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9) Tschechische Comics

Quelle: Archiv des Tschechischen Rundfunks - Radio Prague International
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Tschechien ist vielleicht keine Hochburg der Comic-Produktion wie etwa die Vereinigten Staaten, Japan oder Belgien. Die entsprechende tschechische Szene hat allerdings eine lange Tradition, die bis in die Zwischenkriegszeit zurückreicht. In der heutigen Ausgabe der Serie „Tschechische Bücher, die Sie lesen müssen“ geht es nicht um ein konkretes Buch. Sondern wir blicken auf die Geschichte der tschechischen Comics zurück.

Quelle: Archiv des Tschechischen Rundfunks - Radio Prague International

Pavel Kořínek  (Foto: Daniela Podařilová)
Zwischen den beiden Weltkriegen wurden hierzulande etliche Bildergeschichten veröffentlicht. Zum Beispiel in Kinder-Zeitschriften wie „Malý čtenář“ („Der kleine Leser“) oder in den Magazinen wie „Rodokaps“ für Jugendliche und Erwachsene. Zu den bekanntesten Autoren gehörten Josef Lada und Ondřej Sekora, die ihre Geschichten auch selbst illustrierten. Der Literaturwissenschaftler Pavel Kořínek hat sich in seiner Forschung eben auf Comics spezialisiert:

„Als ein Gründerwerk in der Geschichte des tschechischen Comics gelten Josef Ladas ‚Lustige Streiche von František Vovísek und dem Bock Bobeš‘ von 1922. Ein ausgelassener Junge und sein Freund, der Bock Bobeš, erleben gemeinsam verschiedene Abenteuer. Es ist der erste ausgeprägte tschechische Comic, der in Folgen herausgegeben wurde und einige Sprechblasen enthielt.“

Hündchen Punťa und „Schnelle Pfeile“

Ab Mitte der 1930er Jahre erschienen dann die Comic-Geschichten des Hundes Punťa. Kořínek empfiehlt auch heute noch, diese zu lesen, und zwar nicht nur Kindern, sondern auch Erwachsenen:

„Punťa war ein interessantes Beispiel, denn es war die erste erfolgreiche Comic-Zeitschrift. Bis dahin gab es die Comics nur auf speziellen Seiten von Zeitungen und Zeitschriften, sozusagen als Sahnehäubchen. Die Zeitschrift Punťa wurde von 1935 bis 1942 herausgegeben und enthielt ausschließlich Bilderserien. Die Punťa-Geschichten erzählen von einem Stadthündchen, das sich wie ein Mensch verhält und Kleidung trägt. Mit seiner Lebensgefährtin Kiki führt es ein städtisches Leben am Ende der Ersten Tschechoslowakischen Republik.“

In der Zeitschrift „Mladý hlasatel“ („Junger Sprecher“) erschienen zu dieser Zeit auch die ersten Teile der legendären Comic-Serie „Rychlé šípy“ (auf Deutsch: „Schnelle Pfeile“). Die Geschichten von einer Gruppe von fünf Jugendlichen stammen vom berühmten Autor Jaroslav Foglar, die Zeichnungen von Jan Fišer.

„Schnelle Pfeile“  (Foto: Barbora Němcová)
„Auch wenn man heute die ‚Schnellen Pfeile‘ liest, kann man sich zweifelsohne bei den schönen und unterhaltsamen Geschichten amüsieren. Und man lacht über die brillanten Zeichnungen von Fišer. Gleichzeitig spürt man aber das Bemühen, den Leser didaktisch zu beeinflussen. Foglar und Fišer gelang es allerdings, dieses didaktische Anliegen in spannende Geschichten und eine originelle Form zu verpacken. Die ‚Schnellen Pfeile‘ waren auch die erste erfolgreiche Comic-Serie, die Sprechblasen hatte. Bis dahin standen die Texte und Verse immer unter den einzelnen Bildern. Die Blasen boten größere Möglichkeiten, die Erzählung zu dynamisieren und mit einzelnen Repliken zu arbeiten. Das hat den ‚Schnellen Pfeilen‘ zu ihrem Erfolg verholfen.“

50 Jahre Comic-Zeitschrift „Čtyřlístek“

„Vierblättriges Kleeblatt“  (Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks)
Eine weitere bedeutende Phase in der Entwicklung des tschechischen Comics kam erst in den 1960er Jahren. Zu dieser Zeit tauchten auch neue Namen auf. 1969 erschien zum ersten Mal die Zeitschrift „Čtyřlístek“ (auf Deutsch: „Vierblättriges Kleeblatt“). Die titelgebende Serie über die vier wie Menschen handelnden Tierfiguren Myšpulín, Fifinka, Pinďa und Bobík kennt hierzulande fast jedes Kind. Sie geht auf den Illustrator Jaroslav Němeček sowie auf die Autorin Ljuba Štíplová zurück. Die Čtyřlístek-Hefte erscheinen bis heute. Der Literaturexperte Pavel Kořínek:

„Es handelt sich um die am längsten erscheinende tschechische Comic-Zeitschrift. Mit ihr sind mehrere Generationen von Lesern aufgewachsen. Čtyřlístek bezaubert ständig neue Fans durch nette, lustige, ironische und freundliche Geschichten, die man immer wieder lesen kann.“

Kája Saudek

Hierzulande besteht jedoch auch eine Tradition von Bilderserien für Erwachsene. Der unbestrittene „König des tschechischen Comics“, zumindest in den 1960er Jahren, war Kája Saudek. Seine Arbeiten wurden auch in tschechoslowakischen Filmen und in der Werbung verwendet. Sein Werk war stark von den US-amerikanischen Superhelden-Serien beeinflusst. Doch gerade Saudeks attraktive Frauenfiguren und muskulöse Männergestalten waren den Kommunisten ein Dorn im Auge. Einige seiner Werke fielen deswegen der Zensur zum Opfer. Erst nach 1989 wurde vieles von ihm neu aufgelegt.

Foto: Barbora Němcová
Nach dem Namen einer Figuren Saudeks – nämlich der Frauengestalt Muriel – sind heute auch die Preise benannt, die von der Tschechischen Comic-Akademie verliehen werden.

„Saudeks Muriel-Geschichten sind fantastische, zeitlose und damals sehr avantgardistische Comics. Hätten sie schon während ihrer Entstehung Ende der 1960er Jahre erscheinen können, wäre das ein Umbruch nicht nur für den tschechischen Comic, sondern für die Comic-Tradition weltweit gewesen. Sie sind in mehreren Hinsichten einzigartig: Es sind Comic-Romane – also keine Geschichten, die in Folge erscheinen, sondern Comic-Bücher mit über einhundert Seiten. Sie zielen auf einen erwachsenen Leser, was damals im Comic auch nicht gängig war. Und zudem sind die Bücher quadratisch. Diese ungewöhnliche Form lässt die phänomenalen Zeichnungen Saudeks hervortreten.“

Graphic Novels

Kritikern zufolge ist der tschechische Comic aber erst im neuen Jahrtausend richtig „erwachsen“ geworden. Er richtete sich nicht mehr ausschließlich an Kinder und Jugendliche. In der Form von sogenannten „Graphic Novels“ spielten nun auch ernstere Themen eine Rolle. Ein prominentes Beispiel ist die Trilogie über „Alois Nebel“. Sie stammt vom Autor Jaroslav Rudiš und dem Zeichner Jaromír Švejdík, genannt auch Jaromír 99. Und zusammen mit dem Schriftsteller Jan Novák hat Švejdík auch zwei Comic-Porträt-Bücher veröffentlicht. Die eine handelt vom legendären Langstreckenläufer Emil Zátopek. Die andere von den Mašín-Brüdern, die sich 1953 auf der Flucht aus der kommunistischen Tschechoslowakei in den Westen den Weg freischossen und dabei mehrere Polizisten in der DDR töteten. Die beiden letztgenannten Bücher liegen im Übrigen auch in deutscher Sprache vor. Das ist das Verdienst des Übersetzers Mirko Kraetsch. Radio Prag hat ihn vors Mikrophon gebeten:


Quelle: Verlag Voland & Quist
Herr Kraetsch, Sie haben einige der bekanntesten Bücher des gegenwärtigen tschechischen Comics ins Deutsche übertragen. Wie sind Sie dazu gekommen?

„Angefangen hat es mit Jaroslav Rudiš und seinem sozusagen Nachschiebeband zu Alois Nebel, der hieß ‚Na trati‘, auf Deutsch ‚Leben nach Fahrplan‘. Die Alois-Nebel-Trilogie ist ja recht bekannt, wirklich bahnbrechend für die tschechische Comic-Szene, auch verfilmt und mit mehreren Filmpreisen ausgezeichnet. Sie wurde von meiner Kollegin Eva Profousová übersetzt. Dann gab es noch einen Zusatzband mit Geschichten aus dem Umfeld von Alois Nebel, das waren einzelne Strips, kurze Geschichten, die in einer tschechischen Zeitschrift erschienen sind. Der Band mit diesen Strips ist in Deutschland bei Voland & Quist erschienen. Weil meine Kollegin gerade keine Zeit hatte, fragte der Verlag mich, ob ich das gerne machen würde. Und ich habe ja gesagt. So kam es zu meiner ersten Begegnung mit einer Comic-Übersetzung. Das hat geklappt, und ich blieb beim Verlag im Geschäft. Der nächste Band, den dieser zusammen mit dem Zeichner der Alois-Nebel-Trilogie, Jaromír 99, herausgegeben hat, war ‚Zátopek‘. Jan Novák hat das Drehbuch dazu geschrieben. Und danach kam Anfang 2019 ‚Der Tschechenkrieg‘, das ist eine Adaption des Romans ‚Zatím dobrý‘ von Jan Novák. Darin geht es um die Brüder Mašín, ein sehr bekanntes Thema in Tschechien, in Deutschland eigentlich unbekannt.“

Tschechische Comics auf Deutsch

Mirko Kraetsch  (Foto: YouTube Kanal des Verlags Voland & Quist)
Was ist spezifisch an der Übersetzung eines Comics? Was war neu für Sie bei der Arbeit?

„Bis dahin habe ich vor allem Prosa, Gegenwartsprosa übersetzt, aber auch Lyrik und Dramatik. Ich war also schon in mehreren Genres unterwegs. Comics sind noch einmal eine andere Geschichte, weil dort erstens der graphische Aspekt unbedingt dazu gehört, so wie beim Theater der gesprochene Aspekt. Und das Besondere ist, dass der Platz meist vorgegeben ist, denn entweder sind es kleine Texte in Bildern oder in Sprechblasen. Die Herausforderung ist dann, gute Ausdrücke zu finden. Denn das Deutsche ist rein von den Zeichen her immer voluminöser als das Tschechische. Es braucht von der Grammatik her viel mehr Wörter als das Tschechische, das schön kompakt ist und viel über Endungen macht, wofür das Deutsche aber Hilfswörter braucht. Das Problem ist also, den Text so zu komprimieren, sodass alle Informationen da sind, aber es noch in diese Grafik passt, die ja vorgegeben ist.“

Welche Rolle spielen die Bilder und die graphische Gestaltung bei der Übersetzung?

Illustrationsfoto: Andrew Martin,  Pixabay / CC0
„Das ist natürlich der konstituierende Bestandteil des Comics. Vor allem geben sie mir den Rahmen vor, wieviel Text ich benutzen kann. Andererseits sind die Bilder natürlich auch hilfreich beim Übersetzen beziehungsweise nehmen sie mich an die Hand für das Finden der Wörter. Das Bild ist ja die zweite Text-Ebene. Alles, was ich auf dem Bild sehe, brauche ich nicht im Text zu beschreiben. Wichtig ist aber, dass auch in der Übersetzung Bild und Text Hand in Hand gehen. Ich hoffe immer, dass es mir gut gelingt, wobei ich natürlich als Übersetzer irgendwann auch den Abstand verliere. Aber dazu gibt es immer noch das Lektorat. Vom Verlag aus wird der Text noch einmal bearbeitet, und zwar mit mir zusammen. Man schafft also immer ein Gemeinschaftswerk. Das Übersetzen ist ein wichtiger Aspekt, aber genauso wichtig ist, dass die Graphik richtig umgesetzt wird, dass jemand auf den Text schaut und den noch ein bisschen besser macht. Am Übersetzen ist schön, dass es am Ende doch nicht so einsam ist.“


„Heilige Barbara“  (Quelle: Verlag Lipnik)
Die tschechischen Comics von heute setzen sich nicht nur mit geschichtlichen, sondern auch mit aktuellen Themen auseinander. Vojtěch Mašek, Marek Šindelka und Marek Pokorný befassen sich zum Beispiel in ihrer Graphic Novel „Svatá Barbora“ („Heilige Barbara“) mit einem Aufsehen erregenden Kriminalfall aus dem Jahr 2007. Vojtěch Mašek wurde für seine Werke bereits mit mehreren Muriel-Preisen ausgezeichnet.

„Vojtěch Mašek ist ein Wunderkind des Comics für Erwachsene im heutigen Tschechien. An seinen Geschichten, die er manchmal nur schreibt und manchmal auch zeichnet, ist die surreale Atmosphäre interessant. Darin vermischen sich Realität mit Phantasie und Fiktion auf eine Weise, die einerseits beunruhigend und andererseits unwiderstehlich ist.“

Und auch weitere Teamprojekte feiern in letzter Zeit große Erfolge. Ob es um die Erinnerungen tschechoslowakischer Roma, die Erlebnisse von Heim- und Pflegekindern oder allgemein um Geschichten aus dem aufreibenden 20. Jahrhundert geht.

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