23) Dichter Petr Hruška: Poesie ist eine Überraschung
In unserer Serie über die tschechische Literatur stellen wir Ihnen den Lyriker Petr Hruška vor. Seinen Worten zufolge muss die Poesie verstören, verwundern, überraschen, verunsichern, bestehende ästhetische Befriedigungsmuster niederreißen und neue erfinden. Hruška ist einer der anerkanntesten tschechischen Dichter der Gegenwart.
Petr Hruška ist Dichter, Literaturhistoriker und Organisator von Kulturveranstaltungen. Er wurde 1964 in Ostrava / Ostrau geboren. Zunächst absolvierte er ein Ingenieurstudium an der Technischen Universität in Ostrau. Nach der Wende studierte er dann tschechische Literatur und Literaturwissenschaft an der Universität in Ostrau und promovierte an der Masaryk-Universität in Brno / Brünn. Derzeit arbeitet er im Institut für tschechische Literatur der Tschechischen Akademie der Wissenschaften in Brünn.
Hruška ist Mitherausgeber einiger literarischer Anthologien und literaturwissenschaftlicher Lexika. Für seine Gedichtsammlungen wurde er mit mehreren Preisen bedacht. 1998 nahm er den Dresdner Lyrikpreis entgegen, 2009 auch den Jan-Skácel-Preis. Für den Band „Darmata“ (2012) erhielt Hruška den tschechischen Staatspreis für Literatur. 2014 wurde er mit dem italienischen Premio Pietro Ciampi ausgezeichnet. Seine Gedichte wurden in mehrere Sprachen übersetzt.
Petr Hruška ist nicht nur einer der erfolgreichsten tschechischen Dichter der Gegenwart, sondern auch Experte im Bereich der tschechischen Poesie nach 1945. Wie wird aus einem Montaningenieur Dichter? Petr Hruška meint, er sei eigentlich bedeutend früher Lyriker als Ingenieur gewesen:
„Aus dem Verfasser von Gedichten ist nur für eine Weile ein Ingenieur geworden. Denn für das gewünschte Literaturstudium waren verschiedenste Empfehlungen erforderlich, die mir versagt wurden. Um mich vor dem zweijährigen Militärdienst zu retten, musste ich aber ein Hochschulstudium beginnen. Die Technische Uni in Ostrau galt als eine schmuddelige, wenig attraktive Schule. Darum ermöglichte sie auch denjenigen die Aufnahme, die keine Empfehlung für ein Hochschulstudium bekamen.“
Als Literaturtheoretiker ist Petr Hruška davon überzeugt, dass man ein Gedicht nicht beschreiben soll. Was vielleicht nur in einer theoretischen Reflexion erfasst werden kann, ist ein essentieller Eindruck, sagt Hruška:
„Ein Gedicht bewirkt im Menschen etwas, ohne dass dies erfasst werden kann. Es kann sein, dass dies in dem Gedicht selbst gar nicht enthalten ist. Wenn ich erfassen soll, was in meinen Gedichten ist, dann ist es die Ahnung einer seltsamen Nähe. Diese kommt manchmal auf der Welt vor, überfällt die Menschen, und niemand weiß, wo sie entspringt und wohin sie verschwindet. Aber jeder von uns hat manchmal das Erlebnis einer besonderen Nähe – gegenüber einem anderen oder sich selbst, gegenüber einem Gegenstand, einer Situation. Dieses merkwürdige Gefühl, bei dem Dinge ohne Bedeutung auf einmal bedeutend werden. Dies ist etwas, was mich immer wieder bezaubert und zum Schreiben bewegt. Vielleicht ist dies eine essentielle Definition dessen, worum es mir in meinen Gedichte geht.“
„Nicht neu erfinden, nur präzise werden“
Die erste Gedichtsammlung von Petr Hruška, „Obývací nepokoje“ (zu Deutsch etwa: Unwohnzimmer), erschien vor mehr als 25 Jahren und sein bisher letzter Gedichtband 2019. Hat sich seine Poesie während des Viertel Jahrhunderts verändert? Der Dichter dazu:
„Ich denke, dass sie trauriger und vielleicht ein wenig rauer geworden ist. Obwohl ich nicht sicher bin, ob dem wirklich so ist. Ich gehöre nicht zu den Autoren, die in jedem neuen Gedichtband um jeden Preis alles vollständig ändern müssen: von den Ausdrucksmitteln über die Form bis zum Thema. Ich habe keine Angst, dass Gedichte aus meiner ersten Sammlung denen aus der bisher letzten Sammlung verwandt sind. Ich habe keine Ambitionen, mich um jeden Preis neu zu erfinden. Vielmehr will ich präzise werden. Bei mir finde ich keinerlei Peripetien und Umbrüche.“
Für seinen Gedichtband „Darmata“ erhielt Hruška 2012 den Staatspreis für Literatur. Zudem wurde der Band für den Literaturpreis Magnesia Litera nominiert. Das Wort „darmata“ existiert im Tschechischen nicht, aber es enthält einige Bedeutungen.
„Ich meine, es ist das allgemeine Prinzip der Poesie, die Bedeutungen in Wörtern erklingen lässt. Der Dichter ist ein Sonderling, dem es nicht merkwürdig vorkommt, dass er in der Ferne Echos hört. Er ignoriert sie nicht, sondern versucht, mit ihnen zu sein.“
Petr Hruška räumt ein, er habe in jedem seiner Gedichtbände einige Lieblingswerke. In seinen bisher erschienen Sammlungen gibt es dem Dichter zufolge kein Gedicht, das er nicht ertragen könnte oder widerlich finden würde:
„Es gibt Gedichte, die mir in verschiedenen Zeitetappen näher stehen. Dann tauchen wiederum Gedichte auf, die mir sympathischer vorkommen. Aber allgemein bin ich im Einklang mit allem, was ich jemals geschrieben habe. Ich würde keinen Text aus meinen Gedichtsammlungen streichen, ausschließen oder enterben.“
Seltsam beschädigte Worte aus E-Mails
Im Band „Darmata“ gibt es Gedichte, die aus E-Mails hervorgehen, die jeder von uns von Zeit zu Zeit bekommt. Es handelt sich um schlecht übersetzte Angebote von Finanzdienstleistungen oder falsche Partnerinserate. Der Dichter:
„Die E-Mails sehen auf den ersten Blick wie eine vertrauliche Mitteilung aus. Aber man erkennt schnell, dass dem nicht so ist und sie von einem Roboter stammt. Wir könnten sie als Wortmüll betrachten, als etwas Überflüssiges, das verworfen und ignoriert werden muss. Aber es kann passieren, dass in diesen seltsamen beschädigten Wörtern auf einmal Bedeutungen erklingen, die niemand in ihnen entdecken wollte. Sie kreieren nicht gezielt eine Nachricht. Und dies hat mich daran interessiert.“
Das Gedicht ist laut Petr Hruška eine merkwürdige, unerwartete Begegnung wie etwa mit einem Wildtier. Für diese Wirkung muss es ungeplant sein, meint der Dichter:
„Am besten ist es, wenn ein Leser gar kein Gedicht aus einer Sammlung von Petr Hruška lesen will – aber dann in einer speziellen Situation auf eines stößt. Das wäre die ideale Situation, in der mein Text den Leser ansprechen könnte.“
An Hruškas Gedichtbänden fällt auf, dass sie grafisch sehr sorgfältig gestaltet wurden. Der Autor arbeitet, wie er sagt, mit Künstlerinnen und Künstlern zusammen, die „seinem Herzen“ nahestehen:
„Ich habe den Wunsch, meine Gedichtsammlungen nicht illustrieren, sondern künstlerisch begleiten zu lassen. Sie sollen eine weitere visuelle Welt enthalten. Zu den mir nahestehenden Künstlern gehören Jakub Špaňhel, Katarína Szanyi, Hana Puchová sowie Zdeněk Janošec Benda. Ich bin davon überzeugt, dass Bilder ins Buch gehören und dass sich die literarische und die künstlerische Welt sehr nahestehen.“
Weder Flucht vor dem Leben noch Entspannung
Die Poesie sei eine Überraschung, ein Überfall, ein Aufprall, sagt der Dichter. Sie sei eine ungewöhnliche Erfahrung, die den Menschen den Rest des Tags durcheinander bringt.
„Danach ist man nicht imstande, die Zeit nur gemütlich zu verbringen. Selbst bei einem Spaziergang im Park oder beim Sitzen in der Küche kann man nicht anders, als sich selbst durch dieses Erlebnis zu verzehren, das einige speziell zusammengestellte Worte in uns hervorgerufen haben. Die Poesie ist für mich ein rauer Sturz ins Leben. Sie ist weder die Flucht vor dem Leben noch eine kurze Entspannung auf einem Sofa oder aber ein Streicheln mit der Hand, wenn die Welt ach so böse ist. Eine solche Auffassung führt ist meines Erachtens verlässlich dazu, der Poesie nie begegnen zu können und sie für überflüssig zu halten.“
Petr Hruška ist davon überzeugt, dass es in der Gegenwart gute tschechische Dichterinnen und Dichter sowie empfehlenswerte Gedichtbände gibt:
„Ich vertrete keine modernen Thesen, die oberflächlich und dumm sind und die den Verlust von Poesie und Literatur beklagen. Meistens behaupten dies nervöse Literaturkritiker, die gezwungen sind, viele Gedichte zu lesen und sich darin auszukennen. Es ist für sie unmöglich, Gedichte zu sortieren. Und die Kritiker werden dann müde, aufgebracht und unangenehm. Das wundert mich nicht. Dies führt die zu der Einschätzung, es gäbe hierzulande keine Poesie. Dann heißt es alles sei schon einmal da gewesen und die tschechische Literatur sei verbrannte Erde, auf der nichts zu finden sei. Dabei wird auf die Zeit der Ersten Republik verwiesen, als Holan, Nezval und Seifert Poesie schrieben. Behauptungen, dies sei etwas anderes gewesen, sind billig.“
Von der ältesten Generation der Poeten nennt Petr Hruška den Dichter Karel Šiktanc, der bald seinen 93. Geburtstag begehen wird:
„Šiktanc ist ein Autor, der 50 Jahre lang fantastische Formulierungen in die tschechische Sprache brachte. Er hat Expressivität und Inbrunst, seine Poesie ist gut wiederzuerkennen. Zehn Jahre jünger ist Ivan Wernisch, ein weiterer hervorragender Autor, der mit provokativer Leichtigkeit imaginäre und groteske Welten kreiert. Vor kurzem feierte auch Vít Slíva seinen 70. Geburtstag. Er schreibt sehr spezielle konfessionelle Verse, beurteilt die Lasten des Lebens, eigene Mängel und greift ständig nach dem Transzendenten. Sliva ist ein Dichter, der sich vor Worten wie Glaube und Gott nicht scheut. Er kann sogar vom komplizierten Übergreifen der Menschenexistenz schreiben.“
Die Gedichte von Petr Hruška wurden in viele Sprachen übersetzt. Auf Deutsch erschienen zwei Bände: „Janek anrufen“ von 2008 und übersetzt von Rainer Kunze sowie 2019 „Irgendwohin nach Haus“, übersetzt von Martina Lisa und Kerstin Becker.