Attribut behalten konnte, begann man zwei Jahre später erneut mit der Zählung der Prager Türme - damals mit dem Ergebnis, dass es in der Stadt 74 größere und an die 50 kleinere Türme geben solle.

Um ähnlichen widersprüchlichen Angaben entgegenzuwirken, fing man am Anfang des 20. Jahrhunderts an, einfach alles, was über die Prager Dächer hinausragte, in das Verzeichnis der legendären Prager Türme mit einzuberechnen. So sprach man 1936 von fast 400 Prager Türmen. Im Buch mit dem Titel "1000 tschechoslowakische Rekorde", das jedoch aus dem Jahr 1976 stammt, ist von 473 Türmen die Rede. Es scheint also, dass Prag das Attribut "hunderttürmig" mit Recht trägt.

Außer bei den historisch und architektonisch wertvollsten Türmen mangelt es bei den meisten Türmen jedoch an ausführlicheren Informationen. Josef Podzimek, der sich vor kurzem am Umbau des unweit des Wenzelsplatzes gelegenen Heinrichsturms (tschechisch: Jindrisska vez) beteiligte, hielt es für kaum begreiflich, dass sich bislang niemand mit der Evidenz der Prager Türme befasste, und dass diese bislang von niemandem systematisch fotografiert wurden. Mit Ausnahme von den ca. 20 bekanntesten Türmen interessierte sich auch niemand für die Höhe der anderen Türme. Aus diesem Grund befasste sich Podzimek gemeinsam mit einigen Historikern und Archivaren zwei Jahre lang damit, die Prager Türme zu identifizieren, zu beschreiben und zu fotografieren.

Allein in einem Umkreis von drei Kilometern um den erwähnten Heinrichsturm, über dessen Wiedereröffnung wir Sie vor knapp zwei Monaten informierten, gibt es nach den Worten von Podzimek an die 120 Türme. Würde man die verschiedenen Kuppeln sowie die kleinen Türme der Bürgerhäuser und Kirchen mitrechnen, dann wäre die Zahl noch um ein Vielfaches höher. Podzimek zufolge ist daher auch die Behauptung, Prag sei eine tausendtürmige Stadt, nicht übertrieben. In Zusammenarbeit mit der Prager Technischen Universität sollen die meisten der von Podzimeks Team beschriebenen Türme auch gemessen werden. Wenn alles klappt, soll schon bald eine Publikation zu diesem Thema erscheinen, in der auch bisher nie veröffentlichte Zeichnungen enthalten sein werden.

Weniger bekannt ist, dass sich unter den hundert bzw. tausend Prager Türmen auch schiefe Türme befinden. Diese können zwar mit dem wohl berühmtesten schiefen Bauwerk der Welt - dem Turm in Pisa - kaum konkurrieren, die Neigungswinkel sind trotzdem erwähnenswert. Der Turm mit der größten Abweichung - nämlich 68 Zentimeter - ist der Sitka-Wasserturm unweit der Galerie Manes. Nach Expertenmeinung ist die Statik dieses schiefen Turms auch nach dem Hochwasser, das Prag voriges Jahr heimsuchte, in Ordnung.

Baulich am wertvollsten ist unter den schiefen Türmen allerdings der linke Turm der St.-Georgs-Basilika auf der Prager Burg. Eine fast 50 Zentimeter betragende Abweichung weist auch der Turm der Jungfrau Maria Na slupi unweit des Emmaus-Klosters auf. Schief ist auch der Turm des Altstädter Rathauses. Und den offensichtlich jüngsten schiefen Turm in Prag findet man an der Johannes-Nepomuk-Kirche im Stadtteil Kosire, die 1938 erbaut wurde. Die Abweichungen aller dieser Türme sind jedoch nicht gefährlich und werden regelmäßig kontrolliert.

Wenn wir bei den Besonderheiten der Prager Türme sind, dann dürfen wir natürlich auch den höchsten Turm nicht vergessen. Der Fernsehturm im Stadtteil Zizkov ist mit seinen 216 Metern Höhe kaum zu übersehen. Der Bau der ungewöhnlichen Konstruktion wurde noch während des kommunistischen Regimes von vielen Protesten begleitet. Die Bewohner aus der Umgebung gewöhnten sich jedoch inzwischen an den Riesenturm.

Drei Aussichtskabinen in einer Höhe von 93 Metern bieten einen Blick auf Prag aus der Vogelperspektive. Zu sehen ist von dort meist auch der legendenumwobene Berg Rip. Bei günstigen Bedingungen kann man sogar bis nach Südböhmen sehen, nach Pisek, oder nach Nordböhmen bis nach Liberec / Reichenberg oder Usti nad Labem / Aussig. Richtung Westen hat man bei guter Sicht einen Blick bis nach Plzen / Pilsen, Richtung Osten bis nach Hradec Kralove / Königgrätz. Etwas niedriger als die Aussichtskabinen, in einer Höhe von 66 Metern, befindet sich in dem Fernsehturm außerdem ein Restaurant.

Zur Attraktivität des Turms trugen die riesengroßen schwarzen Babies bei, die seit einiger Zeit auf dem Turm umherzuklettern scheinen. Die Plastiken sind ein Werk von David Cerny und wurden im Rahmen des Projektes "Prag-Kulturstadt Europas" im Jahre 2000 auf dem Turm installiert - damals eigentlich nur für eine kurze Zeit. Da die Babies inzwischen jedoch sehr populär geworden waren, wurden sie abermals auf dem Fernsehturm angebracht - diesmal laut Vertrag für 20 Jahre.

Unseren kleinen Überblick über die Besonderheiten der hundert bzw. tausend Prager Türme möchten wir noch mit zwei Kuriositäten aus der Turmgeschichte beenden:

Die Türme der Teynkirche am Altstädter Ring dienten vor ein paar Jahren als Falkennest. Es war sogar möglich, das Leben der Raubvögel, die sich ein ungewöhnliches Zuhause in dem historischen Objekt errichtet hatten, im Internet on-line zu beobachten. Die Übertragung ging jedoch zu Ende, als die jungen Falken das Nest verließen.

Ein zweites Details zur Nutzung der Prager Türme: Der Glockenturm der Nikolauskirche auf dem Kleinseitner Ring, der im Besitz der Stadt war, diente einst dem kommunistischen Geheimdienst StB als Beobachtungsposten. Inzwischen wurde dort eine Ausstellung mit dem Titel "Musik der Prager Chöre" installiert.

Damit sind wir, liebe Hörerinnen und Hörer, am Ende des heutigen Spaziergangs angelangt, in dem wir Ihnen einige - hoffentlich weniger bekannte Tatsachen aus der Geschichte der hunderttürmigen Stadt verrieten, die wie gesagt auch als tausendtürmig bezeichnet werden könnte. Für die Spiellustigen noch ein Hinweis - im nächsten Spaziergang - in zwei Wochen - wird es wieder eine Quizfrage geben, für deren richtige Beantwortung Sie eine CD gewinnen können.