Dreisprachige Stahlmetropole - Mit- und Nebeneinander in Ostrau bis zum Krieg
„Berührungen und Auseinandersetzungen“ – mit diesen Worten beschreiben Historiker die Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen im Laufe der Jahrhunderte auf dem Gebiet der Böhmischen Länder. Nach der politischen Wende von 1989 sind hierzulande dazu viele Dokumente erschlossen worden, so auch im Archiv der Stadt Ostrava / Ostrau. Im Folgenden mehr zu den Beziehungen zwischen den Ethnien in der mährisch-schlesischen Stahlmetropole.
Seit dem 14. Jahrhundert hatte Mährisch Ostrau das Marktrecht. König Karl IV. hatte es verliehen und damit maßgeblich zum Wirtschaftsaufschwung in der Stadt beigetragen. Nach dem Dreißigjährigen Krieg, der auch für die mährisch-schlesische Region desaströse Folgen hatte, musste Ostrau rund ein Jahrhundert lang auf eine neue wirtschaftliche Blütezeit warten. An ihrem Anfang stand die Entdeckung von Kohle in der Gegend, worauf eine stürmische Entwicklung von Bergbau und Eisenproduktion folgte. Blažena Przybylová leitet das Stadtarchiv von Ostrau:
„Die drei Faktoren Kohle, Eisen und Ferdinands Nordeisenbahn leiteten in Mährisch Ostrau und Umgebung einen industriellen Boom ein. Viele Arbeitskräfte wurden gebraucht, es gab eine massive Zuwanderung aus den umliegenden Regionen wie auch aus weit entlegenen Gebieten der Habsburger Monarchie, und daher wuchs die Bevölkerung rasant. Es kamen auch viele Fachleute, insbesondere aus dem deutschsprachigen Raum. Die Stadt wurde nach und nach zu einem kulturellen Schmelztiegel, in dem drei Nationalitäten aufeinandertrafen: die ursprüngliche tschechische, die deutschsprachige sowie die polnischsprachige Bevölkerung. Dem Glaubensbekenntnis nach waren es Katholiken, Protestanten und Juden.“Deutscher Zuzug besonders während der Industrialisierung
Die deutschsprachige Bevölkerung auf dem Gebiet Ostraus war allerdings nicht erst während der Industriellen Revolution angewachsen. Eine erste Zuwanderungswelle gab es bereits im 13. und 14. Jahrhundert zur Zeit der sogenannten Kolonisierung, als Deutsche vor allem in die Randgebiete des böhmischen Königreichs kamen. Diese Wanderungsbewegung spiegelt sich aber nicht in den schriftlichen Quellen von damals.„Unsere Dokumente mittelalterlicher Herkunft sind komplett in tschechischer Sprache. Das deutet darauf hin, dass diese Region weiterhin mehrheitlich von slawischer, also tschechischsprachiger Bevölkerung besiedelt war. Ähnliches gilt auch für die frühe Neuzeit, auch da stellen auf Deutsch verfasste Dokumente eine Ausnahme dar. Das ändert sich erst während der massiven Industrialisierung unserer Region“, so Przybylová.
Die Bevölkerung durchmischte sich immer stärker und war zunehmend durch drei Nationalitäten und ihre Sprachen geprägt: die tschechische, deutsche und polnische. Vor allem die tschechisch-deutsche Zweisprachigkeit setzte sich in verschiedenen Bereichen des Lebens durch. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts zum Beispiel in der Verwaltung, und zwar wegen der Josephinischen Reformen:„Damals wurden sogenannte regulierte Magistrate geschaffen, eine Behörde mit qualifizierten Beamten und dem so genannten Syndikus an der Spitze. Dieser musste ein ausgebildeter Rechtsanwalt sein und in Mährisch Ostrau außer Deutsch auch Tschechisch beherrschen. Die tschechischsprachige Stadtbevölkerung durfte ihre Anträge auf Tschechisch einreichen. Ebenso galt das Recht, eine schriftliche Entscheidung in Tschechisch zu erhalten. Das übrige Prozedere wurde jedoch ausschließlich auf Deutsch erledigt.“
Ingenieure und Techniker mussten Deutsch können
Eine ähnliche Entwicklung gab es in Ostrau auch im Bereich des Schulwesens. Ursprünglich war es überwiegend tschechisch gewesen, nun gab es daneben auch Deutsch und Polnisch als Unterrichtssprache. Vor allem die deutsche Sprache wurde dabei dominanter. Blažena Przybylová:„Ab Mitte des 18.Jahrhunderts nimmt der Druck auf die Errichtung deutscher Volksschulen zu. Das Ausbildungsniveau auf den bereits bestehenden deutschen Schulen höherer Schulstufe war in der Regel besser als in den tschechischen. Deswegen will man auch Volks- beziehungsweise Gemeindeschulen mit Deutsch als Unterrichtssprache haben, um den Übergang auf eine weiterführende Schule wie zum Beispiel aufs Gymnasium zu erleichtern. Ein anderer Grund war, dass die Fachliteratur für ortsgebundene Ingenieure und Techniker zum Großteil auf Deutsch verfasst war.“
Das erste tschechische Gymnasium wurde 1897 in Ostrau eröffnet. Zu dem Zeitpunkt gab es bereits das deutsche „Öffentliche Mädchen-Lyzeum in Mährisch Ostrau“. Das polnische Schulwesen hingegen war nur auf die Grundschulstufe begrenzt. Nicht selten schickten aber auch tschechische Familien ihre Kinder in deutsche Schulen. Warum?„Weil viele der Eltern in den Vítkovicer Eisenhüttenwerken arbeiteten, die sich in den deutschen Privathänden befanden. Die Arbeitgeber erwarteten, dass die Kinder der tschechischen Arbeitnehmer eine Ausbildung in deutscher Sprache absolvierten. Nach der Gründung der Tschechoslowakei 1918 ließ dieser Druck aber nach, und die Kinder tschechischer Eltern konnten in tschechische Schulen gehen. Die Kinder deutscher Familien durften aber nach wie vor deutsche Schulen besuchen, ebenso die Kinder jüdischer Familien. Dies war eine Entscheidung der Eltern. In Ostrau lebten aber auch viele Juden, die sich als Tschechen bezeichneten“, sagt Archivarin Przybylová.
Im Ruderverein war die Nationalität egal
Ein anderes Gebiet, auf dem sich die Koexistenz der Nationalitäten widerspiegelte, war das Vereinsleben. Auch dazu verfügt das Archiv der Stadt Ostrau über umfassende Quellen:„Ein reges Vereinsleben hat sich hier erst nach 1848 entwickelt. In den 1850er und 1860er Jahren entstanden unterschiedlich orientierte Zusammenschlüsse, meist gebunden an die jeweilige Nationalität. Das galt meist auch für Sportvereine, die gerade besonders in Mode waren. Allerdings mit einer Ausnahme: In den 1870er Jahren galt landesweit Rudern als höchst modern. In Ostrau bot sich dafür der Fluss Ostravice an. Dem Ruderverein der Stadt traten aber Sportler aller Nationalitäten bei. Denn wer damals nicht am Ruder saß, der war nicht ‚in‘, wie man heute sagen würde.“
Die Tendenz, sich gegenseitig abzugrenzen, manifestierte sich auch bei der Einrichtung der „Národní domy“, auf Deutsch „Nationalhäuser“ in Ostrau. Blažena Przybylová:„Noch Ende der 1880er Jahre gab es bestimmte Bemühungen, ein repräsentatives Haus zu bauen, in dem die Nationalitäten unter einem Dach koexistiert hätten. Letztlich konnte man sich aber nicht auf das gemeinsame Projekt einigen. Tschechen, Deutsche und Polen bauten in der Folge separate Häuser als Zentren ihrer gesellschaftskulturellen Aktivitäten. Die jüdische Bevölkerung, die zum Großteil deutschsprachig war, blieb in ihrer religiösen Gemeinde vereint. Angehörige der jüdischen Diaspora waren in Ostrau stark vertreten. In der Zeit der Ersten Tschechoslowakischen Republik war sie die drittgrößte nach Prag und Brünn.“
Genauere Zahlen zur jüdischen Bevölkerung bestehen jedoch nicht.
„Nicht alle bekannten sich bei den Volkszählungen zur jüdischen Nationalität, auch wenn es ab 1921 diese Möglichkeit gab. Schätzungen zufolge lebten in Ostrau rund 8000 Juden. Von den drei Nationalitäten stellte die tschechische Bevölkerung immer die Mehrheit, gefolgt von den Deutschen und Polen. Der wirtschaftlichen Stärke nach sah die Reihenfolge aber anders aus. Den ersten Rang nahmen die Deutschen ein, gefolgt von den Tschechen. Die Polen belegten in den Statistiken immer den letzten Platz.“
An die einstige Nationalitätenmischung in der mährisch-schlesischen Stadt erinnern heutzutage zum Teil die Namen derer, die in Ostrau berühmte Kaufhäuser erbauten. In der Nachkriegszeit wurden die Konsumtempel konsequent umbenannt, die Namen lebten aber im Gedächtnis vieler Stadtbewohner weiter und werden noch heute benutzt. Erst aber seit der politischen Wende vor mehr als 25 Jahren werden die Wissenslücken über die multikulturelle Geschichte der Stadt.