Debatte über Karlín

Karlin

Karlín - die ehemalige Prager Vorstadt, heute der Stadtteil, der von der Hochwasserkatastrophe, die die tschechische Metropole im Sommer des vergangenen Jahres heimsuchte, wahrscheinlich am stärksten betroffen wurde. Über eine vor kurzem veranstaltete Diskussion über Karlín, an der Experten aus verschiedenen Bereichen teilnahmen, informieren sie Martina Schneibergová und Katrin Sliva im folgenden Spaziergang durch Prag.

Der Klub für das alte Prag ist eine Bürgervereinigung, die sich seit ihrer Entstehung im Jahre 1900 auf den Schutz historischer Sehenswürdigkeiten in der tschechischen Metropole konzentriert. Die Hauptaufgabe der Vereinigung, deren Mitglieder namhafte tschechische Kunsthistoriker und Architekten sind, hat sich während seit der Gründung des Klubs praktisch nicht geändert. Die Mitglieder äußern sich zu den einzelnen Restaurierungs-, bzw. Umbauprojekten in Prag. Falls eine historische Sehenswürdigkeit ernsthaft gefährdet ist, bemühen sie sich, alles für die Rettung des wertvollen Objektes zu unternehmen.

Bereits Anfang Dezember des vergangenen Jahres organisierte der Klub eine Diskussion bezüglich des gefährdeten Stadtviertels Karlín. Dabei wurden z. B. einige allzu schnell gefassten Entscheidungen, wie das Abreißen einiger vom Hochwasser betroffenen Häuser, in Frage gestellt. Vor kurzem nahmen Vertreter des Klubs für das alte Prag wieder an einer Diskussion zum einem ähnlichen Thema teil. Das Motto lautete "Karlín auf der Kreuzung der Interessen und der Investitionen".

Die öffentliche Diskussion fand direkt in Karlín, das immer noch von der Hochwasserkatastrophe gezeichnet ist, statt. Die Debatte wurde diesmal vom Kunsthistorischen Institut der Akademie der Wissenschaften gemeinsam mit der Kunsthistorischen Gesellschaft der böhmischen Länder und der Tschechischen Architektenkammer initiiert. Neben Denkmalschutzexperten und Architekten kamen dabei auch Investoren, sowie Experten im Bereich Geologie zu Wort. Letztgenannte machten die Anwesenden, unter denen auch zahlreiche Karlín-Bewohner waren, mit den Resultaten der geologischen Untersuchungen in Karlín vertraut.

Hochwasserkatastrophe

Karlín stellt ein einzigartiges Beispiel des Prager Urbanismus dar - es ist eines der ältesten Beispiele des planmäßigen Stadtaufbaus. Diesen Bauplan begann man 1816 zu verwirklichen. Mit dem Baukonzept der Wohnblöcke mit Innenhöfen kann man Karlín für einen Vorboten der neuzeitigen städtischen Baukonzepte halten. In den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde der Betrieb der Textilmanufakturen in Karlín erweitert und auf den damals noch nicht bebauten Flächen wurden Fabrikhallen für die Schwerindustrie errichtet.

Kunsthistorikerin Tatána Petrasová von der Akademie der Wissenschaften wies einleitend auf die Besonderheiten des Stadtteils hin:

"Obwohl allgemein bekannt ist, dass Karlín 1816 gegründet wurde, hat diese Stadt jedoch eine viel ältere und interessantere Geschichte, die sicherlich erwähnenswert ist. Das damalige Baudirektorium versuchte beim Entwurf der Stadt an das anzuknüpfen, was hier aus dem Mittelalter erhalten geblieben war. Karlín ist ein klassisches Beispiel dafür, wie Marktplätze mit der Stadtmauer verbunden wurden. Sofern ich es beurteilen kann, stellt Karlín eines der wenigen erhaltengebliebenen klassizistischen Stadtkonzepte dar und ist folglich auch ein einzigartiger Stadtteil. Beim Entwurf der Häuserblöcke ging man recht großzügig vor, jedoch wirken sie aus heutiger Sicht eher bescheiden. Als gutes Beispiel könnte man den ersten Häuserblock direkt hinter dem Viadukt erwähnen. Heutzutage wird die klassizistische Architektur jedoch nicht besonders hoch geschätzt, sie wurde bislang nicht gründlich genug studiert. Die Häuser haben eine sehr strenge Gliederung und neben Gebäuden aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wirken sie so, als ob ihre Architekten das Handwerk nicht beherrscht hätten."

Die Häuser in Karlín wurden in zwei Etappen erbaut - die erste dauerte bis 1831, die zweite Bauetappe folgte in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts. In den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts waren die Häuser eher niedrig und klein, und wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als "Kasernenstil" bezeichnet. Vertreter des funktionalistischen Baustils sahen darin jedoch Vorbilder für ihr Schaffen. Was aber ein Fachmann für schützenswert hält, ist für einen Laien häufig nicht nachvollziehbar.

Weniger bekannt ist die Tatsache, dass sich im Stadtteil Karlín auch zahlreiche technische Sehenswürdigkeiten befinden. Diese wurden während des Treffens in Karlín von Benjamin Fragner von der Tschechischen Technischen Hochschule aufgezählt:

"Alle Teilnehmer unseres Treffens sind heute offensichtlich durch die Bögen des Negrelli-Eisenbahnviaduktes durchgegangen - einer beachtenswerten technischen Sehenswürdigkeit aus den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts. Direkt über dem Viadukt befindet sich ein Bahnhaus. In Karlín findet man des weiteren Objekte der ehemaligen Maschinenfabrik, die zu Büros umgebaut wurden und heute noch als solche genutzt werden. Zu den technischen Sehenswürdigkeiten gehören noch einige weitere Objekte der Eisenbahn aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Viele der ehemaligen Fabrikobjekte aus früherer Zeit sind jedoch innerhalb der Hausblöcke versteckt, da die neueren Häuser einfach drum herum gebaut wurden. Der Wert Karlíns als Industrieviertel wurde bislang von den Investoren nicht zur Kenntnis genommen."

Nach Worten von Benjamin Fragner entstand in Karlín im Laufe der Jahre eine bizarre Mischung verschiedener Baustile. Beginnend mit ursprünglich klassizistischen, über historisierende bis zu Jugendstilobjekten. Die größte Aufmerksamkeit konzentriert sich heute auf die zusammengewachsenen Hausblöcke zwischen den Straßen Pernerova, Krizíkova, Saldova und Thámova.

Laut Fragner wird auch im Ausland nach Wegen zur Nutzung der Industriedenkmäler gesucht. Anhand konkreter Beispiele zeigte er verschiedene Möglichkeiten der Nutzung technischen Sehenswürdigkeiten. Berücksichtigt werden hierbei auch gegenwärtige Tendenzen in der Kunst.

Die Industriedenkmäler tragen Spuren verschwundener Tätigkeit, der vergangenen Zeit, Zeichen des Alters, des Zerfalls und der Unvollendung. Sie verkörpern "Berührungen" handwerklicher Elemente mit künstlerischen Details. Dies alles bereichert laut Benjamin Fragner die Wahrnehmung des Objektes um eine neue Komponente. Überall in der Welt begegnet man sehr radikalen Umbauprojekten der technischen Sehenswürdigkeiten, sagte der Experte.

Neben den beiden erwähnten Experten im Bereich Kunstgeschichte und Architektur kamen während der Diskussion über den Stadtteil Karlín auch Vertreter des Tschechischen Denkmalschutzinstituts, des Prager Magistrats, der Architektenkammer, der Karlín-Bewohner sowie der Investoren zu Wort. Die von der öffentlichen Debatte hervorgegangenen Anregungen werden auf entsprechende verantwortliche Stellen weiter geleitet. Es bleibt abzuwarten, ob sich die Vorschläge auf die weitere Entwicklung des Stadtteils und die Rettung dessen historischer Sehenswürdigkeiten auswirken wird.