Bildhauerin Marie Uchytilová und ihr Lebenswerk für die Gedenkstätte in Lidice
Das Lebenswerk der Bildhauerin Marie Uchytilová steht auf dem Areal der Gedenkstätte in Lidice. Die mittelböhmische Gemeinde wurde in der Nacht auf den 10. Juni 1942 von der Gestapo dem Erdboden gleichgemacht. 173 Männer wurden erschossenen, 143 Frauen in KZs verschleppt und kurz darauf auch 82 Kinder im Vernichtungslager beim polnischen Chelmno ermordet. Seit dem Jahr 2000 erinnern 82 Bronzestatuen an die unschuldigen Kinder von Lidice und ihren Tod. Das vollendete Gesamtwerk konnte die Künstlerin nie sehen, weil sie lange vor der Installation starb. Ihre Tochter Sylvia Klánová erzählt nun für Radio Prag International mehr über den Werdegang ihrer Mutter und ihr wichtigstes Werk.
Schon als Kind hörte Marie Uchytilová viel über den Krieg. Ihr Vater erzählte ihr von seiner Zeit im Ersten Weltkrieg, denn er war mit 16 Jahren eingezogen worden. Dies könnte durchaus dazu beigetragen haben, dass sie schon als kleines Mädchen ihre erste Plastik aus Ton modellierte. Denn die Darstellung einer Frau mit zwei Kindern nannte sie damals „Válka“, auf Deutsch „Krieg“.
Ab 1945 studierte Uchytilová an der Prager Akademie der bildenden Künste, nachfolgend unterrichtete sie Bildhauerei an einer Fachmittelschule für Kunst. In ihrer Freizeit beschäftigte sie sich kontinuierlich mit Plastiken, Porträts sowie Medaillen bedeutender Persönlichkeiten. Wie die Tochter Sylvia Klánová sagt, habe ihre Mutter viele Jahre lang die Idee in ihrem Kopf getragen, ein Monument für all jene Kinder zu schaffen, die Opfer von Kriegen geworden sind. Konkrete Konturen bekam dies 1969 an Allerseelen, wenn traditionsgemäß auf Friedhöfen Kerzen aufgestellt werden. Die Künstlerin entschied sich, lebensgroße Figuren der Lidicer Kinder ohne Grabmale zu schaffen. Sylvia Klánová:
„An dem Tag machte sich meine Mutter auf den Weg nach Lidice. Sie blieb die ganze Nacht über auf dem Gelände des früheren Dorfes. Dort dachte sie über ein Konzept für das künftige Denkmal nach, aber auch darüber, was die Gesichter der Figuren ausdrücken sollten. Zugleich suchte sie nach einem passenden Standort für das Monument. Nach ihrer Auffassung sollte es von allen Seiten gut sichtbar sein und als freistehendes Objekt vereinsamt und hilflos wirken.“
Nach anfänglichen Zweifeln an den eigenen Fähigkeiten war Marie Uchytilová letztlich gut vorbereitet für ein entsprechendes Werk. Sie hatte auch detaillierte Informationen über die Tragödie der mittelböhmischen Gemeinde. Nach ihrer Rückkehr aus Lidice fertigte sie viele Zeichnungen an sowie ein Modell des gesamten Monuments im Maßstab 1:10. Mithilfe von Diaprojektionen überdachte sie dann die Proportionen der einzelnen Figuren. Bei nächster Gelegenheit kündigte Uchytilová in der Kunstschule. In der Folge erzählte sie den Müttern der ermordeten Kinder, die das KZ Ravensbrück überlebt hatten, von ihrem Vorhaben.
„Bei den privaten Treffen bat sie jede der Mütter, von ihren Kindern zu erzählen. Sie wollte, wie sie mir später sagte, den Schmerz der Mütter mittragen. Von ihnen bekam sie auch Fotos der Kinder geliehen sowie die Zusage, die Entstehung des Denkmals zu unterstützen. Wie abgesprochen sollte das Werk alle 82 getöteten Kinder im Alter zwischen einem und sechzehn Jahren darstellen: 42 Mädchen und 40 Jungen. Ihre Gesichter sollten aber nicht denen auf den Fotos entsprechen, um die Mütter nicht zu sehr zu traumatisieren“, so die Tochter.
Die Frauen konnten sich auch mit einem weiteren Gedanken der Bildhauerin identifizieren. So sollten die Figuren des Monuments auch allgemein die rund 13 Millionen Kinder symbolisieren, die im Zweiten Weltkrieg umgekommen sind.
Die Mütter der ermordeten Kinder
Marie Uchytilová war fast 20 Jahre lang mit der Arbeit am Mahnmal von Lidice beschäftigt. Auf dem Weg zum Ziel musste sie viele Hindernisse überwinden. Ihre Tochter hat dies aus unmittelbarer Nähe miterlebt:
„Insbesondere in den ersten zehn Jahren arbeitete sie unermüdlich in höchster Konzentration. Ohne freie Wochenenden und Urlaub, stundenlang im Stehen, auf den Knien oder auf der Trittleiter. Oft vergaß sie zu essen oder zu trinken. Meine Mutter konnte sehr schnell und sozusagen auswendig modellieren. Zunächst erstellte sie für jede Figur einen Entwurf aus Ton – dabei probierte sie so lange herum, bis sie zufrieden war. Anhand der kleinen Modelle entstanden dann die einzelnen Standfiguren in ihrem endgültigen Aussehen. Nach dem Abguss in Gips wurden die Figuren entsprechend dem Konzept meiner Mutter in der Werkstätte angeordnet.“
Der Bildhauerin lag sehr daran, dass das Erscheinungsbild der Figuren und die Gesichtsausdrücke der Kinder zum Nachdenken anregen. Sehr wichtig war für sie zudem die Resonanz der Mütter aus Lidice, die öfters den Arbeitsfortgang im Atelier verfolgten. Anhand bestimmter Merkmale suchten sie sogar nach den eigenen Kindern.
Über das entstehende Monument wurde zunehmend in der Presse und im Fernsehen berichtet. Immer mehr Menschen aus dem In- und Ausland schauten in der Werkstatt der Künstlerin vorbei. Viele von ihnen wollten das Projekt, das Marie Uchytilová ohne Hilfe des kommunistischen Staates finanzierte, mit Spenden unterstützen. Ein extra eröffnetes Bankkonto blieb aber für sie gesperrt. Um das nötige Geld für das Denkmal zu beschaffen, arbeitete sie noch nebenbei an vielen Plastiken unterschiedlicher Größe. Sylvia Klánová:
„Im März 1989 war das Werk fertig, allerdings nur in einer Ausführung aus Gips. Um sich eine Vorstellung zu machen, wie es im finalen Bronzeguss aussehen würde, ließ sie auf eigene Kosten drei Gipsfiguren in Bronze gießen. Der Staat bot ihr damals an, das Gipsdenkmal für drei Millionen Kronen zu kaufen. Der Vorschlag sah aber keine Ausführung in Bronze vor, und das auch noch zu einem lächerlichen Preis. Deswegen lehnte meine Mutter ab. Außerdem befürchtete sie, dass ihr Werk in einem Museumsdepot landen würde. Im selben Jahr besuchte der international renommierte Arzt Professor Theodor Hellbrügge aus München ihr Atelier. Sein Stellvertreter war der ebenfalls bekannte tschechische Arzt Václav Vojta, der 1968 nach Deutschland emigriert war. Hellbrügge wollte sofort 38 Statuen von meiner Mutter kaufen. Doch sie sagte ab mit dem Hinweis, dass es die Kinder aus Lidice seien.“
Theodor Hellbrügge bestellte schließlich bei Uchytilová 36 neue Statuen in Lebensgröße. Sie sollten Kinder aus allen Teilen der Welt in einem von ihm vorgesehenen „Monument des Friedens“ darstellen. Nachfolgend präsentierte Marie Uchytilová ihm bei einem Besuch in München ihr Modell. Hellbrügge war begeistert und orderte zusätzlich weitere 14 Figuren. Der neue Auftraggeber verabschiedete sich von der Künstlerin in der Hoffnung auf eine gute und lange Zusammenarbeit. Diese kam aber nicht mehr zustande. Die Bildhauerin starb am 16. November 1989 unerwartet an einem Herzinfarkt – einen Tag vor der Samtenen Revolution in der Tschechoslowakei. Dass ihr Lebenswerk vollendet wurde, konnte sie nicht mehr erleben.
Finanzielle Hilfe aus Deutschland
Es war ihre Tochter Sylvia, die damals die Initiative ergriff zu einer Fertigstellung des Kinderdenkmals. Das erste Geld für die Finanzierung einer Bronzestatue erhielt sie 1992 von der dänischen Zeitschrift „Hjemmet“. Und sie sammelte weiter. Unter anderem reagierte auch der damalige deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl auf ihre Bitte um Unterstützung. Seiner Dank konnten fünf weitere Bronzefiguren entstehen. Ebenso war die Gemeinde Lidice finanziell beteiligt. Geldspenden kamen des Weiteren aus Japan und vom Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds.
Zwischen 1995 und 2000 wurden alle Bronzefiguren auf dem Gelände der Gedenkstätte Lidice aufgestellt – und zwar so, wie es sich Marie Uchytilová gewünscht hatte. 2013 wurde die Künstlerin posthum mit einem Staatspreis ausgezeichnet. Sylvia Klánová zitiert abschließend aus ihrem Tagebuch:
„Im Namen des Friedens bringe ich 82 Kinder unseres Volkes in ihre heimischen Gefilde zurück als warnendes Symbol für Millionen von weiteren Kindern, die in den sinnlosen Kriegen der Menschheit ermordet wurden.“