Non-Stop-Lesung 2004: 30.Mai - 2.Juni
Seit bereits sieben Jahren findet sie jeweils im späten Frühjahr statt und wurde mittlerweile zum Inbegriff einer originellen Begegnung mit der tschechischen und slowakischen Literatur - die Non-Stop-Lesung, die traditionsgemäß in Prag gestartet und anschließend in viele andere Städte in und außerhalb Tschechiens übertragen wird. Bis zum Lesemarathon 2004 werden noch ein paar Monate vergehen müssen, doch das Motto der jährlichen Veranstaltung wurde bereits verkündet. Mehr erfahren Sie in der nachfolgenden Ausgabe unserer Sendereihe Begegnungen von und mit Jitka Mladkova:
"Das Verhältnis zum Nachbarn gilt tatsächlich als eine Beweisprobe unserer eigenen Toleranz. Mit denjenigen, die kilometerweit entfernt von uns leben, kommt man bekanntlich gut aus. Wenn aber jemand unser Nachbar, ein Mitbewohner auf derselben Etage oder sogar unser Familienangehöriger ist, dann ist es mit der Fähigkeit mit ihm auszukommen, ihn zu verstehen und mit ihm zu kommunizieren viel komplizierter. Im zwischenstaatlichen Verhältnis ist es ähnlich. Ich bin sehr froh, dass sich die Beziehungen zu unseren Nachbarländern Deutschland und Österreich verbessert haben."
Durch die Lektüre kann man ja vieles über den Nachbarn, sprich über das Nachbarland, erfahren. Außenminister Svoboda hatte hierzu einen Tipp parat:
"Was die deutsche Literatur anbelangt, würde ich allen empfehlen Heinrich Böll zu lesen. Zumindest für mich bedeutete die Böll-Lektüre die Vermittlung einer neuen Sicht auf den 2.Weltkrieg und auch darauf, wie die Deutschen selbst den Krieg sehen."
Soweit Cyril Svoboda. Zum selben Thema habe ich mich auch mit Jan Bondy, Leiter der Tschechischen Zentren im Ausland, unterhalten:
"Sie haben unsere Nachbarn aus unmittelbarer Nähe kennen gelernt. Herr Minister Svoboda hat hier darüber gesprochen, dass wir viel über unsere Nachbarn lesen sollten, um sie besser kennen zu lernen. Was sollten wir Tschechen mehr über die Deutschen erfahren und umgekehrt?"
"Aufgrund meiner Erfahrung kann ich bestätigen, dass wir mehr über unsere Nachbarn und die gegenseitigen Beziehungen lesen müssen, und da sollen auch die tschechischen Zentren im Ausland, namentlich die in Deutschland, und umgekehrt auch as Goethe-Institut in Tschechien helfen. Wir sind der Meinung, dass solche Aktivitäten wie die Nonstop-Lesung auch das Lesen als solches angeregt werden kann, um uns besser kennen zu lernen. Das ist auch der Grund, warum wir versuchen werden, vor dem deutschen Publikum tschechische Autoren und ihre Bücher vorzustellen, und umgekehrt. Wenn man eine kleine Umfrage auf der tschechischen Seite machen würde, wie viele zeitgenössische deutsche Autoren hier bekannt sind, wären es nicht viele. Dazu können also auch diese Aktivitäten beitragen."
Und etwas konkreter? Ich habe gefragt, was sollen z.B. die Tschechen über die Deutschen erfahren, was sie noch nicht oder wenig wissen? Wo sehen Sie einen Nachholbedarf?
"Meiner Meinung nach sind wir immer noch sehr von der Geschichte beeinflusst. Am besten ist eine "Reise" durch das aktuelle Geschehen, durch die Gegenwart und das gegenwärtige Kulturleben in Deutschland. Das ist, glaube ich, das Wichtigste, was wir über unsere Nachbarn wissen sollten. Und das gilt auch umgekehrt."
Jan Bondy, Direktor der Tschechischen Zentren im Ausland. Ähnlich Fragen stellte ich auf dem Treffen auch dem anwesenden DPA-Korrespondenten in Prag, Wolfgang Jung. Hier ist das Gespräch:
Sagen Sie mir bitte, Sie haben eine langjährige Erfahrung mit den Tschechen, da Sie seit mehreren Jahren in Tschechien leben. Wo besteht aus Ihrer Sicht der Nachholbedarf der Tschechen in der Lektüre über die Deutschen?
"Zunächst muss ich sagen, dass ich selbst als Deutscher die deutsche Literatur nicht bis ins kleinste Detail kenne, also habe ich selbst den Nachholbedarf. Aber natürlich darf man nicht den Fehler machen, nur die Klassiker zu lesen - Goethe, Schiller - die Klassiker, die vielleicht jeder aus der Schule kennt, sondern sich auch auf die jungen deutschen Nachwuchsautoren herantrauen, die vielleicht manchmal eine sehr unbequeme Sprache benutzen, wie z.B. Thomas Brussig, der dürfte nicht so unbekannt sein, und das neue Deutschland kennen lernen. Ich meine das vereinigte Deutschland. Das kann man, glaube ich, mit der jungen Gegenwartsliteratur aus Deutschland gut tun."
Und wie wäre es umgekehrt, wenn Sie Ihren Landsleuten eine Empfehlung machen sollten?
"Ich wage mal die Behauptung, dass die tschechischen Klassiker in Deutschland nicht oder nicht mehr so unbekannt sind. Bohumil Hrabal, Ival Klima sind ganz bestimmt in Deutschland bekannt, ganz zu schweigen von Hasek. Auch die jüngere tschechische Literatur, ich denke da z.B. an Jachym Topol, kann für deutsche Leser interessant sein, weil sie nicht das klassische Bild des Bier trinkenden Böhmen Schwejk vermitteln, sondern ein selbstbewusstes frisches Bild des Nachbarlandes, das schon Partner in der NATO ist und bald auch Partner in der EU sein wird. Also umgekehrt gilt das gleiche, sich an die Gegenwartsliteratur herantrauen."
Doch nicht nur durch die Lektüre der Literatur erfährt man etwas mehr über den Nachbarn. Was sollten die Deutschen über die Tschechen erfahren, was sie vielleicht noch nicht wissen?
"Jedes Volk kann über das Nachbarvolk wundersame Dinge erfahren, genauso wie man wundersame Dinge über das eigene Volk erfahren kann. Allgemein gilt, ohne Vorurteile herantreten, mit einem frischen Blick einfach die Reise auch wagen - die Tschechen nach Deutschland und die Deutschen in die Tschechische Republik - und miteinander sprechen und miteinander leben. Dann kann es auch gut gehen. Nur so kann das auch in Europa funktionieren. Zu Hause sitzen und bis Mitternacht sich das andere Land im Internet anschauen, das wird auf die Dauer nicht gut gehen."
Das gilt also für "Drüben wie Hüben", nicht wahr?
"Ja, das gilt für Hüben wie Drüben. Ich kann aber dazu noch sagen, dass natürlich auch die Medien eine besondere Funktion haben. Da kann ein Radio dadurch, dass es aktueller als manch anderes Medium ist, eine ganz wichtige Aufgabe erfüllen. Auch wenn das Sprachproblem eine Rolle spielt, trotzdem! Gerade das Radio kann eine Menge vermitteln, z.B. wie Musik klingt. Es ist immer wieder interessant, ein anderes Land, das Nachbarland, durch Musik zu vermitteln. Und auch da mache ich Mut, nicht nur Karel Gott, nicht nur Ramstein. Es gibt auch in beiden Ländern andere interessante Dinge, die es sich lohnt zu hören."