Siedler und Alteingesessene in den Grenzgebieten der böhmischen Länder nach dem Zweiten Weltkrieg
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden im tschechischen Landesteil der Tschechoslowakei die größten Bevölkerungsverschiebungen ihrer Geschichte in Gang gesetzt, an denen mindestens fünf Millionen Menschen beteiligt waren. Ungefähr 3,3 Millionen Deutsche flohen, wurden vertrieben oder ausgesiedelt. Die große Mehrheit von ihnen hatte in den Grenzgebieten (den ehemaligen Sudetengebieten) gelebt. Dorthin zogen in den ersten Nachkriegsjahren mindestens 1,7 Millionen Tschechen und Slowaken als Neusiedler. Nach dem Abschluss des Wiederbesiedlungsprozesses bestand die neue Gesellschaft in den ehemaligen Sudetengebieten im Durchschnitt zu über zwei Dritteln aus Neusiedlern. Das Zusammenleben zwischen tschechischen Neu- und Altsiedlern gestaltete sich aber nicht immer konfliktfrei.
Neben Flucht, wilder Vertreibung und Zwangsaussiedlung der deutschen Bewohner prägte in den ersten Nachkriegsjahren vor allen Dingen die Zuwanderung neuer Siedler aus dem tschechischen Binnenland das Migrationsgeschehen in den Grenzgebieten der böhmischen Länder. Die ethnische, kulturelle und wirtschaftliche Struktur änderte sich durch die Wiederbesiedlung innerhalb von wenigen Jahren grundlegend. Die Neusiedler übernahmen Bauernhöfe, Betriebe, Häuser und anderen von den Deutschen konfiszierten Besitz. Der kommunistische Innenminister Vaclav Nosek fasste auf einer Sitzung der staatlichen Besiedlungskommission im Juli 1945 die Ziele der Besiedlungspolitik zusammen:
"Wir müssen die Grundlage für einen Nationalstaat der Tschechen und Slowaken schaffen. Es geht darum, nach einem einheitlichen Plan die Deutschen und Magyaren aus dem Grenzgebiet auszusiedeln und es mit Angehörigen slawischer Nationen zu besiedeln. Es wird viele Hindernisse geben, aber die Deutschen und Magyaren müssen raus!"
Bei Kriegsende lebten mindestens 600.000 Tschechen in den Grenzgebieten. Mit regionalen Ausnahmen hatten die Tschechen dort in der Vergangenheit immer einer deutschen Bevölkerungsmehrheit gegenübergestanden Wie gestaltete sich nun in den ersten Nachkriegsjahren das Verhältnis von tschechischen Alteingesessenen und tschechischen Neusiedlern? Beide Gruppen unterschieden sich in vielerlei Hinsicht. Der wichtigste Unterschied war zunächst, dass diejenigen Altsiedler, die die Grenzgebiete 1938 nach deren Anschluss an das Deutsche Reich nicht verlassen hatten, in der Regel ihr ganzes Leben in unmittelbarer Nachbarschaft zu Deutschen verbracht hatten. Viele von ihnen lebten in deutsch-tschechischen Ehen, zudem existierten verschiedene Formen beruflicher Kontakte und Verbindungen. Je nach Herkunftsgebiet beschränkte sich bei zahlreichen tschechischen Neusiedlern aus dem Binnenland dagegen die Erfahrung mit Deutschen auf die Besatzungszeit. Die ersten Neusiedler kamen in die Grenzgebiete, als die Stimmung gegen die Deutschen und die nationalistische Atmosphäre nach den Demütigungen und Erlebnissen der Protektoratszeit ihren Höhepunkt erreichte.
Gerade über den Umgang mit den Deutschen gab es Meinungsunterschiede zwischen tschechischen Neu- und Altsiedlern. Einige der Zugewanderten warfen den tschechischen Altsiedlern vor, sie würden die Deutschen schützen. Ein Polizeikommandant aus Karlbad berichtete z.B. im Juni 1945:
"Die hiesigen Tschechen werden sehr häufig durch Bekanntschaften oder persönliche Beziehungen mit den Karlsbader Deutschen von einem harten Vorgehen gegen sie abgehalten und fordern für bestimmte Deutsche Ausnahmen."
Obwohl die Stimmung in der Nachkriegszeit mehrheitlich gegen die Deutschen gerichtet war, gab es durchaus Tschechen, die Gewaltanwendung, Diskriminierungen und Willkür gegenüber den Deutschen kritisierten. Ein unbekannter Autor empörte sich in einem Schreiben an das Innenministerium darüber, dass die Mitglieder des lokalen Nationalausschusses in Liberec / Reichenberg bei den Deutschen und auch bei Antifaschisten willkürliche Hausdurchsuchungen vornähmen. Der Schreiber kritisierte, dass die Polizei nicht einschreite und die Betroffenen keine Möglichkeit besäßen, sich zu wehren:
"Leben wir denn nicht in einem Rechts- und Kulturstaat? So ein Vorgehen und so ein rücksichtsloses Verhalten, bei dem den Leuten der Besitz geraubt wird, kann man nur vergleichen mit den Verhältnissen im wilden Westen, keineswegs aber mit denen in einem Rechtsstaat."Noch schärfer fiel die Kritik an Willkürmaßnahmen gegen die Deutschen in einem Beschwerdebrief tschechischer Altsiedler in Teplice /Teplitz aus:
"Wenn wir unseren Ruf als eine slawische Kulturnation bewahren wollen, dann dürfen wir auch als Sieger nicht schlimmer sein als die Deutschen selbst. Eine angemessene und gerechte Bestrafung ist notwendig, aber wir dürfen nicht aus Rachsucht schlimmere Ungerechtigkeiten begehen als sie."
Auch Tschechen, die mit Deutschen in so genannten gemischten Ehen lebten waren auch häufig Anfeindungen anderer Tschechen ausgesetzt. Eine Zeitschrift aus Liberec ("Anzeiger aus dem Grenzgebiet") empörte sich im Sommer 1946 über die steigende Zahl junger Tschechen, die deutsche Frauen heiraten wollten:
"Die deutschen Mädchen sind sehr geschwind, und sie bemühen sich radebrechend auch tschechische Worte zu verwenden. Sie scheuen auch keineswegs davor zurück, sofort schwanger zu werden, da sie annehmen, dass sie sich dadurch vor der Abschiebung retten können"Die zitierte Zeitschrift äußerte generelle Zweifel darüber, ob Angehörige gemischter Ehen überhaupt in den Grenzgebieten bleiben sollten:
"Es ist überhaupt die Frage, ob diese gemischten Ehen für das Grenzgebiet einen ausreichend standfesten Pfeiler des Volkes bilden. Es ist daher kein Wunder, wenn Vorschläge um sich greifen, die Mehrheit der [...] gemischten Ehen im Grenzgebiet gegen Familien aus dem Binnenland mit einem festen Nationalbewusstsein auszutauschen. An die Grenze gehören nur Individuen, die national absolut fest und tüchtig sind. Aus gemischten Ehen gehen sie aber nur selten hervor."
So gab es denn beim Innenministerium und anderen Behörden ernsthafte Überlegungen, tschechisch-deutsche Ehepaare zwangsweise ins Binnenland umzusiedeln. Diese Pläne wurden aber letztendlich nicht in die Tat umgesetzt.
Konflikte zwischen Neu- und Altsiedlern entbrannten aber auch um die Verteilung des konfiszierten Besitzes der Deutschen. Als in den ersten Nachkriegswochen und -monaten Tschechen zu Tausenden in die Grenzgebiete strömten, wurden sie deshalb nicht immer und überall willkommen geheißen, stellten sie doch Konkurrenten bei der Besetzung aussichtsreicher Posten und der Verteilung des von den Deutschen konfiszierten Besitzes dar. Häufig misstrauten Behörden und Alteingesessene den Neusiedlern, weil sich unter ihnen Personen befanden, die bereits über ein Vorstrafenregister verfügten oder die die unklaren Nachkriegsverhältnisse ausnutzten, um sich zu bereichern. Im nordböhmischen Bezirk Decin / Tetschen berichtete der Sicherheitsdienst:
"Ein Teil der tschechischen Bevölkerung aus dem Binnenland ist nur mit der Absicht hierher gekommen, sich auf Kosten des nationalen Besitzes, der von den Deutschen konfisziert wurde, durch den Erwerb von profitablen Geschäften, Gewerbebetrieben und leitenden Posten zu bereichern, obwohl sie dafür überhaupt keine Fähigkeiten besitzen."
Für solche Personen wurde bald der Begriff "Goldgräber" verwendet. Der Kreisgewerkschaftsrat in Plzen / Pilsen warnte in einer Mitteilung potentielle Siedler davor, nur zur persönlichen Bereicherung in die Grenzgebiete zu kommen:
"Macht Euch bewusst, dass Euch die Republik dort hinschickt, damit Ihr dort auf angeordneter Stelle dient, damit Ihr insgesamt nützlich seid. Derjenige, der nur aus persönlichem Profit wegen des Goldes ins Grenzgebiet gehen will, der sollte lieber zu Hause bleiben."
In den Berichten über Probleme und Beschwerden der Bevölkerung taucht die Unterscheidung zwischen tschechischen Alt- und Neusiedlern im Laufe der Zeit aber immer seltener auf. Anfang der fünfziger Jahre wurden bei tschechischen Alt- und Neusiedlern gleichermaßen in erster Linie wirtschaftliche Probleme, Arbeitsfluktuation und Mängel der Infrastruktur diskutiert. In den von verschiedenen Behörden erarbeiteten Analysen der Stimmung in der Bevölkerung spielten Auseinandersetzungen zwischen den Siedlergruppen immer weniger eine Rolle.