Den Franken die Stirn geboten: Das Mährerreich und seine Herrscher
Das erste dauerhafte Staatsgebilde auf dem Boden des heutigen Tschechiens war das Mährerreich im 9. Jahrhundert. Wie entstand es? Wie selbständig war es? Und was wissen die Historiker überhaupt über dieses Gebilde?
Rund ein Dreivierteljahrhundert lang bestand das Reich der Mährer. Auf Tschechisch wird es „Velkomoravská říše“ genannt, das bedeutet Großmährisches Reich. Allerdings weisen deutsche und österreichische Historiker darauf hin, dass diese Bezeichnung aus einer falschen Übersetzung einer byzantinischen Quelle herrührt und man bei diesem frühmittelalterlichen Staat eher vom Mährerreich sprechen sollte.
Der Beginn dieses Staatsgebildes wird auf das Jahr 831 datiert. In diesem Jahr setzt Fürst Mojmír I. eine christliche Massentaufe der Führungsschicht auf seinem Herrschaftsgebiet durch. Doch es ist eher ein längerer Prozess, der zur Staatsgründung führt.
Zdeněk Měřinský, der 2016 gestorben ist, war einer der bedeutendsten tschechischen Experten für das Mährerreich. Und in den Inlandssendungen des Tschechischen Rundfunks sagte er vor einigen Jahren:
„Die Entwicklung hin zu dem Reich setzte schon früher ein, als dies in den Quellen erwähnt wird. Die Wurzeln reichten tiefer und hingen mit der politischen Gesamtlage im mittleren Donaugebiet zusammen. An der Schwelle zum 9. Jahrhundert entwickelte das Fränkische Reich unter Karl dem Großen einen starken Expansionsdrang nach Osten. Das geschah an unterschiedlichen Abschnitten der Grenze. An der Donau zerstörte der König die eigenständigen bayerischen Fürstentümer. Lange führte er Krieg gegen die Sachsen. Und in diese Zeit fielen auch die Feldzüge gegen die Awaren. Die Macht der Franken dehnte sich also in Richtung Karpatenbecken aus, das Fürstentum der Awaren fiel nach und nach auseinander, und ihre Macht erodierte. Letztlich siedelten sich die restlichen Awaren in den Randgebieten des Fränkischen Reiches an, wo ein System militärischer Marken entstand.“
Die Awaren – das ist ein Nomadenvolk, das im 6. Jahrhundert aus Zentralasien nach Europa kommt und sich im 6. Jahrhundert im sogenannten Karpatenbecken ansiedelt. Ihr Staatsgebilde hält sich über 200 Jahre lang.
Was das Gebiet des heutigen Tschechiens betrifft, konzentriert sich das Interesse der fränkischen Herrscher aber zunächst nicht so sehr auf Mähren.
Interessant ist, dass die Truppen des fränkischen Königs bereits 805 einen Feldzug ins böhmische Becken unternahmen. Dazu gibt es einen Bericht, in dem auch erstmals ein Ort genannt wird, der sich lokalisieren lässt.
„Schon seit den Zeiten Karls des Großen drängten die Franken mehr in Richtung Böhmen. Deswegen lagen in Mähren die Voraussetzungen für eine Staatsbildung günstiger. Interessant ist, dass die Truppen des fränkischen Königs bereits 805 einen Feldzug ins böhmische Becken unternahmen. Dazu gibt es einen Bericht, in dem auch erstmals ein Ort genannt wird, der sich lokalisieren lässt. Es ist die Burg Canburg, das heutige Kanina bei Mělník“, so Měřinský.
Wobei es einen wissenschaftlichen Streit gibt, ob dieses Canburg tatsächlich Kanina am Zusammenfluss von Moldau und Elbe ist. Manche Historiker verorten es eher dort, wo heute die Stadt Kadaň / Kaaden liegt. Doch die einzige Quelle zu dem Kriegszug gibt keine weiteren Auskünfte. Dort steht nur, dass die Armee von Karl dem Großen im Jahr 805 auf drei Wegen nach Böhmen vordrang: und zwar über die Stadt Eger entlang des gleichnamigen Flusses, aus Bayern über den Böhmerwald sowie aus dem Norden entlang der Elbe. Die drei Heere vereinten sich am Zusammenfluss von Moldau und Elbe und stießen weiter ins Landesinnere vor. Bei einer slawischen Burg namens Canburg hielten sie inne und belagerten sie erfolglos. Nur den Burgvorsteher Lech töteten sie. Als ihnen das Futter ausging, machten sie kehrt. Soweit der Bericht des fränkischen Chronisten.
Trotz des militärischen Misserfolgs gelingt es den Franken, die Machthaber in der Gegend zu Tributzahlungen zu verpflichten. Und aus den entsprechenden Quellen geht hervor, dass die Böhmen damals nicht einen, sondern mehrere Fürsten haben.
Mährer beim fränkischen Landtag
Anders hingegen die Entwicklung weiter östlich. Die Mährer werden allerdings erst 822 erstmals erwähnt – und zwar weil ihre Vertreter am fränkischen Landtag in Frankfurt am Main teilnehmen. Damit erkennen sie die Souveränität des bayerisch-fränkischen Königs Ludwig des Deutschen über ihr Gebiet an. Historiker Měřinský:
„In den Chroniken werden die Mährer neben weiteren Gruppen von Bewohnern aus den östlichen Randgebieten des Reiches genannt. Das heißt, das Imperium hatte ein politisches Interesse an Beziehungen zu dieser Gegend. Wie erhalten aber keine weiteren Informationen über die einzelnen Anführer, die die Bevölkerungsgruppen oder gewisse Frühformen von Staatsgebilden repräsentierten. Man kann vermuten, dass es sich um offizielle Gesandte handelte, Angehörige der Herrscherschicht oder der Herrscher sogar selbst. Aber die Quelle von 822 berichtet darüber nichts Genaueres.“
Die Bindung an das Frankenreich ist aber allem Anschein nach nicht so stark, dass nicht Mährerfürst Mojmír I. seinen Einfluss vergrößern kann. 833 vertreibt er den profränkischen Lokalfürsten Pribina aus dem slowakischen Nitra und übernimmt dessen Herrschaftsbereich. Damit fordert er die Franken heraus. Letztlich wird ihm das zum Verhängnis, denn Ludwig der Deutsche kann 846 mit seinem Heer den Fürsten besiegen. Der König des Ostfrankenreiches setzt nun Mojmírs Neffen Rostislav auf den Thron in Mähren.
Aber auch der neue Machthaber bleibt den Herrschern westlich seiner Grenzen nicht lange ergeben. Erneut versucht Ludwig der Deutsche daher, mit einem Heer wieder für Ordnung in seinem Sinn zu sorgen. Doch er verliert. Rostislav weigert sich nun, weiter Tribut an das Ostfrankenreich zu zahlen, zudem verjagt er den bayerischen Klerus. Der Fürst schaut sich stattdessen nach einem anderen starken Verbündeten um und wendet sich an den byzantinischen Kaiser Michael III. Dieser schickt die beiden Priester und Gelehrten Kyrill und Method aus Thessaloniki.
„Die Macht des Staates festigte sich, obwohl dieser ständigen Druck vonseiten der Franken aushalten musste. Rostislav versuchte, durch die Kirchenmission von Kyrill und Method ein Gegengewicht zu finden, sie kamen 863 hierher. Allerdings führte die Mission nicht zu einer dezidierten Orientierung in Richtung Byzanz, sondern sie hatte eher eine breitere kulturelle Bedeutung. Die Kirche in Mähren blieb weiter auf Rom gerichtet. Nur wurden Schritt für Schritt der Einfluss der Salzburger Diözese und des bayerischen Klerus zurückgedrängt“, so der Geschichtswissenschaftler.
Kyrill und Method erschaffen mit der Glagoliza die erste slawische Schrift überhaupt. So entsteht das Altkirchenslawisch, das nun zur Liturgiesprache wird. Und dafür wird auch die Bibel zum allerstersten Mal in eine Sprache übersetzt, die nicht zu den ursprünglichen Idiomen dieser Textsammlung gehört.
Bereits 864 überfällt aber Ludwig der Deutsche erneut Mähren. Das Frankenheer kesselt die Truppen von Rostislav ein, wahrscheinlich auf der Burg Devín oberhalb des heutigen Bratislava. Der mährische Fürst muss sich ergeben, und der bayerische Klerus darf zurückkehren. Die slawische Liturgie bleibt jedoch bestehen, was Papst Hadrian II. im Jahr 867 auch offiziell anerkennt.
Verhandlungen auf Augenhöhe
Die spärlichen schriftlichen Quellen informieren leider nicht darüber, wo damals das Zentrum des Mährerreichs gelegen hat. Nur archäologische Forschungen geben darüber Auskunft. Demnach ist die Burg Morava bei Mikulčice / Mikultschitz im heutigen Südmähren mit großer Wahrscheinlichkeit bis 871 der Herrschersitz. Weitere wichtige Zentren sind die Burg Veligrad bei Staré Město u Uherského Hradiště / Altstadt bei Ungarisch Hradisch und die Stadt Nitra im Südwesten der Slowakei.
In jedem Fall bedeuten die Mährer für das Ostfrankenreich eine andauernde Konkurrenz, weil sie immer wieder die Expansionspläne dieses frühmittelalterlichen Machtzentrums durchkreuzen. Dazu Zdeněk Měřinský:
„Die Franken hatten Interesse daran, die Gegenden im Osten zu unterwerfen. Das hat sich schon zu Zeiten Karls des Großen gezeigt. Er hat versucht, weiter vorzudringen, neue Gegenden anzugliedern und an den Grenzen Klientelstaaten zu schaffen – also solche mit von ihm abhängigen Herrschern. Die andere Variante waren die Grenzmarken unter militärischer Verwaltung der von ihm ernannten Markgrafen. Zu den Zielen gehörte auch, das Gebiet der mährischen Slawen zu unterwerfen. Das zeigt sich in den lange anhaltenden Kämpfen zwischen dem Fränkischen Reich und den Mährern. Diese dauerten bis zum Untergang des Großmährischen Staatsgebildes an. Während dieser Zeit gelang es den großmährischen Fürsten jedoch, ihre Unabhängigkeit zu bewahren und sogar ihren Einfluss noch zu vergrößern. Unter Fürst Svatopluk waren die fränkischen Herrscher sogar genötigt, mit den Mährern auf Augenhöhe zu verhandeln und sie praktisch als Machthaber anzuerkennen.“
Svatopluk, das ist der Nachfolger von Rostislav. Doch der Machtwechsel ist von Verrat und Betrug geprägt. Vladimír Podborský hat sich als Archäologe mit dem Mährerreich beschäftigt und sagte vor einiger Zeit in den Inlandssendungen des Tschechischen Rundfunks:
„Gerade im Frühmittelalter waren Herrscherwechsel häufig mit grausamen Taten verbunden. Im Mährerreich zeigte sich das besonders bei der Machtübernahme durch Svatopluk. Dieser überließ seinen Onkel Rostislav der Gewalt der Franken, die ihn blendeten und in den Kerker warfen, wo er dann starb.“
Durch Eroberungskriege und Heiratspolitik dehnt Svatopluk das Reich in der Folge aber zu nicht gekannter Größe aus. Unter Rostislav im letzten Drittel des 9. Jahrhunderts umfasst es das sogenannte Altmähren, das bis hinunter an die Donau reicht. Im Westen bildet ungefähr der Fluss Kamp die Grenze, und im Osten gehört das Fürstentum Nitra dazu, also der Westen der heutigen Slowakei.
„Unter Svatopluk kamen aber immer weitere Gebiete hinzu: Böhmen, nördlich davon wahrscheinlich noch die Gebiete sorbischer Stämme, dann Kleinpolen, die Ostslowakei und letztlich ganz Pannonien und damit die Reste der awarischen Besiedlung, wobei die Awaren wohl mit den Slawen assimilierten. Und zuletzt dehnte sich das Großmährische Reich entlang der Theiß bis in die Gegend von Siebenbürgen im heutigen Rumänien aus“, sagt Podborský.
Svatopluk ist indes der letzte starke Herrscher im Mährerreich. Und der Archäologe verweist darauf, dass die Machthaber des Frühmittelalters längst nicht so sicher im Sattel saßen wie ihre Nachfolger später. Beständig hätten sie mit Krisen kämpfen müssen, so der Archäologe:
„Die Krisen wiederholten sich in gewissen Abständen. Dahinter standen bestimmte Rechte der Nachfolger und Ambitionen weiterer Angehöriger des jeweiligen Geschlechts. Das zeigt sich gerade im Fall Rostislavs und der Machtübernahme durch Svatopluk, der nicht sehr wählerisch in seinen Mitteln war, um an die Macht zu kommen. Auf der anderen Seite erreichte das Mährerreich unter Svatopluk seine größte Ausdehnung, wobei aber gerade da sich die Elemente der nächsten Krise zeigten. Es war eine Krise, wie sie so typisch war für alle frühmittelalterlichen Staaten. Die Verwaltung war nicht sehr weit entwickelt, und die Macht lag beim Herrscher und seinem Gefolge. Der Staat musste um seiner Existenz willen expandieren, doch diese Expansion erschöpfte sich irgendwann.“
894 stirbt Svatopluk, und sein ältester Sohn Mojmír II. nimmt Platz auf dem Thron. Er kann das Staatsgebiet nicht mehr beieinander halten. So sagt sich etwa Böhmen von dem Reich los, und weitere Teile folgen diesem Beispiel.
Letztlich fällt das staatliche Gebilde wohl unter dem Ansturm der Magyaren in sich zusammen, wobei Mojmír II. laut dem Historiker Dušan Třeštík bei einer Schlacht bei Nitra um das Jahr 905 stirbt. Archäologischen Forschungen nach muss Mähren danach mit heidnischen Aufständen kämpfen und versinkt im Chaos. Manche Historiker glauben aber, dass das Reich noch mindestens zwei weitere Jahrzehnte lang bestanden hat und erst um 925 von den Magyaren zu Tributzahlungen gezwungen wurde. Sie führen dazu einige Quellen an, in denen das Mährerreich, mährische Bischöfe oder auch einzelne Herrscher erwähnt sind. Das bedeutet, dass es zumindest die Dynastie Mojmírs noch weit bis ins 10. Jahrhundert hinein gegeben haben muss.