Biedermeier: Ein phantasievoller Stil belebt die Prager Burg
Die Zweckmäßigkeit und die einfache Konstruktion der Biedermeier-Möbel inspirierte eine ganze Generation der modernen Architekten am Anfang des 20. Jahrhunderts. Nicht nur Möbel, sondern auch Gemälde, Porzellan, Glas Kleidungsstücke aus der Biedermeier-Epoche kann man seit letzter Woche auf der Prager Burg besichtigen. In der Reitschule der Burg wurde die überhaupt erste zusammenfassende Ausstellung der böhmischen und mährischen Biedermeier-Kunst eröffnet.
Fast 200 Jahre alte gepolsterte Stühle, Tische aus Furnierholz, Diwane aus Nussholz, ein Mahagoni-Klavier, ein Nähtisch mit Intarsien und viele andere Beispiele der angewandten Kunst aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind in der Reitschule der Prager Burg ausgestellt. Die Ausstellung unter dem Titel „Biedermeier – die Kunst und Kultur in den Böhmischen Ländern in den Jahren 1814 – 1848“ wurde sehr lange vorbereitet. An die 700 Exponate haben die Mitarbeiter des Prager Kunstgewerbemuseums in der Zusammenarbeit mit vielen anderen Institutionen für die Ausstellung zusammengetragen. Seit 1989 gab es auf der Prager Burg keine Ausstellung mit mehr Exponaten.
Die Auswahl der Gegenstände soll den Besuchern eine Vorstellung über den Kunst- und Lebensstil der Epoche vermitteln, die in Böhmen vor allem mit Kanzler Metternich verbunden war. Das Biedermeier entstand in einer Gesellschaft, die nach den Napoleonischen Kriegen gegenüber pompösen Huldigungen an das Heldentum skeptisch war. Aus den Adelskreisen verbreitete sich das Biedermeier verhältnismäßig schnell in andere Gesellschaftsschichten. Es ist zum Synonym für den bürgerlichen Stil geworden, dessen Werte die Einfachheit, Nützlichkeit und Komfort waren. Kunsthistorikerin Daniela Karasová vom Prager Kunstgewerbemuseum dazu:
„Für den Lebensstil war damals der Familienkult typisch. Die Familie stand im Vordergrund, und damit hängt die Forderung nach einem bequemen Zuhause zusammen. Die Möbel werden allmählich nicht mehr individuell, sondern zuerst in größeren Werkstätten, dann in Manufakturen und schließlich in Fabriken hergestellt. Der Preis der Gegenstände sank, und damit konnten breitere Schichten sie sich leisten. Interessant ist, dass die Biedermeier-Gegenstände die Möbelentwürfe in der modernen Zeit des 20. Jahrhunderts beeinflussten.“
In einer Ecke der Ausstellung ist eine Auswahl von Biedermeier-Gegenständen sowie von Exponaten aus dem 20. Jahrhundert zu sehen, die miteinander irgendwie verbunden sind. Namhafte Architekten wie der Tscheche Pavel Janák oder der Slowene Josip Plečnik wurden – vielleicht auch unbewusst – durch Biedermeier-Formen inspiriert.
Für die Biedermeier-Epoche in Böhmen sei, so die Kunsthistorikerin, typisch, dass für die Möbelherstellung fast ausschließlich Holz aus Böhmen benutzt wurde, um die Möbel und andere Gegenstände erschwinglicher zu machen. Es handelte sich dabei um Holz von Ostbäumen: von Kirschen-, Pflaumen- sowie von Birnenbäumen. Das Holz von diesen Bäumen hat eine leicht goldene Farbe, und damit gewann das Interieur an einer bestimmten Weichheit. Ergänzt wurden die Möbel durch farbenprächtige Textilien.
„Bei unseren gründlichen Forschungen haben wir entdeckt, dass die Textilien sehr farbenreich waren. Meistens ging es um Blumenmotive, die auf eine besondere Weise stilisiert waren. Die Blumenmotive wurden mit Ornamenten kombiniert, was an den Art Deco-Stil erinnert. Diese Überschneidungen des Biedermeiers mit anderen Stilen finde ich sehr interessant. Wir befassen uns mit der Idee, in der Zukunft noch eine kleinere Ausstellung vorzubereiten, die sich nur darauf konzentrieren würde, in wieweit das Biedermeier das künstlerische Schaffen und die angewandte Kunst im 20. Jahrhundert beeinflusste.“
Die Bezeichnung des Stils geht auf die fiktive Figur des Gottlieb Biedermaier, des spießbürgerlichen Helden der satirischen Zeitschrift „Fliegende Blätter”, zurück. Die Bezeichnung war zuerst eher pejorativ, denn mit Biedermeier wurde der oft verspottete Stil des schlichten Bürgertums bezeichnet. Später ist der negative Anhauch verloren gegangen, und die Bezeichnung, die für den damals vorherrschenden Dekorationsstil und auch für die Malerei benutzt wurde, setzte sich in Mitteleuropa durch.
„Ich würde sagen, dass dieser Stil für Mitteleuropa charakteristisch ist, das heißt für den Süden Deutschlands sowie für einen Teil von Österreich-Ungarn. Weniger war das Biedermeier aber in Polen verbreitet. Vor kurzem wurde in Wien, Berlin und Paris eine Wanderausstellung gezeigt, die in den USA vorbereitet wurde. Die Ausstellung präsentierte den Stil des Biedermeier aus Deutschland, Österreich und auch aus Skandinavien, denn dort setzte sich der Stil auch durch. Der Biedermeier-Stil hinterließ auch in Russland Spuren – insbesondere in der Region von St. Petersburg. In der amerikanischen Ausstellung wurde nur eine sehr beschränkte Zahl von Exponaten aus Böhmen gezeigt. Ich meine, dass das Biedermeier in den Böhmischen Ländern ein Begriff ist und dass die Exponate aus Tschechien mit den Exponaten von der Wanderausstellung, die aus anderen Ländern stammten, bestimmt vergleichbar sind.“
In den romanischen Ländern verbreitete sich das Biedermeier im Unterschied zu Mitteleuropa der Expertin zufolge nicht. Spuren des Biedermeier seien, so die Kunsthistorikerin, nur im Norden Italiens, in Südtirol, zu finden.
Es ist zweifelsohne schwierig, von den 700 Exponaten nur ein einziges auszusuchen und näher vorzustellen. Denn bei den Vorbereitungen der Ausstellung sei sie auf eine Reihe von wirklich einzigartigen Möbelstücken gestoßen, sagt Daniela Karasová:
„Ich wollte mit meinen Mitarbeitern einige von diesen Möbeln hier zeigen. Zu ihnen gehört beispielsweise ein Schreibschrank, der signiert ist. Denn aus der Zeit des Biedermeier gibt es sehr selten Möbel, die signiert sind. Der Schrank, den wir hier ausstellen, stammt nicht aus tschechischen Sammlungen, sondern aus einer Privatsammlung aus Deutschland. Der Schreibschrank wurde aber in Prag von einem schwedischen Tischler Namens Lundkvist hergestellt. Auf dem Schrank findet man nicht nur den Namen des Handwerkers, sondern auch weitere Angaben. Das Möbelstück stammt aus dem Jahr 1817. Es handelt sich um den so genannten ´Pyramidenschrank´, der herrlich geschmückt und zudem signiert ist.“
Die Biedermeier-Ausstellung wird durch ein reichhaltiges Begleitprogramm ergänzt: Den Kunstliebhabern werden Vorträge, Konzerte sowie kommentierte Führungen durch die Ausstellung angeboten. Ein Buch zur Ausstellung soll in den nächsten Tagen erscheinen. Die Biedermeier-Kunst ist in der Reitschule der Prager Burg bis zum 28. September dieses Jahres zu sehen.