Prager Verwandlungen nach 1918
1918 entstand die Tschechoslowakei, das hat auch Prag zu einem Wandel verholfen. Anstatt eines der Zentren der Monarchie war es nun Hauptstadt. Wie war man aber auf die neuen Aufgaben vorbereitet, und mit welchen Problemen musste man sich auseinandersetzen? Antworten auf diese Fragen haben in den vergangenen Tagen Historiker, Kunsthistoriker und Archivare gegeben, bei einer internationalen Konferenz in Prag. Martina Schneibergová hat bei dieser Gelegenheit mit dem Geschichtsprofessor Jiří Pešek von der Prager Karlsuniversität gesprochen.
„Prag war als Landeshauptstadt auf diese Aufgabe vorbereitet und war zudem international akzeptiert. So hatten schon vor der Gründung der Tschechoslowakei eine Reihe von Staaten hier Konsulate oder Generalkonsulate und zahlreiche internationale Firmen ihre Niederlassungen. Ansonsten war der Übergang von der Landeshauptstadt zur Metropole eines selbständigen Staates eine große Herausforderung, die auch an der Bauentwicklung von Prag zu sehen ist. Es gab in der Stadt zwar viele Palais, die an Ministerien und weitere Institutionen vermietet wurden, doch musste in den ersten Jahren zudem eine Menge Wohnungen in Büros umgewandelt werden. Prag erlebte in den ersten Jahren der Nachkriegskrise einen großen Bauboom, die Zahl der Häuser verdoppelte sich in der Zwischenkriegszeit. Zudem musste die Infrastruktur an den Verkehr angepasst werden. Viele der Baupläne konnten im ersten Jahrzehnt nach der Staatsgründung umgesetzt werden. Als der zehnte Gründungstag der Tschechoslowakei gefeiert wurde, wurde stolz aufgezählt, was alles inzwischen erschaffen worden war. Dazu gehörten zwei Brücken, die Stadtbibliothek und weitere Gebäude. Natürlich war in Prag nicht alles problemlos, viel Kritisches kann man über die Streitigkeiten zwischen der Stadt und der Regierung sagen sowie darüber, in wie weit die Regierung bereit war, Prag zu unterstützen. Dass dies Probleme verursachte, ist unter anderem daran zu sehen, dass es während der Ersten Republik nicht gelang, ein Parlamentsgebäude zu erbauen.“
„Prag erlebte in den ersten Jahren der Nachkriegskrise einen großen Bauboom.“
Wie schnell ist die Einwohnerzahl gestiegen? Welche Menschen zogen in den ersten Jahren der Republik nach Prag?
„Prag hat sich 1922 in Groß Prag verwandelt. Dies war ein langer Prozess. Die Prager Agglomeration hatte 1921 schon 670.000 Einwohner. Von der Dynamik des Wachstums zeugt die Tatsache, dass 1941 in Prag mehr als eine Million Menschen gelebt haben. Was den Zuzug nach Prag anbelangt, handelte es sich um sehr unterschiedliche Bevölkerungsgruppen. Es gab hier ganze Kolonien von russischen, ukrainischen und jüdischen Emigranten aus Osteuropa. Viele einfache Leute vom Land kamen in die Stadt, sie versprachen sich angesichts des damaligen Baubooms und des sich schnell entwickelnden Dienstleistungssektors bessere Beschäftigungsmöglichkeiten. Das Bautempo war aber nicht so hoch, dass all diesen zum Teil sehr armen Leuten eine entsprechende Wohnung geboten werden konnte. Die Hauptstadt versuchte daher während der Ersten Republik, das Problem der sogenannten Notkolonien zu lösen. Sie war zudem bemüht, auch für Menschen mit Behinderung zu sorgen. Ein für die damalige Zeit mutiges Projekt waren die 1928 eröffneten Masaryk-Häuser (Masarykovy domovy). Von diesen Sozialanstalten gehörte jene im Stadtteil Krč zu den modernsten ihrer Art in Europa. Sogar aus dem Ausland kamen Experten, um sich die Anstalt anzuschauen.“
Oft wird gesagt, Prag sei ein eigener Staat im Staate. Galt dies auch für die Zeit ab 1918? Und wie waren die politischen Verhältnisse in der Hauptstadt?„Prag war eine erfolgreiche und reiche Stadt. In den ersten Jahren regierten die Nationaldemokraten in Prag. 1927 setzte sich die Partei der tschechoslowakischen Volkssozialisten, eine tschechoslowakische Abspaltung der Sozialistischen Partei, durch. Die Tatsache, dass eine Stadtregierung, die Präsident Masaryk und später Präsident Beneš nahe stand, das Schicksal von Prag bestimmte, war für die Metropole positiv und stabilisierend. Eine derartige moderne Stadt hatte eine etwas spezielle Stellung. Aber auch Brünn, Mährisch Ostrau und Pilsen haben sich damals sehr erfolgreich entwickelt. Die junge Republik musste enorm viel Geld in die Slowakei und die Karpaten-Ukraine investieren und viele talentierte Leute dorthin entsenden. Binnen einer Generation den Lebensstandard in den ärmeren Regionen der Republik an die anderen anzugleichen, konnte nicht gelingen. In diesem Sinne war Prag einmalig. Es war eine europäische Großstadt. Im künstlerischen Schaffen und in der Architektur lässt sich keine weitere Stadt in der Republik mit Prag vergleichen.“
„Die Menschen feierten wirklich mit viel Enthusiasmus, es gab eine Reihe von Veranstaltungen, im Rathaus erklangen mehrere Festreden, in denen die jüngsten Erfolge der Republik aufgezählt wurden.“
Wurde das zehnte Jubiläum der Tschechoslowakei in Prag groß gefeiert?
„So viel Stolz, so viele Beweise von Erfolg und so viel Begeisterung in der Bevölkerung wie 1928, können wir heutzutage gar nicht zum Ausdruck bringen. In Prag wurde während des ersten Jahrzehnts der Republik wahnsinnig viel geleitstet. Die Menschen feierten wirklich mit viel Enthusiasmus, es gab eine Reihe von Veranstaltungen, im Rathaus erklangen mehrere Festreden, in denen die jüngsten Erfolge der Republik aufgezählt wurden. Der Mythos der Ersten Republik wurde damals sehr hoch gehalten. Die große Ansprache, die Präsident Masaryk damals im Parlament hielt, sollte man auch heute lesen. Sie ist nach 90 Jahren aktuell geblieben. Ich würde sagen, dass sie im heutigen Parlament vorgelesen werden müsste. Sie betrifft die Prinzipien der demokratischen Republik, die moralischen Verpflichtungen der Bürger sowie die Notwendigkeit, dass die Bürger an den Entscheidungen teilhaben. Die Rede ist gar nicht thesenhaft, sie ist sehr intelligent geschrieben. Der alte Herr war ein Meister des Wortes. In Prag wurde 1928 nicht nur im Parlament und im Rathaus, sondern auch in allen Stadtteilen gefeiert. Es wurden zahlreiche Denkmäler für gefallene ,Söhne der Stadt Prag‘ errichtet. Ein Denkmal für die gefallenen Legionäre wurde beispielsweise nahe dem Emaus-Kloster enthüllt. Den Höhepunkt der Feierlichkeiten stellte eine gigantische Militärparade dar, an der 15.000 Soldaten nicht nur aus der Prager Garnison, sondern aus der ganzen Tschechoslowakei teilnahmen. Die Soldaten sind vom Nationalmuseum über den Wenzelsplatz, am Nationaltheater vorbei auf den heutigen Palach-Platz gezogen. Mit dabei waren auch Vertreter des Sokol-Vereins und weiterer Turnverbände, die Sportler trennten sich dann von den Armeeeinheiten ab und gingen sich auf den Altstädter Ring. Die Soldaten marschierten zum Weißen Berg, und dort gab es eine Militärparade. Der 78-jährige Präsident Masaryk ritt zu Pferde und nahm den Salut der Soldaten entgegen. Zu den Feiern kamen damals auch viele Delegationen aus dem Ausland.“