Wie zwei Grenzstädte zusammenwachsen
In einigen wenigen Wochen ist es wieder so weit. Im Kalender blättern wir einen neuen 1. Mai auf. Jitka Mladkova denkt dabei ganz und gar nicht daran, dass es ein Staatsfeiertag ist und sie sich, falls nicht für den Nachrichtendienst eingeplant, auf einen arbeitsfreien Tag freuen darf. Bereits im Vorhinein an das nahende zweite Jubiläum des EU-Beitritts Tschechiens will sie übrigens auch nicht. Und doch hängt das Datum mehr oder weniger damit zusammen, worüber sie im heutigen Radiofeuilleton sprechen will.
Die Rede ist über zwei Städte, die ich kürzlich besucht habe. Einst bildeten sie gemeinsam eine Stadt. Diese wurde aber vor mehr als 80 Jahren zwangsweise durch eine Grenzziehung geteilt. Auch das war Resultat der Kriegswirren 1914 -1918! Die Rede ist von Tesin/Czeszyn - auf Deutsch Teschen, wo jahrhundertelang Tschechen und Polen, aber auch Deutsche und Juden neben- und miteinander lebten, bevor 1920 je ein Teil der Stadtder damaligen Tschechoslowakei und Polen einverleibt wurde. Beiderseits der Flussufer blieben damals nicht nur zahlreiche Familien getrennt, unterbrochen wurden auch die Strom- und Wasserleitungen, auf der polnischen Seite blieben zum Beispiel das Rathaus und Theater, auf der tschechischen wiederum der Bahnhof und Eisenbahn. Auch die Strassenbahn, die hier erst vor kurzem über eine Olza-Brücke verkehrte, hat schlagartig ausgedient. Nach dem Zweiten Wetkrieg lebten die Stadtbewohner einige Jahrzehnte lang als Staatsangehörige zweier so genannter sozialistischer Bruderländer, doch die streng bewachte Grenze und die keineswegs erleichterten Konditionen des Grenzverkehrs konnten kaum die Vorstellung über die wahre Brüderlichkeit assoziieren. Jetzt ein Schnitt: Man schreibt den 15.März 2006, ich stehe auf der Brücke über dem Olza-Fluss, der sich zwischen dem tschechischen und polnischen Teschen als Staatsgrenze schlängelt. Ich will einige der in beiden Richtungen vorbeiströmenden Passanten interviewen, doch wenige Minuten später taucht ein polnischer Zollbeamte vor mir auf und ich werde in höflichem Tschechisch aufgefordert, die Staatsgrenze zu verlassen. O du liebe Zeit, sind wir nicht in der EU? Diese Frage schießt mir durch den Kopf, erweist sich aber gleich als überflüssig, ich muss mich tatsächlich ein paar Meter vor der Brücke, auf welcher Seite auch immer, postieren. Später, bei Gesprächen mit Bewohnern beider Städte, darunter auch mit Vertretern verschiedener Institutionen, erfahre ich (wohlwollend? Mit Genugtuung?), wie es hier im realen Leben um die Trennlinien bestellt ist: Man habe nicht auf den EU-Beitritt gewartet, sondern gleich nach der Wende 1989 damit begonnen, die neuen Chancen gemeinsam anzupacken, etwa als neu gegründete Euroregion. Auf konkrete Beispiele der neuen Koexistenz stößt auf Schritt und Tritt: Die Stadtverwaltungen halten zweimal pro Jahr gemeinsame Tagungen ab, auch zwischendurch treffen sich, einzelne Stadtrepräsentanten, wenn nötig, die städtischen Museen veranstalten gemeinsame Ausstellungen, die Stadtbibliotheken wiederum literarische Wettbewerbe für die jüngsten Leser, in den Theaterhäusern wird in beiden Sprachen gespielt und last but not least, man kann hüben wie drüben mit tschechischen Kronen oder polnischen Zloty oder aber mit Euro zahlen. Auch mit der Verständigung gibt es keine wesentlichen Probleme: außer Tschechisch und Polnisch ist auch eine Mischung der beiden Sprachen höchst frequentiert. Kurz und gut: Mein Erlebnis auf der Grenzbrücke hatte also keine Relevanz. Schließlich steht Tschechien und Polen schon ein weiterer Beitritt bevor - in den Schengenraum nämlich, und dann gibt es in Cesky Tesin und Cieszyn keine Grenze mehr. Ich werde aber zu den Zeitzeugen gehören, die sie noch erlebt haben.