Schüler auch aus Tschechien bringen Licht in die Geschichte – das Projekt Step 21

Jakub Kavánek mit Johanna Schröder (Foto: www.step21.de)

Durch das internationale Projekt Step 21 beweisen Schüler seit einigen Jahren, dass Geschichte nicht nur etwas für ausgebildete Historiker ist. Immer wieder finden sie in ihren Heimatorten neue Themen aus der NS-Zeit, die verdrängt oder vergessen wurden. Es sind einzelne Schicksale wie die der so genannten Edelweißpiraten aus Köln-Mülheim oder Ereignisse wie der Brand der Synagoge im nordböhmischen Reichenberg. In kleinen Teams forschen dann die Jugendlichen aus Deutschland, Tschechien, Polen und dieses Jahr auch erstmals aus Österreich und suchen auch das Gespräch mit Zeitzeugen. Unterstützt werden sie von engagierten Lehrern und Fachleuten von Unis und zudem von Journalisten. Denn über ihre Forschungen schreiben sie dann Beiträge für eine gemeinsame Zeitung.

Es gab eine Generation, die geschwiegen hat. Nur wenige Eltern erzählten nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Kindern, was geschehen war oder was sie während der NS-Zeit erlebt hatten. Heute fragen die Enkelkinder oder bereits die Kinder der Enkelkinder. Sie stoßen manchmal auf dieselben Reaktionen wie die Nachkriegskinder. Dies wurde bei der offiziellen Vorstellung des Projektes Step 21 in Berlin deutlich. Die Jugendlichen merkten an, dass es für die ältere Generation wahrscheinlich schwer sei, ber die NS-Zeit zu sprechen – aus schmerzhafter Erinnerung. Vielleicht würden manche auch Schuldgefühle plagen. Dazu Julia Grabińska aus dem polnischen Zabrze über ihre Erfahrung:

„Viele haben noch immer angst, aber wenn sie es verheimlichen, dann werden wir Jugendlichen kaum etwas von der Geschichte erfahren. Am meisten lernt man doch von den normalen Leuten und nicht aus Büchern oder in der Schule.“

Mehr erfahren wollten auch Milan, Vojtěch, Bianka, Jakub, Markéta und Jan. Sie sind alle 17 bis 19 Jahre alt und gehen auf das deutsche Gymnasium im südmährischen Brno / Brünn. Sie wollten mehr wissen über das Studentenwohnheim Kaunitz-Kolleg. Am 17. November 1939 schlossen die Nazis alle tschechischen Hochschulen, auch das Kolleg wurde besetzt. Das Gebäude wurde in zwei Blöcke eingeteilt, die Zimmer in Wachstuben, Krankenzimmer, Untersuchungs- und Verhörräume sowie Gefängniszellen umgewandelt, wie die Brünner Jugendlichen in ihrem Zeitungsartikel schreiben.

„Aus dem Kaunitz-Kolleg wurde ein Gestapo-Gefängnis, in dem Widerstandskämpfer und Regimegegner gefoltert und hingerichtet wurden. Sechs Jahre lang herrschte dort nur Angst“, berichtet Milan Neužil, einer der sechs Schüler.

Heute aber sei die Existenz dieses größten Nazi-Gefängnisses in seiner Heimatstadt nicht mehr allgemein bekannt, deswegen haben er und seine Mitschüler dieses Thema gewählt:

„Viele Brünner wissen gar nicht, wo dieses Kaunitz-Kolleg zu finden ist. Ein Grund war daher, sie aufzuklären, wo und was das Kolleg war und was dort geschehen ist.“

Zuerst aber mussten die Jugendlichen sich selbst informieren. Händeringend suchten sie nach einem Zeitzeugen. Den fand dann Vojtěch Mečír:

„Ich habe ihn in einer Fernsehreportage gesehen und habe nach seinem Namen dann im Telefonbuch gesucht.“

Der Name des Zeitzeugen, Josef Styx, war ausgefallen genug, um es auf diese Weise zu probieren. Ein Anruf der Lehrerin brachte den Kontakt zustande und so erfuhren Vojtěch und seine Mitschüler von dem Grauen, das in den Räumen des Kaunitz-Kollegs während der Nazi-Zeit herrschte. Ab 1944 verbrachte Josef Styx ein halbes Jahr lang in dem Gestapo-Gefängnis, das mit über 1000 Gefangenen zu dem Zeitpunkt heillos überfüllt gewesen sein soll. In ihrem Beitrag zur eingangs erwähnten Zeitung zitieren die Brünner Schüler den heute 90-jährigen Ex-Häftling:

„Wenn wir in den Zellen waren, hatten wir ständig Angst vor den Wärtern. Bei den regelmäßigen Kontrollen suchten sich die SS-Leute einen der Gefangenen aus und fingen direkt auf dem Gang an, ihn zu treten. Oft wurden wir bis zum Umfallen die Treppen hoch und runter gejagt.“

Doch am meisten Angst hatten die Gefangenen vor der Folter bei den Verhören. Einige starben unter den Qualen, andere begingen Selbstmord. Viele wurden in Schnellgerichtsverfahren zum Tode verurteilt oder erhielten KZ-Haft im österreichischen Mauthausen. All das haben die sechs Jugendlichen in ihrem Zeitungsbeitrag „Gestapo-Gefängnis im Studentenwohnheim“ zusammengefasst.


Im nordböhmischen Reichenberg, das heute auf Tschechisch Liberec heißt, begann die Nazi-Herrschaft früher als in Brünn. Die Stadt lag im Sudetengebiet und wurde von Hitler schon nach dem Münchner Abkommen besetzt. Bereits Anfang Oktober 1938 fliehen die meisten der 1300 Reichenberger Juden. Als am 10. November - und damit einen Tag nach den Pogromen in Deutschland - auch die Synagogen im Sudetengebiet von den Nazis angezündet werden, ist das Gotteshaus in Reichenberg bereits eine Woche verwaist. Kamila, Lukáš, Jan und Jakub vom F.X.-Šalda-Gymnasium in Liberec wollten aber mehr erfahren über den Synagogenbrand in ihrer Heimatstadt. Sie recherchierten, was wahr ist an der damaligen Berichterstattung der Nazis und was wohl schlicht erlogen war:

„Wir haben mit einer Zeitzeugin gesprochen, sie war acht Jahre alt, als die Synagoge gebrannt hat. Sie sagte, dass sie keine Feuerwehr vor Ort gesehen hat und niemand das Feuer gelöscht hat. In den damaligen Zeitungen stand aber, dass die Feuerwehr sofort zur Stelle gewesen sei. Das war also Propaganda“, sagt Jakub Kavánek.

Jan Teplý ergänzt, dass auf den damaligen Fotografien auch keine Feuerwehr zu sehen sei. Als Beweis haben die Schüler eines der Fotos ihrem Zeitungsbeitrag hinzugefügt. Der Betrachter sieht die in Rauch gehüllte Synagoge, einige Neugierige und Polizeikräfte oder Soldaten. Von der Feuerwehr fehlt jedoch jede Spur, wie auch die Zeitzeugin berichtete.

Die Reichenberger Synagoge brannte damals vollständig aus, im darauf folgenden Jahr ließen die Nationalsozialisten sie abreißen. Der Ort wurde danach Jahrzehnte lang nicht mehr bebaut, später wurde nur ein Parkplatz angelegt. Seit dem Jahr 2000 steht dort aber der so genannte Bau der Versöhnung, in dem die Bibliothek des Kreises Liberec untergebracht ist –aber nicht nur das: Sie beherbergt auch eine neue Synagoge.


Neben den Jugendlichen aus Liberec und Brünn gab es noch ein drittes tschechisches Team - aus Klášterec nad Ohři / Klösterle an der Eger. Ergänzt um die Gleichaltrigen aus Deutschland, Österreich und Polen kamen so insgesamt 15 unterschiedliche Geschichten für die eigene Zeitung zusammen. Erste Leserin der Zeitung war die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie erhielt die druckfrische Ausgabe aus den Händen der Schüler aus den vier Ländern im Mai in Berlin bei einer großen Veranstaltung im Jüdischen Museum. Doch bis die Zeitung mit dem Titel „Weiße Flecken“ stand – der Name wurde übrigens gewählt, weil sich die Schüler vor allem mit weißen Flecken in der Geschichte beschäftigt haben -, war es ein hartes Stück Arbeit. Projektmitarbeiter Armin Krahl hat die drei tschechischen Teams betreut. Womit hatten sie die meisten Probleme?

„Allgemein war problematisch, das Thema einzugrenzen. Die Schüler wussten, worüber sie schreiben wollten, sie hatten recherchiert, aber dies auf einen Zeitungsartikel hinzutrimmen, war wohl die größte Herausforderung. Damit aus dem weißen Flecken eine Story wurde, die sich lesen lässt, haben Historiker, Journalisten und ich gemeinsam mit den Jugendlichen gearbeitet“, so Krahl.

Doch zuvor hatten die Mitarbeiter des Projekts Step 21 oder Weiße Flecken die Aufgabe gehabt, überhaupt die Schülerteams auszuwählen. Was wurde berücksichtigt bei der Entscheidung für Brünn, Liberec und Klášterec aus Tschechien? Armin Krahl:

„Wir machen das Projekt Weiße Flecken ja bereits zum dritten Mal und zum zweiten Mal hatten wir nun tschechische Teams dabei. Eine Maßgabe war, Teams aus Städten zu nehmen, die noch nicht teilgenommen hatten. Meistens bewerben sich die Schulen erneut, die bereits einmal teilgenommen haben, wir wollen aber in die Breite gehen und noch mehr Schulen erreichen und anderen die Chance geben, sich mit den weißen Flecken in ihrer Heimatstadt zu beschäftigen.“

Für Jakub Kavánek aus Liberec gab es dann bei der Präsentation noch eine besondere Ehre und Herausforderung zugleich. Er durfte mit drei weiteren Jugendlichen mit Bundeskanzlerin Merkel auf dem Podium diskutieren.