Jenaer Kodex – Exkurs in die Geschichte des mittelalterlichen Kulturjuwels
Nur bis zum 30. März kann man sich das einmalige Kulturdenkmal des tschechischen Schrifttums vom Ende des 15. Jahrhunderts - den so genannten „Jenaer Kodex“ - anschauen. Ausgestellt wird es nur nur zwei Wochen lang, und zwar auf der Prager Burg im Rahmen der Ausstellung „Die Kunst der tschechischen Reformation“. Danach wird das einmalige Werk wieder in sein Domizil - einen tresoratigen Raum mit stabiler Luftfeuchtigkeit - zurückgebracht, wo es mindestens fünf Jahre schlummern soll. Gezeigt wird es nämlich nur bei besonderen Gelegenheiten. Allein für diese kurze Ausstellung wurde das Kunststück auf 100 Millionen Kronen (etwa vier Millionen Euro) versichert.
120 zusammengebundene Blätter, neun davon aus Pergament, und 122 Illustrationen, verfasst in tschechischer und lateinischer Sprache – das ist das Werk „Anthithesis Christi et Antichristi alias Widerspruch zwischen Christus und dem Antichrist“. In der Öffentlichkeit ist es mehr bekannt als Hussitenbibel oder der Jenaer Kodex. Seine Entstehungszeit geht auf die Wende des 15. zum 16. Jahrhundert zurück. Das sind die Eckdaten dieses Kultur- und Kunstwerks der tschechischen Reformation. Die Abteilungsleiterin für alte Handschriften im Prager Nationalmuseum, Marta Vaculínová, ergänzt:
„Der Kodex entstand auf sonderbare Weise. Es ist bekannt, dass er im Auftrag eines gewissen Bohuslav von Čechtice geschrieben wurde. Dieser Prager Bürger war ein leidenschaftlicher Anhänger der hussitischen Kirche. Sein Einfluss auf den Kodexinhalt, der gegenüber der damaligen katholischen Kirche sehr kritisch ist, liegt auf der Hand. Im Werk widerspiegelt sich Bohuslavs Bewunderung für den Kirchenreformator Jan Hus sowie dessen Zeit- und Glaubengenossen Hieronymus von Prag“.Die beiden Gelehrten wurden auf dem Konstanzer Konzil zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt. Das Urteil wurde im Juli 1415 beziehungsweise im Mai 1416 vollstreckt. Der Kodex entstand etappenweise zwischen den Jahren 1490 und 1510. Die Kuratorin der Ausstellung zur tschechischen Reformation, Kateřina Horníčková, erläutert:
„Es ist ein Konvolut von zehn Teilen, die inhaltlich in keinem Zusammenhang stehen. Sie wurden nämlich zu verschiedenen Zwecken verfasst. Eines haben sie vielleicht doch gemeinsam. Sie sagen viel über die hussitische Theologie in der Zeit der tschechischen Reformation aus, aber auch darüber, auf welche Weise man die Öffentlichkeit von der Gedankenunterschiedlichkeit des hussitischen Glaubens zur offiziellen katholischen Religion überzeugen wollte“.Irgendwann zu Beginn des 16. Jahrhunderts ist aus den zehn Teilen ein mit einfachen Lederdeckeln versehener Bucheinband entstanden, verziert mit einem eingestanzten Kelch, dem Hussitensymbol. Über sein Schicksal in den nachfolgenden Jahren ist nichts bekannt. Mitte des 16. Jahrhunderts befindet sich der Kodex schon in der Universitätsbibliothek in Jena, wo er bis 1951 schlummerte. Marta Vaculínová zu den Spekulationen, die um das Werk ranken:
„Es gibt Hypothesen, dass er im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts an Martin Luther verschenkt wurde. Man spekuliert darüber, dass Luther und Lucas Cranach in diesem Werk geforscht haben. Das alles klingt interessant, hat sich aber bisher nicht bestätigt“.Die Hussitenbibel ist im Laufe der Zeit offenbar nicht in Vergessenheit geraten. Im 19. Jahrhundert ist hierzulande eine Kopie vom Original aufgetaucht. Marta Vaculínová:
„Das war in den 1820er Jahren. Johann Wolfgang Goethe ließ Kopien der im Kodex enthaltenen Illuminationen für seine Freunde in Böhmen anfertigen, die sich damit in ihren Forschungen befassen wollten. Diese Zeichnungen sind auch in unserer Handschriftensammlung zu finden. Außerdem ließ Goethe den gesamten Text ins Deutsche übersetzen. Die übersetzte Version befindet sich immer noch in Jena. Die Qualität der Übersetzung wird aber etwas angezweifelt. Der Übersetzer war nämlich ein Pole, der zwar gut Deutsch konnte, was man von seinen Tschechisch-Kenntnissen mit Sicherheit nicht behaupten kann“.
1951 kehrte der Jenaer Kodex definitiv in sein Herkunftsland zurück. Im Rahmen einer Versöhnungsgeste brachte ihn der damalige DDR-Präsident Wilhelm Pieck als Staatsgeschenk in die Tschechoslowakei. Seitdem hat sich übrigens auch erst der neue Begriff „Jenaer Kodex“ eingebürgert. In der Öffentlichkeit wurde das Werk als große Sensation wahrgenommen und daher eine Zeitlang sehr oft ausgestellt. Das wiederum sowie das häufige Ausleihen an Forscher haben dazu geführt, dass der Band stark beschädigt wurde. Er musste deshalb komplett restauriert werden, erläutert Marta Vaculínová:„Der Kodex war sehr beschädigt. Mit der Restaurierung von Einzelblättern, die einen ausgefransten, eingerissenen oder gar keinen Rand hatten, war s nicht getan. Auch die Zeichnungen mussten erneuert werden, weil die Farben verwischt waren. In einigen Fällen mussten die Restauratoren einen prinzipiellen Eingriff in die Illustrationen wagen, um ihnen wieder ihr herkömmliches Aussehen zu verleihen“.
Der Band enthält aber auch eine Reihe von leeren Blättern, auf denen nur vorgezeichnete Menschen- oder Prophetengestalten zu sehen sind. Ebenso dekorative Zierumrahmungen, jedoch ohne Text. Das zeugt eindeutig davon, dass der Kodex nicht vollendet wurde.Der Umgang mit alten Handschriften hat sich inzwischen von Grund auf verändert. Verändert haben sich vor allem die technischen Möglichkeiten, die Forschern oder interessierten Laien den Zugang zu solchen historischen Juwelen erleichtern. Mittlerweile kann jeder im Jenaer Kodex „blättern“: entweder im Internet oder im Faksimile, das in diesem Jahr herausgegeben wurde. Frau Vaculínová findet dafür lobende Worte:
„Damit hat der Verlag eine außerordentliche Tat vollbracht. Es handelt sich nicht nur um eine Druckkopie des gesamten Buches, die dem Original sehr ähnlich ist. Zudem entstanden ist auch ein Kommentarband mit Erläuterungen namhafter Wissenschaftler: es sind Historiker, Kunsthistoriker sowie Experten in den Bereichen Handschriftenkunde, Bohemistik und lateinische Philologie. Der Jenaer Kodex enthält viele seitengroße Bilder, die für einen Laien nicht ganz verständlich sind. Er kann aber im Kommentarbuch zu jedem Bild eine Erläuterung finden“.Für die Geschichtsliebhaber sind die mit zahlreichen Illustrationen versehenen Texte wohl am interessantesten. Von Anfang an, schon als ihre Vorlagen entworfen wurden, rechnete man offenbar mit ihrer Präsentation. Bild und Text hängen hier eng zusammen und ergänzen sich auch gegenseitig. Um sie richtig zu verstehen, braucht man als Laie unbedingt ein Nachschlagewerk. Milada Studničková ist Autorin einer der im Kommentarband enthaltenen Studien. Hier zunächst eine kurze Einführung über das Konzept der Kodexabbildungen:
„Es geht um eine spezifische Form der Disputation, ähnlich den wissenschaftlichen Streitgesprächen, die im Mittelalter auf universitärem Boden praktiziert wurden. Auf der einen Seite sind Vertreter der herkömmlichen Kirche Christi zu sehen, die Argumente vorbringen, wie die Kirche auszusehen hat. Auf der gegenüberliegenden Seite widersprechen wiederum Vertreter der neuen, also ´verdorbenen Kirche´. Die Abbildungen auf beiden Seiten sind inhaltlich verknüpft. Ein Beispiel: Ein Jude auf der rechten Seite wirft einen Stein auf den Heiligen Stefan auf der linken Seite. Beide Blätter stellen so ein Ganzes dar“.Es ist aber auch eine Symbolik in den verwendeten Farben versteckt. Die satten Farben kennzeichnen die zeitgenössische verdorbene römische Kirche, die hellen Farben hingegen stehen da für die herkömmliche Kirche. die wahre Kirche Christi.
Kurz um, das muss man studiert haben oder zumindest im Kommentarbuch zum Faksimile des Jenaer Kodexes nachschlagen, um die mittelalterliche Zeichnung zu verstehen. Einige Abbildungen aus dem Kodex sind aber auch zum Volksgut geworden, wenn auch nur für begrenzte Zeit. Viele Tschechen erinnern sich noch zum Beispiel an die blaue tschechoslowakische 20-Kronen-Banknote, auf der ein Hussitenumzug mit einem Priester und dem Hussitenfeldherrn Jan Žižka abgebildet waren. Genau diese Abbildung wurde dem Jenaer Kodex entnommen. Die Chance, das Original dieses mittelalterlichen Meisterwerkes zu sehen, wenn auch nur in einer Glasvitrine, besteht nur noch drei Tage. Wann sie sich wiederholen wird, diese Frage lässt sich noch nicht beantworten.