„Quadratur des Kreises schaffen“ – Politologe Schuster über die Politik in Tschechien 2023 und 2024
Für viele Menschen in Tschechien geht ein schwieriges Jahr zu Ende. Anhaltend hohe Inflation, der Krieg in der Ukraine und der Konflikt in Nahost – alles das hat direkte oder indirekte Auswirkungen auf das Leben hierzulande. Wie also ist das politische Jahr 2023 in Tschechien zu bewerten? Antworten darauf gibt der Politologe und Journalist Robert Schuster, der viele Jahre lang auch freier Mitarbeiter von Radio Prag International war.
Robert, es geht ein Jahr der Krisen zu Ende. Wie stark hat das die tschechische Politik beeinflusst?
„Ich würde sagen, sehr stark. Vor allem sieht man das an der geringen Unterstützung für die Regierung von Premier Petr Fiala. Sie hat wirklich sehr an dieser Krise zu knabbern. Selbst viele Stammwähler, die diese Regierung ins Amt gehievt haben, haben sich von der Koalition abgewandt. Sie sind heute im Lager der Unentschiedenen, einige sogar direkt im Lager der Opposition – also vor allem der Partei Ano von Ex-Premier Andrej Babiš. Ganz eindeutig steckt die Regierung jetzt zur Halbzeit der Legislaturperiode in einer sehr tiefen Krise. Und aus ihrer Sicht kann es nur noch besser werden.“
Die tschechische Regierungskoalition versucht mit ihrem Sparpaket eines ihrer Ziele umzusetzen, nämlich die Konsolidierung der Finanzen. Ist das nicht der falsche Zeitpunkt, wenn man sich die Welle der Proteste anschaut. Gefährdet sie nicht vielleicht damit auch sich selbst?
„In der Tat erinnert mich das sehr stark an die Jahre 2011 bis 2013 unter Premier Petr Nečas. Auch er stand einer bürgerlichen Regierung vor, die versucht hat, die Staatsfinanzen zu konsolidieren. Dies war nach der Finanzkrise, die sehr viele Mehrausgaben bedeutet hatte. Und jetzt sind wir in der gleichen Lage. Die Regierung versucht, das wieder zu korrigieren, was die Vorgängerregierung verursacht hat – die riesengroßen Ausgaben wegen der Corona-Pandemie und Weiteres. Sie begeht dabei vielleicht den gleichen Fehler, dass sie zu viel oder an falscher Stelle spart, und bekommt dies dann bei den Wahlen zu spüren.“
Vielleicht noch ein Blick von einer anderen Seite: In Deutschland zeigt sich ja derzeit, dass es in der Koalition kaum Einigung über grundlegende Fragen gibt. Wie sieht es mit der Stabilität der Fünfer-Koalition in Tschechien aus?
Von außen wird die Regierung als Einheit wahrgenommen, aber als sehr schwache Einheit.
„Das ist sehr trügerisch. Auf der einen Seite wirkt die Fünferkoalition in Tschechien sehr stabil, wenn man das mit Deutschland vergleicht. Es dringt kaum etwas nach außen von inneren Konflikten. Aber es handelt sich um fünf sehr unterschiedliche Parteien. Das Spektrum reicht von den liberal-progressiven Piraten bis zu den christlich-konservativen Christdemokraten und Bürgerdemokraten. Das Spektrum ist fast noch breiter als in der Ampelkoalition in Deutschland. Es ist aber wohl das Verdienst von Premier Petr Fiala, die inneren Konflikte, die es sicher gibt, so unter dem Deckel zu halten, dass sie nicht nach außen dringen. Zugleich ist das ein Problem: Von außen wird diese Regierung als Einheit wahrgenommen, aber als sehr schwache Einheit. Denn die Kompromisse, die die fünf Parteien eingehen müssen, kosten etwas.“
Ich komme später noch einmal auf diese spezielle Lage zurück, möchte aber zunächst eine andere Sache in den Vordergrund stellen: Die größte Änderung in diesem Jahr war sicher die an der Spitze des Staates – dass also Petr Pavel der Nachfolger von Präsident Miloš Zeman geworden ist. Welche Bedeutung hatte dies?
„Ich denke, das war sehr wichtig. Vor allem sieht man, dass Petr Pavel von außerhalb der Politik gekommen ist. Er musste sich erst einmal einleben in dem Amt und sich langsam herantasten. Das ist ihm einigermaßen gelungen, würde ich sagen, Er ist langsam mit dem Amt gewachsen. Natürlich gibt es auch immer Schwachstellen, die ihn wahrscheinlich sein ganzes Präsidentendasein begleiten werden. In seinem Fall gehört dazu vor allem seine Vergangenheit – er war in der kommunistischen Partei als Angehöriger des militärischen Abschirmdienstes vor 1989. Aber er lernt, auch dieses Thema zu umschiffen oder so dazustellen, dass es für einen großen Teil der Öffentlichkeit vertretbar ist.“
Ist dir etwas besonders aufgefallen an seiner Amtsführung?
„Das relativ starke Engagement Petr Pavels in den tschechisch-deutschen Beziehungen. Seine Reisen in das bayerisch-tschechische Grenzgebiet sind sehr gut angekommen. Wenn er in dieser Dimension fortfahren würde, dann würde dies die tschechisch-deutschen Beziehungen, obwohl sie ja immer wieder als sehr gut bezeichnet werden, um eine weitere Dimension bereichern. Ich finde das ziemlich gelungen, obwohl Petr Pavel eigentlich in diesem Bereich nicht vorbelastet ist. Er hat sich weder vorher intensiv mit dieser Materie beschäftigt, noch ist er von seinem familiären Hintergrund her damit verbunden – außer dass er aus dem westböhmischen Tachau, also Tachov, stammt. Aber das muss nicht zwingend heißen, dass man sich mit diesem Thema befasst.“
Wie siehst du allgemein die tschechisch-deutschen Beziehungen und ihre Entwicklung im Jahr 2023: Hat sich da etwas bewegt?
Tschechien und Deutschland haben die gleichen Probleme mit den Strukturreformen, und das verbindet.
„Ich würde sagen, sowohl die eine als auch die andere Seite ist zur Erkenntnis gekommen, dass wir vielerorts die gleichen Probleme haben. Man kann sich da zum Beispiel die Strukturreformen anschauen – also den Übergang von einer Wirtschaft, die stark auf der Industrie und im Speziellen auf der Autoindustrie beruht, zu grünen Technologien. Sowohl in Deutschland als auch in Tschechien gelingt dieser Übergang derzeit nicht so gut, oder zumindest ist noch viel Luft nach oben. Man sieht also die Gemeinsamkeiten bei den Problemen und auch, dass das vielleicht für Tschechien und Deutschland verbindend sein kann im Blick auf gemeinsame Interessen sowie auf die Sicht der Dinge.“
Wenn man Premier Fiala zuhört, dann hat es aber auch einen starken Wandel in den Beziehungen zwischen Tschechien und Österreich gegeben…
„Das hängt sicherlich damit zusammen, dass Fiala aus Brünn – also Brno – kommt, der zweitgrößten Stadt des Landes. Und viele Brünner sagen bis heute, für sie sei Wien näher als Prag. Sie beziehen das nicht nur auf die Entfernung, sondern auch auf den kulturellen Hintergrund. In jedem Fall wurde die Zusammenarbeit mit Österreich und auch der Slowakei – das sogenannte Austerlitz-Format – ausgebaut. Ich denke, diese Dimension hat in den vergangenen Jahren vielleicht gefehlt in der tschechischen Außenpolitik. Man hat ja vorher den Fokus sehr auf Mitteleuropa – aber nur im Sinne der Visegrád-Gruppe – gelegt oder auf Berlin beziehungsweise auf die USA im Sinn eines weiteren transatlantischen Rahmens. Aber die Nachbarn wie Österreich oder andere Länder Mitteleuropas hat man meist nicht so sehr auf dem Radar gehabt. Und das hat sich unter Premier Fiala durchaus geändert.“
Jetzt möchte ich ein bisschen vorausschauen: 2024 stehen – anders als in diesem Jahr – wieder Wahlen an in Tschechien. Zum einen wird das Europäische Parlament neu besetzt, zum anderen gibt es im Herbst dann die Wahlen zu den Kreisparlamenten und über ein Drittel der Sitze im Senat. Das könnte ein sehr bitteres Erwachen für die Regierungskoalition bedeuten, oder?
„Die Europawahl ganz bestimmt. Das ist eine typische Denkzettelwahl, bei der die ganzen Unzufriedenen, auch die früheren Wähler der Regierungskoalition, sich sagen: Jetzt können wir risikolos unseren Frust ablassen und eine Protestpartei wählen. Meiner Meinung nach könnten einige Verwerfungen in der Koalition auftreten, wenn die Wahl wirklich sehr schlecht für die Regierungsparteien ausfällt. Damit meine ich vor allem, wenn der Spolu-Zusammenschluss – also die Christdemokraten, die Bürgerdemokraten von Premier Fiala und die von Karel Schwarzenberg gegründete liberale Top 09 – nur als dritte Partei über die Ziellinie kommt. Und zwar hinter der Partei Ano von Babiš und der noch populistischeren ‚Freiheit und direkte Demokratie‘ von Okamura. Gemäß den Umfragen scheint das derzeit wahrscheinlich. Und dann würde vielleicht die Führungsfrage gestellt, ob also das Regierungsbündnis nicht von vorne beginnen sollte mit einem neuen Premierminister. Das halte ich für durchaus möglich.“
Und es gab dafür 2004 eine Art Präzedenzfall…
„Genau. Nach der ersten Europawahl in Tschechien im Jahr des EU-Beitritts trat Premier Vladimír Špidla zurück, weil seine Partei – die betont pro-europäische Sozialdemokratie – sehr schlecht abgeschnitten hatte.“
Da wird sicher auch stark hineinspielen, wie sich die tschechische Wirtschaft erholt, nehme ich mal an. Das dürfte wohl ein Faktor sein, der weiter die Politik hierzulande bestimmt.
„Die Oppositionsparteien werden sicher immer wieder auf das Thema Inflation verweisen – dass die Lebensmittel so teuer sind und die Preise weitaus höher liegen als in Polen und auch teilweise als in Deutschland, weswegen viele Tschechen zum Einkaufen ins Ausland fahren. Zudem geht es um die Energiepreise und darum, dass man von dem wirtschaftlichen Aufschwung, der sicher irgendwann eintreten wird, auch wirklich als Bürger etwas hat.“
Siehst du noch ein wichtiges Thema in der tschechischen Politik im kommenden Jahr?
„Ich denke, es wird vorrangig um die wirtschaftliche Erholung des Landes gehen. Das heißt, ob die Regierung die Quadratur des Kreises schafft, die Staatsfinanzen zu konsolidieren oder in eine richtige Richtung zu lenken und nicht zugleich den zarten Wirtschaftsaufschwung abzuwürgen – zum Beispiel durch neue Steuern oder zusätzliche Abgaben durch hohe Energiepreise. Das wird wohl die größte Herausforderung für die Regierung im kommenden Jahr sein.“