Depressionen - Volkskrankheit der Zukunft?

Es ist nur einige Wochen her, als die traditionelle Saubermachen-Revolution in tschechischen Haushalten ausgebrochen war. Gemeint ist die Vorweihnachtszeit. Besinnung und Innehalten bleiben in vielen Fällen aus. Jedes Jahr warnen Psychologen und Psychiater vor dem Stress und seiner möglichem Folge - der Depression. Diese kann sich unter weiteren belastenden Lebensumständen weiter vertiefen. Nun, ist die Vorweihnachtszeit in dieser Hinsicht tatsächlich die risikoreichste für die Psyche der Tschechinnen und Tschechen? Und wie weit verbreitet ist die psychische Krankheit „Depression“ in Tschechien? Mehr dazu im Folgenden.

Dr. Gita Pekárková
In Tschechien gibt es immer mehr depressive Menschen. Einer Studie zufolge stieg die Zahl der stationär behandelten Menschen mit psychischen Problemen in der Zeit von 1990 bis 2004 um etwa ein Viertel. Ähnliche Entwicklungen sind auch bei ambulanten Behandlungen zu beobachten. Dort sind häufiger Frauen als Männer anzutreffen. Experten zufolge sei dies allerdings nicht unbedingt ein eindeutiges Zeichen dafür, dass sie mehr als Männer unter Depressionen litten. Möglicherweise suchten sie schlicht schneller Hilfe, leider oft auch beim Alkohol. Gita Pekárková, Chefärztin der Frauenstation für Alkoholsucht in der Psychiatrischen Klinik in Prag-Bohnice:

„Wenn man richtig traurig ist, fällt es einem oft leichter, nach einem Suchtmittel zu greifen, als mit jemandem über seine Probleme zu sprechen. Das liegt schon daran, dass Alkohol einfach zu haben ist. Und ein guter Freund eben nicht.“

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Psychologen gehen davon aus, dass etwa zehn Prozent der tschechischen Frauen inzwischen ein Alkoholproblem haben. Bei den Männern seien es noch mehr. Hohe Scheidungsraten und Arbeitslosigkeit spielten dabei durchaus eine Rolle. Eine der Betroffenen ist die Mittdreißigerin Dana, eine Patientin von Doktor Pekárková. Dana hat unlängst eine dreimonatige Entzugs-Therapie erfolgreich abgeschlossen. Alkoholsucht sei ein Stigma, das die Gesellschaft nicht verzeihe, sagt Dana. Das gelte auch dann, wenn es den Betroffenen aus eigener Kraft gelänge, den Teufelskreis aus Depression, Scham und Alkoholsucht zu durchbrechen:

„Viele Leute glauben, dass sich nur ‚Dummköpfe’ in psychiatrische Anstalten ‚hinein trinken’. Aber so ist das nicht. Ich habe während des Entzugs viele phantastische Frauen kennen gelernt: Anwältinnen, Ärztinnen, Schauspielerinnen. Alles kluge, gebildete Frauen.“

Dana weiß noch genau, wie ihre Sucht begann:

„Es war, als ich heimlich zu trinken anfing. Als ich meine Probleme mit einem Vollrausch beseitigen wollte. Als ich versuchte, den Stress in Alkohol aufzulösen.“

Aber es seien nicht nur individuelle Fehler, die zur Sucht geführt hätten:

„Die Frauen in Tschechien sind einem enormen Druck ausgesetzt. Sie arbeiten, bauen sich eine Berufskarriere auf, kümmern sich um die Familie. Und das alles oft ohne Partner. So gut sie das dann auch machen: In dem Moment, wenn die Kinder abends im Bett sind, können sie sich eigentlich nur noch auf die Couch legen.“

Im dritten Monat ihrer Entzugs-Therapie wechselte Dana in die ambulante Behandlung. Auch das hatte mit ihrer familiären Situation zu tun:

„Ohne Kind wäre ich gerne länger auf der Station geblieben. Man kann dort viel über sich lernen. Und die Ärzte um einen herum verurteilen einen nicht. Das ist sehr angenehm. Ganz anders die Bekannten, überhaupt die Gesellschaft. Die gebärdet sich, als hätte man das Allerschlimmste überhaupt getan. Und was passiert dann? Man greift wieder zur Flasche. So nach dem Motto: Ich bin eh der letzte Dreck. Was soll’s?“

Laut Statistik trinken Frauen mit Depressionen mehr Alkohol als Männer mit Depressionen. Auf die Frage, ob das Trinken Depressionen verursacht oder Depressionen durch das Trinken kommen, wissen aber auch die Fachmediziner keine Antwort. Dieses Henne-Ei-Problem bleibt also vorläufig ungelöst. Und auch der Alkohol wird weiterhin für viele Menschen ihr Seelentröster und Kaputtmacher bleiben.

Professor Jiří Raboch
Erkenntnisse wissenschaftlicher Studien lassen darauf schließen, dass die Diagnose „Depression“ schon im Jahr 2020 die zweithäufigste nach den Herz- und Kreislauferkrankungen sein wird. Laut Professor Jiří Raboch, Chef des psychiatrischen Universitätsklinikums in Prag, gibt es heutzutage zweimal mehr depressive Patienten, die Psychiater aufsuchen als vor zehn Jahren. Die Frauen leiden zwei bis viermal öfter unter Depressionen als die Männer. Depressive Männer begehen wiederum zweimal öfter den Suizid als depressive Frauen. Professor Raboch:

„In den psychiatrischen Ambulanzen werden bei uns jährlich ungefähr 100.000 depressive Patienten behandelt. In den zurückliegenden zehn Jahren hat sich ihre Zahl verdoppelt. Das bedeutet aber nicht, dass es in Tschechien nur 100.000 Menschen gibt, die unter Depression leiden. Etwa dieselbe Zahl der Menschen wird von praktischen Ärzten oder Fachärzten wie zum Beispiel Neurologen oder Psychologen behandelt. Ein Teil der depressiven Menschen sucht gar keinen Arzt auf. Bei etwa 20 Prozent der Bevölkerung besteht die Wahrscheinlichkeit, dass sie im Lauf des Lebens an Depression zumindest kurzfristig erkranken. Das Rückfallrisiko ist dabei groß. Früher brach diese Krankheit im Schnitt im Alter von 35 bis 45 Jahren aus, jetzt ist das Durchschnittsalter schon auf dreißig gesunken.“

Schwere Depressionen können bekanntlich auch tragische Folgen haben – den Selbstmord. Die Zahl der Menschen, die jedes Jahr in Tschechien den Suizid begehen, hat momentan den niedrigsten Wert seit 130 Jahren erreicht. Trotzdem wird immer noch bei 5 bis 10 Prozent der Menschen, die Selbstmord begehen, die Diagnose „Depression“ als Ursache genannt.

„Im Vergleich zu einigen europäischen Ländern und Weltstaaten werden hierzulande keine Rekordzahlen verzeichnet. Tschechien liegt irgendwo in der Mitte der Tabelle. Immerhin, jährlich sind es ungefähr 1500 Menschen, die einen Selbstmord begehen. Und diese Zahl ist wesentlich höher als die der Verkehrstoten.“

Ähnlich wie bei den Depressionen prophezeien aber viele Psychiater auch einen Anstieg der Selbstmordhäufigkeit in Tschechien. An diesem Trend wird sich auch mit der heutigen Kenntnis der Zeiträume mit der höchsten oder aber niedrigsten Suizidhäufigkeit kaum etwas ändern können.

Die allgemein verbreitete Meinung, die risikoreichste Zeit sei das Jahresende, genauer gesagt Weihnachten und der Jahreswechsel, halten Experten für einen Mythos. Keine Zahlen sprechen dafür. Der Dezember gilt sogar als der Monat mit der geringsten Suizidhäufigkeit im Jahr. Am höchsten ist sie hingegen im April. Der Tag, an dem sowohl Frauen als auch Männer am häufigsten Selbstmord begehen ist der Montag.