Aufgeschlossen für die tschechisch-deutsche Geschichte – das neue Mehrzweckzentrum in Plesná

Blick in die Dauerausstellung

Ein außergewöhnliches Kultur- und Gemeindezentrum ist in Plesná, dem ehemaligen Fleißen, entstanden. Das Städtchen im nördlichen Chebsko / Egerland hat es in einem gemeinsamen EU-Projekt mit der Oberpfälzer Partnerstadt Erbendorf geschaffen. Eine ehemalige Textilfabrik in der Ortsmitte ist dabei in ein hochmodern ausgestattetes, multifunktionales Zentrum verwandelt worden. Nun müssen die Räume mit Leben gefüllt werden. Zu besichtigen ist bereits die Dauerausstellung über die Ortsgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie bildete das Hauptthema des Projekts und nimmt besonders das Zusammenleben der Tschechen und Deutschen in den Blick. Doch noch viele andere Vorhaben sollen nach und nach realisiert werden.

Es geht vor allen Dingen um die Menschen. Darum, wie historische Vorgänge ihr Leben beeinflusst haben. Das wird sogleich deutlich, wenn man auf dem Besucherparkplatz des neuen Kultur- und Gemeindezentrums von Plesná aus dem Wagen steigt. Vor dem Eingang ist auf einer erhöhten Plattform ein Ensemble von Schautafeln arrangiert. Auf jeder Schautafel ist ein kurzes Porträt zu lesen. In der Gruppe stehen ehemalige deutsche Einwohner der Region neben Tschechen und jüdischen Mitbürgern. Gemeinsam ist ihnen, dass die Geschichte des 20. Jahrhunderts sie gezeichnet hat: Es sind Opfer der Verbrechen des Holocaust, Betroffene der Zwangsaussiedlung nach dem Krieg oder politisch Verfolgte in den Jahrzehnten der kommunistischen Diktatur.

Ausstellung von Memory of Nation vor dem Haupteingang | Foto: Maria Hammerich-Maier,  Radio Prague International

„Die Außenausstellung haben wir von Memory of Nation. Im vergangenen Jahr wurde sie in den Fußgängerzonen von Karlsbad, Cheb, Sokolov und anderen Städten der Region gezeigt. Es sind keine Menschen aus Plesná, die da stehen, sondern Einwohner des ganzen Grenzraumes hier.“

Petr Schaller ist der Bürgermeister von Plesná. Er hat das neue Kultur- und Gemeindezentrum mit aus der Taufe gehoben. Die Vereinigung Memory of Nation, tschechisch Paměť národa, passt gut zu seinen Zielen. Die Geschichts-Dokumentaristen von Memory of Nation zeichnen Zeitzeugenberichte auf und vermitteln sie an die Öffentlichkeit und an Schulen. Als die baufällige Fabrik in der Ortsmitte von Plesná für das neue Kultur- und Gemeindezentrum hergerichtet war, richtete die Karlsbader Zweigstelle von Memory of Nation darin ein Studio ein. So sei es für die Dokumentaristen möglich geworden, auch Videos mit ehemaligen deutschen Mitbürgern aufzunehmen, die nach dem Krieg im hessischen Eichenzell angesiedelt wurden, berichtet Schaller.

Besuch von Freunden aus Eichenzell

„Vergangenes Jahr ist eine Dokumentation mit Eichenzellern entstanden. Sie haben hier im Studio von Memory of Nation wiederum ihre Sicht der Geschichte dargelegt. Ich hatte damals Besuch aus Eichenzell. Der frühere Bürgermeister hat uns besucht, den ich gut kenne und der oft nach Plesná kommt. Er brachte noch vier Eichenzeller mit, und mit drei von ihnen hat Memory of Nation das Video gedreht. Zuerst wollten sie sich nicht darauf einlassen, doch schließlich waren sie bereit, mit den Leuten von Memory of Nation zu reden. Diese haben große Erfahrung mit solcher Art von Arbeit, und so sind wunderbare Materialien entstanden, wirklich hochinteressant.“

Partnergemeinde Eichenzell | Foto: Maria Hammerich-Maier,  Radio Prague International

Mit Memory of Nation will Schaller auch weiterhin zusammenarbeiten. In den Videoerzählungen und Porträts der Schautafeln findet er den interaktiven, gegenwartsnahen Ansatz, den er sich für das neue Zentrum wünscht.

Bei der Dauerausstellung über die Ortsgeschichte von Plesná in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Innenräumen des Zentrums führt ebenfalls ein Dokumentarfilm ins Thema ein. Er beruht wesentlich auf den Aussagen eines in Plesná geborenen deutschen Zeitzeugen. Gedreht hat den Film der Karlsbader Filmemacher und Schauspieler Viktor Braunreiter.

„Es handelt sich um eine Erzählung Adolf Penzels, des Sohnes des letzten deutschen Bürgermeisters von Plesná. Er hat hier mit seinen Eltern das Leben vor dem Krieg, den Verlauf des Weltkrieges und die Abschiebung respektive die Aussiedlung nach Deutschland erlebt. Dazu haben wir und auch er Materialien in Archiven gesammelt. Zudem haben mehrere Institutionen beratend an dem Film und der Ausstellung mitgewirkt. Der Historiker Jan Nedvěd vom Museum Karlovy Vary hat darauf geachtet, dass der thematische Rahmen eingehalten wurde und dass die Angaben auf den Infotafeln auch relevant sind.“

Willkommensfilm | Foto: Maria Hammerich-Maier,  Radio Prague International

Adolf Penzel wurde 1935 in Plesná geboren und ist 2021 in Eichenzell verstorben. Seine Erinnerungen werden in dem Film von Historikern der Museen in Karlovy Vary / Karlsbad und Cheb / Eger ergänzt und eingeordnet. Dazu werden historische Filmaufnahmen eingeblendet, und szenische Darstellungen prägender historischer Ereignisse vervollständigen das Gesamtbild.

„Der Film enthält nur einen Zusammenschnitt der Erinnerungen Adolf Penzels. Wir haben aber fünf Stunden Videomaterial mit ihm. Herr Braunreiter hat es hier in Plesná in der Fabrik aufgenommen, als diese noch nicht umgebaut war, aber auch im Heimatmuseum in Eichenzell, das Adolf Penzel mitgestaltet hat. Wir haben durch diese Videoaufnahmen sehr viel Neues erfahren.“

Der erste Teil der Dokumentation läuft als „Willkommensfilm“ in einem eigenen Vorführraum in Dauerschleife. Der zweite Teil wird in dem hallenartigen Ausstellungsraum selbst gezeigt. Im Mittelpunkt steht die lokale Geschichte vor, im und nach dem Zweiten Weltkrieg. Besonders die soziale Dynamik wird beleuchtet, die sich zwischen Einwohnern deutscher und tschechischer Nationalität entwickelte, von der symbiotischen Verflechtung bis zum radikalen Schnitt der Ausbürgerung. Bestechend ist das Bemühen um Ausgewogenheit und eine konsensfähige Darbietung, das den Ton des ganzen Films bestimmt. Diese Umsichtigkeit ist ganz im Sinne des Bürgermeisters:

„Wir nehmen keine Wertungen vor. Das alles ist Teil unserer gemeinsamen Geschichte. Die Besucher mögen sich den Film ansehen, durch die Ausstellung gehen und sich selbst ein Bild machen.“

Schautafel der Dauerausstellung | Foto: Maria Hammerich-Maier,  Radio Prague International

Mit solcher Herangehensweise hofft Schaller, allen Zielgruppen gerecht zu werden, auch den ehemaligen deutschen Mitbürgern und deren Nachkommen.

„Immer wenn wir mit Adolf Penzel oder anderen Freunden aus Eichenzell gesprochen haben, die aus Plesná dorthin gekommen sind, schimmerte durch, dass sie mit dem Herzen noch immer hier sind. Sie sind stolz darauf, dass Plesná vor dem Krieg ein gut entwickelter Ort war, der 3000 Einwohner hatte und rund 2000 Arbeitsplätze bot. Wir wollen das Zentrum stets weiterentwickeln, damit das Gebäude mit Leben erfüllt wird. Die Vergangenheit ist eine Art Vermächtnis und gehört zu diesem Zentrum.“

Geschichte zum Anfassen

Eine weitere Zielgruppe, die Schaller am Herzen liegt, ist die junge Generation. Sie soll durch Touchscreens und andere aktivierende Elemente angeregt werden, sich mit den Inhalten der Ausstellung tiefer auseinanderzusetzen.

„Unser Konzept ist nicht das eines herkömmlichen Museums. Wir haben hier einfach eine Ausstellung. Und wir möchten, dass die Menschen, die hierher kommen, über die Geschichte nachzudenken beginnen. Aber wir möchten der jungen Generation auch etwas zum Anfassen bieten. In dem Abschnitt über die Abschiebung zum Beispiel können die Besucher Sachen in einen Koffer packen, um auszuprobieren, wie viel Gepäck die Menschen damals mitnehmen durften. Wir legen Wert auf Interaktivität.“

Wirkstuhl | Foto: Maria Hammerich-Maier,  Radio Prague International

Museale Gegenstände haben da eher eine ergänzende Funktion. Die wenigen Schaustücke, die in den Vitrinen und auf den Ausstellungsflächen zu finden sind, wurden mit Bedacht ausgewählt und haben eine hohe Aussagekraft. So zum Beispiel sind ein alter Wirkstuhl, in der Region gefertigte und gespielte Streichinstrumente oder eine kunstvoll verzierte Wanduhr zu sehen.

Wirkwaren wurden in der Fabrik Tosta hergestellt, die 2000 stillgelegt wurde. In ihre Räumlichkeiten ist nun das Kultur- und Gemeindezentrum eingezogen. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs befand sich die Wirkwarenfabrik Lehrmann & Söhne darin. Das Familienunternehmen wurde im frühen 19. Jahrhundert gegründet. In der Zwischenkriegszeit beschäftigte es bis zu 800 Arbeitskräfte. In jener Phase der Expansion entstand auch das jetzt von Grund auf erneuerte Fabrikgebäude. 1945 wurde das gesamte Betriebsvermögen der Familie Lehrmann enteignet, die Fabrik ging später in ein volkseigenes Werk über. Eine zusätzliche Ausstellung soll künftig diese Wirtschaftsgeschichte von Plesná behandeln. Doch es wird noch einige Zeit dauern, bis sie fertig ist. Petr Schaller:

Kultur- und Gemeindezentrum Plesná,  Seitenansicht | Foto: Maria Hammerich-Maier,  Radio Prague International

„Unser Projekt gründet auf dem Gedanken des Zusammenlebens der tschechischen und deutschen Bevölkerung. Doch wir beabsichtigen, das bereits Erreichte weiter auszubauen und jedes Jahr zu ergänzen. Eine unserer Visionen ist eine Ausstellung über die Textilfabrik und die gesamte hiesige Industrie. Denn darauf waren die Menschen hier stolz. Dieses Vorhaben steckt aber noch in den Kinderschuhen. Wir haben zwar jede Menge Material, aber wir brauchen jemanden, der es für uns aufbereitet, denn wir selbst sind keine Experten. Also wir arbeiten daran, das kommt.“

Partner in Geschichte und Geologie – Plesná und Erbendorf

Kommen soll auch ein pädagogischer Austausch mit der Partnerstadt Erbendorf. In der Kleinstadt in der Oberpfalz ist im Rahmen des gemeinsamen EU-Projektes das Museum Flucht – Vertreibung – Ankommen geschaffen worden. Erbendorf wird auf mehreren Text- und Bildtafeln an den Wänden der Dauerausstellung in Plesná vorgestellt. Und eine kleine geologische Ausstellung informiert unter anderem über die seismische Aktivität und die Heil- und Mineralwasservorkommen der grenzübergreifenden Region. Die beiden Städte hätten bereits viel zusammen gemacht, so Schaller: „Im Laufe des Projektes, das dreieinhalb Jahre dauerte, fanden 22 Begegnungen statt. Darunter Treffen von Senioren, Feuerwehrleuten, Sportlern und Grundschülern. Außerdem wurden zwei Workshops abgehalten, bei denen Herr Nedvěd vom Museum in Karlsbad für unsere Bürger und auch für die Bürger von Erbendorf einen Vortrag über das Zusammenleben der Tschechen und Deutschen hielt.“

Von links: Johannes Reger,  Bürgermeister von Erbendorf,  Petr Schaller,  Bürgermeister von Plesná,  Hans Donko,  ehemaliger Bürgermeister von Erbendorf und Jochen Neumann,  Leiter des Museums in Erbendorf

Die neuen Ausstellungen sollen nun in den Geschichtsunterricht der Schulen beider Partnerstädte einbezogen werden.

In trockenen Tüchern ist bereits der Umzug der städtischen Bücherei in das neue Mehrzweckzentrum. Anders als das alte Kulturhaus hat es einen barrierefreien Zugang. Ein anderer, derzeit noch leerstehender Raum des neuen Zentrums ist für wechselnde Kunstausstellungen vorgesehen. Die Einwohner von Plesná begrüßen das neue Kultur- und Gemeindezentrum in ihrem Ort. Doch in der Dauerausstellung über die Ortsgeschichte fänden sich manche nicht wieder, räumt Doris Bigasová ein. Sie ist die Leiterin des neuen Zentrums:

„Manche einheimischen Besucher hatten erwartet, dass die Ausstellung mehr über die Textilindustrie zeigen würde. Denn die Fabrik Tosta war hier viele Jahre lang in Betrieb, und sehr viele Menschen haben dort gearbeitet. Die auswärtigen Besucher hingegen kamen ohne bestimmte Vorstellungen, und die Ausstellung hat sie dann eher positiv überrascht.“

Das habe sich erst beim letzten Besuch wieder bestätigt, erzählt Bigasová:

„Gerade heute waren Kinder abgeschobener Einwohner aus Fulda hier. Sie haben sich sehr anerkennend geäußert. Eine Besucherin meinte, wenn sie zu Hause Geschichten aus ihrer Kindheit erzähle, höre ihr niemand zu, dennoch müssten diese Erfahrungen weitergegeben werden. Sie sagte, unsere Ausstellung würde ihr schrecklich gefallen, sie sei objektiv und begünstige weder die eine noch die andere Seite. Sie war sehr zufrieden.“

Dauerleihgabe des Sudetendeutschen Museums in München | Foto: Maria Hammerich-Maier,  Radio Prague International

Viele Besucher würden sich erleichtert zeigen, dass die Ausstellung niemanden anprangere oder in Verruf bringe. Anderseits würden sich manche Ortsbewohner sorgen, dass sie vereinnahmt werden könnten, so Bigasová:

„Es gibt auch negative Reaktionen. Es heißt, wir würden uns den Deutschen andienen. Aber das ist bei allen Themen und in allen Bereichen so. Das war auch bei dieser Ausstellung nicht zu vermeiden. Aber ich sage den Menschen dann, dass das die Geschichte ist, die einfach zu Plesná gehört. Und wir leben hier neben- und miteinander, viele Tschechen leben und arbeiten in Deutschland, viele Deutsche kommen hierher zum Essen oder zum Einkaufen. Also müssen wir miteinander kommunizieren und leben.“

Bürgermeister Schaller versteht solche Vorbehalte als Herausforderung, die Geschichte den Bürgern von Plesná noch besser zu erklären.

„Unsere Menschen hier sollten sich dessen bewusst sein, dass die ehemaligen Landsleute den Ort, an dem sie geboren sind, noch immer im Herzen tragen. Daran sollten wir denken und auf unsere Stadt stolz sein. Als ich die Videos mit den Zeitzeugen sah, war ich zu Tränen gerührt, weil diese Menschen bei allem, was sie erlebt haben, keinen Groll auf diese Stadt hegen, sondern gerne hierher kommen und mit uns reden.“

In Plesná, dem früheren Fleißen, hat die Erinnerungskultur mitten im Ort eine dauerhafte Bleibe und Perspektive erhalten.

Die Ausstellungen in Plesná können zu den Öffnungszeiten an Wochenenden und tschechischen Feiertagen besichtigt werden.

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