20 Jahre Zeitzeugenprojekt: „Memory of Nations“ wächst weiter

Vor 20 Jahren begann eine Gruppe von Journalisten und Historikern, die Erinnerungen von Veteranen des Zweiten Weltkriegs aufzuzeichnen. Über die Jahre kamen Erinnerungen weiterer Persönlichkeiten hinzu, und es entstand das Zeitzeugenprojekt „Paměť národa“ beziehungsweise „Memory of Nations“. Heute ist die Datei von Zeitzeugenerinnerungen die drittgrößte dieser Art auf der Welt. Marie Janoušková arbeitet bei der Organisation als Koordinatorin der internationalen Zusammenarbeit. Anlässlich des Jubiläums hat mit ihr Martina Schneibergová gesprochen.

Mikuláš Kroupa | Foto:  Tschechischer Rundfunk

Frau Janoušková, der Journalist Mikuláš Kroupa ist vor 20 Jahren auf die Idee gekommen, die Erinnerungen von Veteranen des Zweiten Weltkriegs aufzuzeichnen. Dafür gründete er die Non-Profit-Organisation „Post bellum“ und leitet diese bis heute. Fünf Jahre später erweiterten er und seine Mitarbeiter – meist Historikern und Journalisten – ihr Interesse um weitere Zeitzeugen des 20. Jahrhunderts. Wie viele Zeitzeugenaussagen umfasst die Datei heute?

„Die Sammlung umfasst zu ihrem 20. Geburtstag 13.000 Zeitzeugengeschichten. An diesem Tag (das Interview wurde am 12. November aufgenommen, Anm. d. Red.) sind es genau 13.182 Geschichten, 6000 davon haben wir auch in der Textform veröffentlicht. Das Archiv gehört heute wirklich zu den größten seiner Art in der Welt. Die Datei umfasst Aussagen von Zeitzeugen aus 20 Ländern, aber der Schwerpunkt liegt natürlich auf der tschechischen und slowakischen Geschichte. Anlässlich des 20. Jubiläums möchte ich betonen, dass wir kein verstaubtes Archiv wollen, sondern Geschichte in lebendiger Form breiteren Schichten der Öffentlichkeit näher bringen. Wir suchen dabei nach neuen Wegen, um die gesammelten Erinnerungen, die Schicksale, jüngeren Generationen zu erzählen. Dies machen wir – um nur ein Beispiel zu nennen – unter anderem mit Theaterprojekten.“

Foto: Post Bellum

In der Sammlung befinden sich viele Erinnerungen ehemaliger politischer Gefangener des kommunistischen Regimes aus den 1950er Jahren sowie von Regimekritikern und Dissidenten aus den 1970er und 1980er Jahren. Häufig sind es Menschen, die fast unbekannt sind. Wie haben Sie diese weniger bekannten Heldinnen und Helden gefunden?

Foto: Katerina Ajspurwit,  Radio Prague International

„Viele der Kontakte bekommen wir von unseren Mitarbeitern, die Gespräche mit den Zeitzeugen führen. Denn Zeitzeugen erwähnen oft während des Interviews einen Nachbarn oder einen Verwandten. Wir fragen dann nach, wer das war, und so kommen neue Kontakte hinzu. Wenn wir uns irgendwo als Organisation präsentieren, dann bekommen wir nachher Tipps zu Persönlichkeiten mit interessantem Schicksal. Zudem sprechen wir die Vertreter von Städten und Gemeinden, von Seniorenheimen und verschiedenen Vereine an. Oder aber suchen wir aktiv nach Themen, die in unserem Archiv noch nicht ausreichend vertreten sind. Um ein Beispiel zu nennen: Momentan ist die zweite Generation der Roma-Holocaust-Überlebenden ein Thema für uns. Und wir bereiten uns derzeit auf Interviews mit Roma-Frauen vor, die während des Kommunismus zwangssterilisiert wurden.“

Wie sieht es in der Praxis mit den Aufzeichnungen aus? Sie haben sicher mehrere Hundert Mitarbeiter, die in den Regionen die Zeitzeugen ansprechen…

Foto: Radio Prague International

„Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht genau, wie viele Menschen für uns arbeiten. Wir sind zwar ein festes Team von 20 bis 30 Menschen, die in Prag und in sechs weiteren Städten arbeiten. Denn 2019 haben wir auch regionale Zweigstellen eingerichtet. Aber wir haben sehr viele freie Mitarbeiter, die die Gespräche aufnehmen. Es sind vermutlich über 120 Mitarbeiter. Wir haben auch eine große Zahl an Freiwilligen, die uns helfen. Zudem sind in unsere Projekte die Mitglieder des Freundeskreises von ‚Memory of Nations‘ einbezogen.“

Das Zeitzeugenprojekt umfasst nicht nur Erinnerungen politischer Gefangener und Regimekritiker, sondern auch Aussagen von Vertretern der kommunistischen Macht. War es schwierig, diese Leute anzusprechen? Waren diese überhaupt bereit, ihre Erinnerungen zu schildern?

Illustrationsfoto: Lída Křesťanová,  Tschechischer Rundfunk

„Es war viel komplizierter, mit ihnen ins Gespräch zu kommen als mit Zeitzeugen, die unter den totalitären Regimes gelitten haben. Wenn wir einen Kontakt bekamen, wurde das Interview oft auf irgendwann später verlegt. In unserer Datei befindet sich, glaube ich, kein leitender Parteifunktionär. Aber einige ehemalige Agenten des kommunistischen Geheimdienstes StB waren bereit, uns ihre Geschichte zu erzählen. Ich halte dies für wichtig, denn sonst werden ihre Schicksale nur als Akten in einem Archiv für die Zukunft aufbewahrt. Es fehlt dann die menschliche Dimension – die Erklärung, die Begründung, die persönliche Einstellung, warum derjenige so und nicht anders gehandelt hat.“

In der Datei gibt es Erinnerungen von Zeitzeugen aus 20 Ländern. Hat die Organisation auch Filialen im Ausland?

„Bei der internationalen Zusammenarbeit verlassen wir uns stark auf unsere Kooperationspartner in Europa – darunter in Deutschland, Österreich, Polen und Ungarn.“

„An erster Stelle möchte ich die Slowakei nennen. Wir haben ein Büro in Bratislava, dort sitzt unsere Schwesterorganisation, die dieselben Ziele wie wir verfolgt. 2019 haben wir zudem eine Zweigstelle in der Ukraine gegründet. Es ist ein kleines Büro, in dem wir Dokumentarprojekte verwirklichen. Bei der internationalen Zusammenarbeit verlassen wir uns stark auf unsere Kooperationspartner in Europa – darunter in Deutschland, Österreich, Polen und Ungarn. In diesen Ländern gibt es mehrere Organisationen, die selbst die dortige Geschichte dokumentieren und mit denen wir unsere Projekte durchführen. Wir veranstalten beispielsweise gemeinsam Ausstellungen. Dank der Unterstützung des Außenministeriums haben wir auch zwei Projekte auf Kuba und in Belarus. Dort zeichnen wir ebenfalls Zeitzeugengeschichten auf. Auf Kuba dürften wir bis Jahresende etwa 200 Zeitzeugen dokumentiert haben. Wir haben mit den Exilkubanern in Miami in den USA begonnen. Anschließend haben wir auch Mitarbeiter von ‚Memory of Nations‘ direkt auf Kuba geschult. In Belarus hat sich die Lage in den letzten beiden Jahren, in denen wir dort an unserem Projekt arbeiten, sehr verschlechtert. Viele Belarussen haben das Land verlassen. Durch die Zeitzeugengeschichten haben wir im Übrigen davon erfahren, dass ganz junge Frauen nach den Protesten gegen das Lukaschenko-Regime gefoltert und zusammengeschlagen worden sind.“

Arbeiten Sie auch mit Belarussen zusammen, die in Tschechien Asyl bekommen haben?

Protest gegen das Lukaschenko-Regime | Foto: Homoatrox,  Wikimedia Commons,  CC BY-SA 3.0

„Ja schon. Im Rahmen des Hilfsprogramms Medevac (Medical Evacuation, Anm. d. Red.) wurden in Tschechien mehrere Menschen behandelt, die bei den Protesten und bei den Verhaftungen schwer verletzt worden sind und auch unter psychischen Problemen litten. Tschechien hat im Rahmen von Medevac mehr als 40 Belarussen geholfen, mit einigen von ihnen haben wir gesprochen und ihr Schicksal dokumentiert.“

Die Zeitzeugenerinnerungen werden seit 2008 veröffentlicht. Sie stehen vor allem Journalisten sowie anderen Interessenten zur Verfügung. Mit wem arbeiten Sie am Projekt zusammen?

„Die Arbeit steht auf mehreren Beinen – auch auf denen der breiten Öffentlichkeit, die uns monatlich mit Spenden hilft und daran interessiert ist, dass wir weitermachen.“

„Unsere offiziellen Partner sind der öffentlich-rechtliche Tschechische Rundfunk und das Institut für das Studium totalitärer Regime. Mit diesen zwei Hauptpartnern wurde die Sammlung ‚Memory of Nations‘ gegründet. Aber die Arbeit steht auf mehreren Beinen – auch auf denen der breiten Öffentlichkeit, die uns monatlich mit Spenden hilft und daran interessiert ist, dass wir weitermachen. Wir werden von Firmen, Institutionen sowie Einzelpersonen unterstützt.“

Denken Sie daran, ein Institut oder ein Museum zu errichten?

Foto:  Post Bellum

„Ja, am 29. November eröffnen wir unser erstes Memory-of-Nations-Institut in Pardubice. Wir wollen auch irgendwann einmal in Prag ein Museum der totalitären Regime einrichten. Es soll eine interaktive Dauerausstellung entstehen, die auch Jugendliche anspricht, und zudem soll es als Begegnungszentrum dienen, in dem sich Menschen unterschiedlicher Generationen treffen.“

Das Institut wird erst noch eröffnet, aber seit September gibt es in Prag bereits ein Memory-of-Nations-Gymnasium. Worin besteht die spezielle Aufgabe der Schule?

„Am 1. September haben wir die erste Klasse mit etwa 30 Schülern geöffnet. Wir unterrichten dort sogar ein Fach mit dem Titel ,Paměť národa‘ – Gedächtnis der Völker. Das Gymnasium soll auf praxisorientiert sein und die jungen Menschen zu demokratischen Werten und zum kritischen Denken erziehen. Ich finde, dass dies bisher ganz gut klappt. Die Schülerinnen und Schüler sind sehr aktiv, sie haben vor kurzem beispielsweise die Wände der Schulräume selbst gestrichen. Für den 17. November bereiten sie Programme für andere Schulklassen vor.“

Foto:  Radio Prague International

Von den Zeitzeugenerinnerungen geht eine Serie aus, die unter dem Titel „Geschichten des 20. Jahrhunderts“ vom Tschechischen Rundfunk gesendet wird. In wie weit ist diese Serie in der Öffentlichkeit bekannt?

„Ich finde gut, dass die Serie inzwischen zum Begriff geworden ist. Das weiß ich nicht nur aus den Statistiken, sondern auch aus persönlicher Erfahrung. Als ich mit dem Taxi fuhr, erzählte mir beispielsweise der Fahrer, er höre die Geschichten regelmäßig. Als ich in einem Laden mit den Leuten ins Gespräch kam, zeigte sich, dass sie die Serie kennen oder dass es ihre Lieblingssendung ist. Damit ist eines der Ziele von Post bellum erfüllt.“

Am 17. November werden traditionell die Preise von „Paměť národa“ verliehen. Wie suchen Sie die Persönlichkeiten aus, die ausgezeichnet werden?

„Die Preisträgerinnen und Preisträger werden von unseren Mitarbeitern nominiert, die die Gespräche mit den Zeitzeugen führen und deren Schicksal bis in Details kennen. Anschließend tritt ein breiteres Gremium von Post bellum zusammen. Eine Jury sucht dabei vier Preisträger aus – zwei aus Tschechien und zwei aus der Slowakei. Wir befragen bei der Suche nach den Preisträgern auch die Mitglieder des Freundeskreises von ‚Memory of Nations‘ sowie die breitere Öffentlichkeit. Denn oft gehören zu den Nominierten Menschen, die unbekannt geblieben sind, aber eine interessante Lebensgeschichte haben, in der sie eine Heldentat begangen haben, wenn ich das so sagen darf.“

Marie Janoušková | Foto: Martina Schneibergová,  Radio Prague International
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