Schülerprojekt: Tschechische und deutsche Zeitzeugen erzählen ihre Geschichten
Wie sehr hat das 20. Jahrhundert das Leben der Tschechen und der Deutschen jeweils geprägt? Auf diese Frage möchte das Projekt mit dem Titel „Geschichten unserer Nachbarn“ antworten. Seit Jahren gibt es dieses Schulprojekt des Vereins Post Bellum zwar schon, aber bisher nur in Tschechien. Jetzt wird es auf Bayern ausgeweitet. Adéla Břízová koordiniert das Vorhaben in Bayern und Jitka Doubravová ist Hauptkoordinatorin des Projektes.
Frau Břízová, das Projekt „Geschichten unserer Nachbarn“ der tschechischen Non-Profit-Organisation Post Bellum wird in Zusammenarbeit mit Bayern nun zu einem internationalen Projekt. Worum geht es da?
„In diesem Projekt geht es darum, Geschichten von Zeitzeugen des 20. Jahrhunderts aufzuzeichnen. Da Bayern und Böhmen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wieder eine durchlässige Grenze haben, begegnen sich die Menschen wieder und haben Geschichten zu erzählen. Diese sollen aufgezeichnet werden, bevor sie verlorengehen.“
Die Schüler/Innen nehmen im Rahmen des Projekts, das in Tschechien seit einigen Jahren erfolgreich läuft, die Erinnerungen von Zeitzeugen auf. Welche Generationen sollen für die Schüler in Bayern im Mittelpunkt stehen? Ist auch an Zeitzeugen gedacht, die den Zweiten Weltkrieg erlebt haben, oder an Exilanten, die einst aus der kommunistischen Tschechoslowakei geflüchtet sind?
„Unsere Zielgruppe ist relativ offen. Wie auf der tschechischen Seite möchten wir auf der bayerischen alle Zeitzeugen ansprechen, deren Leben durch die Regime des 20. Jahrhunderts irgendwie beeinflusst wurde – sei es der Zweite Weltkrieg, die Vertreibung oder auch Leute, die geflüchtet sind und sich in Bayern eine Bleibe gesucht haben. Es gibt Menschen, die aktiv mit Dissidentengruppen in Tschechien zusammengearbeitet haben. Solche Zeitzeugen würden wir gerne finden und ansprechen. Die Schüler sollen dann mit ihnen ein Gespräch führen und einen Beitrag erarbeiten.“
Haben Sie bereits einige der Schulen angesprochen, die sich beteiligen werden?
„Dieses Projekt erstreckt sich auf bayerischer Seite über das Gebiet zwischen Regensburg, Cham und dann weiter in den Süden entlang der tschechischen Grenze bis Freyung. Und in diesem Gebiet, das relativ groß ist, möchten wir flächendeckend Schulen ansprechen. Denn es könnte interessant sein, mit unterschiedlichen Leuten aus verschiedenen Ecken in Kontakt zu treten und ihre Geschichten zu hören. Das Projekt ist also nicht auf konkrete Schulen ausgerichtet. Einbezogen werden Klassen sieben bis neun. Und da bietet das deutsche Bildungssystem drei Schulen: die Mittelschule, Realschule oder das Gymnasium. Unser Ziel ist, alle diese Schultypen anzusprechen, weil alle Kinder die Chance haben sollten, an dem Projekt teilzunehmen. Wir stehen gerade erst am Anfang. Da das Projekt in Bayern noch nicht bekannt ist, sind wir dabei, dieses in den Schulen vorzustellen und zu erklären, worum es überhaupt geht. Wir greifen dabei auf unsere Erfahrungen aus Tschechien zurück.“
Sprechen Sie die Geschichtslehrer an?
„Es ist so, dass sich aktuell alle im Distanzunterricht befinden, also auch die Lehrer nicht in der Schule sind. Ich spreche die Schulen an, kontaktiere sie und werde dann an die zuständigen Personen weitergeleitet. Unsere Unterlagen schicken wir dann an die Schulleitung sowie die Lehrer, die sich mit den entsprechenden Fächern beschäftigen. Das sind Geschichtslehrer, Deutschlehrer, Lehrer für Sozialkunde oder konkrete Personen, die für solche Projekte zuständig sind.“
Von wem wird das Projekt in Bayern unterstützt?
„Wir kooperieren mit dem Centrum Bavaria Bohemia. Das unterstützt uns tatkräftig bei der Suche nach den Schulen. Förderpartner sind die Euroregion Böhmerwald – Südwestböhmen und die MERO Germany GmbH. Auf tschechischer Seite bin ich in Kontakt mit der Organisation Post Bellum und ihrem Ableger in Pilsen. Den deutsch-tschechischen Teil koordiniert Jitka Doubravová. Sie ist meine direkte Vorgesetzte. Die Koordinatorin für Tschechien ist Aneta Sklenářová.“
Wie lassen sich die Schüler motivieren, sich an dem Projekt zu beteiligen? Und ist zum Abschluss eine Präsentation geplant, bei der die Geschichten veröffentlicht werden?
„Es sind zwei unterschiedliche Sachen, die sie motivieren können. Einerseits ist es die abschließende Präsentation. Das Centrum Bavaria Bohemia stellt uns dafür Räume zur Verfügung, in denen sich dann auch die deutschen und tschechischen Schüler treffen können. Aufgrund der Corona-Situation wird diese Begegnung aber wahrscheinlich online stattfinden. Dennoch ist es schön, wenn die Schüler zeigen können, was sie erarbeitet haben. Schließlich dürfte jeweils viel Mühe dahinterstecken. Aus der Erfahrung meiner Kollegen aus Tschechien weiß ich, dass bei der Online-Präsentation im Herbst sogar mehr Zuschauer zugeschaltet waren, als in den Saal hineingepasst hätten. Der zweite Mehrwert, den ich in dem Projekt sehe, bezieht sich auf die aktuell schweren Zeiten für Schüler. Ich glaube, durch den Kontakt mit den Zeitzeugen und ihren Geschichten, erfahren sie, dass es zu jeder Zeit Schwierigkeiten gibt. Vielleicht können sie auch ein bisschen Kraft für sich selbst schöpfen. Und sie haben die Möglichkeit, sich einmal mit etwas anderem zu beschäftigen. Schließlich ist auch auf der deutschen Seite nicht viel möglich: Die Vereine sind geschlossen, die ganzen Hobbys fallen weg, und Freunde kann man auch nicht unbedingt treffen. Durch die Beteiligung an dem Projekt gehört man aber zu einer kleinen Gruppe. Das ermöglicht es, Freunden oder Mitschülern einmal anders zu begegnen und sich mit anderem zu beschäftigen als nur dem Unterricht.“
Das Projekt wird jetzt gestartet. Wie lange läuft es?
„Es wurde im Januar gestartet und soll bis September laufen. Im Großen und Ganzen solle es vor den Sommerferien fertig sein. Das hat Sinn, weil die Schüler aus der neunten Klasse sowohl auf deutscher als auch auf tschechischer Seite danach in weiterführende oder andere Schulen gehen.“
Jitka Doubravová ist Hauptkoordinatorin des tschechisch-bayerischen Projektes „Geschichten unserer Nachbarn“. Sie arbeitet beim Ableger von Post Bellum, Paměť národa (Gedächtnis des Volkes) in Plzeň / Pilsen. Das Projekt „Geschichten unserer Nachbarn“ läuft in Tschechien seit acht Jahren und im Kreis Pilsen seit zwei Jahren. Und weiter erzählt Jitka Doubravová.
„Wir entdecken in den grenznahen Gegenden immer neue Zeitzeugen. Darum sind wir auf die Idee gekommen, das Projekt auch auf die andere Seite der Grenze zu bringen. Denn schließlich haben wir eine gemeinsame Geschichte. Und es dürfte interessant sein, auch die Erinnerungen von Zeitzeugen aus Bayern aufzuzeichnen.“
In der ersten Phase des Projektes würden die Schüler einen Zeitzeugen aussuchen und im Archiv nach weiteren Informationen suchen, erzählt die Koordinatorin.
„Sie bereiten sich vor allem auf das Gespräch mit dem Zeitzeugen vor. Der Koordinator organisiert einen Workshop für die Schüler, bei dem sie lernen, die richtigen Fragen zu stellen und mit dem Aufnahmegerät oder der Kamera umzugehen. Zudem dokumentieren sie ihre Arbeit am Projekt mit Fotos. Dann führen sie das Interview mit dem Zeitzeugen. Und anaschließend lernen sie, mit der Aufnahme zu arbeiten. Das heißt, wir bringen den Kindern bei, die Geschichte eines Zeitzeugen zu erzählen. Sie sollen aus der Aufnahme, die etwa 90 Minuten lang ist, die wichtigsten Passagen heraussuchen – also jene, die sie am meisten angesprochen und beeindruckt haben. Denn die nachfolgende Reportage ist ihr eigenes Werk. Wir erklären den Schülern, wie man aus den langen Aufzeichnungen eine dreiminütige Reportage zusammenstellt. Dies kann ein Hörstück oder ein Video sein, aber auch ein Comic oder ein literarisches Werk.“
Mitarbeiter des Tschechischen Rundfunks helfen den Schülern auf tschechischer Seite bei der Ausarbeitung ihrer Reportage. Wegen der Corona-Pandemie ist dies derzeit allerdings nicht direkt im Rundfunkgebäude möglich. Jitka Doubravová:
„In der jetzigen Situation haben wir uns dafür entschieden, den Workshop auch auf deutscher Seite nur online durchzuführen. Ein Deutsch sprechender Redakteur wird den Workshop leiten. Wenn es möglich wäre, würden natürlich auch die Kinder in Bayern ein dortiges Rundfunkstudio besuchen.“
Im letzten Teil des Projektes lernen die Schüler laut Doubravová, ihre Arbeit dann der Öffentlichkeit vorzustellen. Dies geschieht in der Regel bei einer feierlichen Abschlusspräsentation.
„Die Präsentation soll im Centrum Bavaria Bohemia in Schönsee stattfinden. Wir würden sie gern im Juni organisieren. Wenn es die Corona-Situation nicht erlaubt, haben wir während der vergangenen Monate einige Möglichkeiten gefunden, die Präsentation online zu veranstalten.“